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Freitag, 10. Mai 2013

Plastik - Worte

Der grauhaarige Mann bückt sich, um die zerkratzte Disc aufzuheben. Sie ist mit schmutzigem Schnee bedeckt und kalt wie Eis. Keine Inschrift, kein Hinweis. Er schiebt die Disc in seinen Transmitter und zu seiner Überraschung funktioniert sie noch. Auf dem Display erscheinen Buchstaben, die sich zu Worten und schließlich zu Sätzen formen. Das Display erleuchtet das müde Gesicht des Mannes. Um ihn herum ist es dunkel, eine kalte Nacht weht durch die vereisten Gassen. Es ist ruhig. Er beginnt die Nachricht zu lesen:

...wie sehr sich deine Gedanken wandeln. Als trügest du mehrere Personen in dir. Wie Ankoor gestern sagte, dass er sich beizeiten vor sich selbst fürchte, dass er sich selbst nicht wiedererkenne, wenn ihn bestimmte Situationen übermannen. Vieles in uns ist ein Rätsel, ein Rätsel, das niemals gänzlich ergründet werden kann. Man soll nicht so viel über alles nachdenken, sagen die Leute. Zuviel denken schadet der Seele. Aber was, wenn man dieses Denken nicht kontrollieren kann, wenn man nicht pausieren, das Spiel im „Unreflektierten Modus“ genießen kann? Du musst immer alles auseinander nehmen. Nur im Sezieren findest du Ruhe. Und dann doch wieder wühlt es dich auf, weil du anstelle von Antworten nur noch mehr Fragen findest. Du hast Angst davor, zu weit zu flüchten, allein zu sein. Aber die Gesellschaft der meisten Menschen langweilt dich, oder meist noch schlimmer, sie belastet dich. Du bist nicht allein. Du hast Freunde, für die du alles geben würdest. Du nimmst dir nur zu vieles zu Herzen. Nicht jede Bekanntschaft muss eine tiefgehende sein. Du musst lernen, Menschen zu nutzen. Nicht auszunutzen, das wäre falsch und ungerecht. Aber wie sie auch deine Stärken zu ihrem Vorteil nutzen, so musst du lernen, auch die ihren für dich zu gebrauchen. Das ist kein verwerfliches Handeln. Keine Scheu. Es erfordert kein schlechtes Gewissen. Solange sie bereit sind, dir ihre Kraft zu geben, verwende auch du deine eigene für sie. Ist die Quelle eines Tages erschöpft, wird sich die Bekanntschaft in Unbekanntschaft zurück verwandeln. Dann trifft man sich nach Jahren im Kybernet-Express oder auf einer Prozak-Party wieder, spricht von alten Zeiten und sagt:
„Lass uns doch mal wieder was zusammen machen!“
„Ja, gute Idee!“
Aber man trifft sich nicht mehr, es ist nur hohles Gerede, wie das Gros an Worten, das wir Menschen miteinander wechseln, wenn wir uns nicht kennen oder nicht nachdenken oder nicht gerade einen Sinn suchen in allem. Small-Talk. Manchmal muss es nun mal Small-Talk sein. Aber nicht immer. Du kannst auch Nein sagen, wenn es dir nicht zu Schaden kommt. Konflikte, die dich hinterher belasten könnten, müssen nicht eingegangen werden. Eine Ausrede reicht. Eine geschmeidige Lüge und alle lassen dich in Frieden.
Du genießt das Alleinsein. Du weißt dich zu beschäftigen, dich zu begeistern. Aber einsam sein, das willst auch du nicht. Deshalb halte dich an deine Freunde, deine wahren, lieben, wichtigen Freunde, die nicht zahlreich, aber verlässlich und wertvoll sind. Halte dich an deine Freunde, und der Rest der Menschenbande wird nur Scharade sein.
Black Phantoms in the night,
they talk, they chat, they chit-chat,
chit-chat, fuck-chat in the darkness,
all night, all day,
all day, all night,
for all time, until they parish
and the world, the old mother,
closes their eyes.
Mach mit, rede sinnleer, fließe mit in der Woge des Nicht-Denkens, nur für eine Weile. Und wenn du heim kommst, werden alle Worte vergessen sein, weit entfernt, und dich nicht mehr belasten. Plastik-Worte, Puppen-Worte.
Erwecke das Chrysalid in dir...
 
Der Mann kennt diese Worte. Er hat sie selbst verfasst, viele Jahre vor dieser kalten Nacht, die ihm so viel Unheil eingebracht hat. Wie kommen nun diese Zeilen, die er als junger Mensch in sein Tagebuch geschrieben hat, durch all die Jahre, auf eine verkratzte Disk gebannt, zurück zu ihm? Wer hat dieses seltsame Spiel des Schicksals, des Zufalls veranlasst? Was sollte ihm diese Botschaft sagen?
Gedanken an seine Freunde, all die Menschen, die er in seinem Leben zurückgelassen hatte, strömen auf ihn ein.
"Plastik-Worte..." murmelt er in die Nacht hinein. Sein Atem ist kalter Rauch, der sich in der Dunkelheit verliert.
"Toiletten-Weißbach-Schimmel-Usurpator-Handelsblatt..."
Er steckt die Diskette in seine Manteltasche, wendet sich um und geht nach Hause.

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