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Donnerstag, 19. Dezember 2013

Ehrlichkeit

Ich sitze am Rechner; ein langer, anstrengender Tag liegt hinter mir. Ich trinke ein Bier und schau mir sinnlose Videos auf youtube an. Nebenher habe ich facebook auf, damit ich immer auf dem Laufenden bin. Matze schreibt mir, er will wissen, ob ich schon Cloud Atlas gesehen hab und ob der gut ist, weil der sich den mit seiner Freundin reinziehen will. Ich antworte, dass der Film Schrott ist, aber mit der Freundin kann man den schon gucken. Ich gebe "Hund beißt Kind in die Eier" in das Suchfeld ein und klicke das zweite Video in der Liste an. Ich habe dieses Video jetzt schon mindestens fünfhundert Mal gesehen und es wird von Mal zu Mal komischer. Ich genieße meinen Lachanfall, als der Hund versucht, mit seiner Schnauze nach dem roten Laserpointer zu schnappen, der dem Jungen zwischen die Beine geleuchtet wird. Wieder einmal denke ich mir, wie geil doch lachen ist, man vergisst alle Sorgen, der Kopf macht ´ne kleine Pause vom Gedankenkarussell und das Leben erscheint einem leicht und unbeschwert. Lachen ist echt das Beste.
Eine neue Nachricht bei facebook. Tanja lädt zu ihrem Geburtstag ein. Bei Tanja gibt´s immer Bier umsonst, denke ich, also klicke ich auf "nehme teil" und schreibe einen Kommentar unter die Einladung: Stell schon mal das Bier kalt! ;)
Ich klicke auf ein Video mit dem Titel "Mann spaltet Melone mit seinem Kopf". Ich schaue mir den Mann an, der eine Melone mit seinem Kopf spaltet. Interessant.
Bier leer, ich hol ein neues aus dem Kühlschrank.
Facebook meldet sich wieder. Es ist Matze. Er schreibt, dass sie sich jetzt den neuen Hobbit angucken, die Freundin hatte keinen Bock auf Cloud Atlas. Ich antworte, dass der auch scheiße ist, aber mit der Freundin kann man den ruhig gucken.
Es kommt noch eine Meldung, ich klicke auf die rote Eins bei Benachrichtigungen. DanTheDarkness hat mal wieder eine neue Story online, na toll. Am Anfang hab ich den Kram ja noch gerne gelesen, die eine Story mit der Minderjährigen war echt saugeil, oder die mit dem Mann in der Bahn, der die ganze Zeit vom Ficken labert, hab mich weggeschmissen. Aber in letzter Zeit schreibt der echt nur noch Bullshit. Liebe hier und Freundschaft da, kaum noch lustige Sachen drin. Irgendwie zieht mich der Scheiß immer runter den der schreibt, warum macht der das eigentlich? Was hat der davon, andere Leute runterzuziehen? Früher war der Kerl echt lustig, keine Ahnung, aber seit ein paar Jahren geht der allen einfach nur noch auf den Sack. Der denkt einfach zu viel und vor allem zu viel Scheiße. Denken ist ja eigentlich ziemlich gut, aber nicht, wenn´s einem schadet, dann sollte man das sein lassen, finde ich. Na egal, wir haben früher viel Zeit miteinander verbracht, Dan und ich, also tue ich ihm den Gefallen und les den Scheiß. Ist ja zum Glück nur ne kurze Story.
Also, worum gehts, guter Mann? Ehrlichkeit... - lame. Dem fällt echt nichts mehr ein. Traurig. Na, was soll´s, dann schauen wir mal, was der ach so schlaue Herr Darkness so über Ehrlichkeit schreibt...

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"Ehrlichkeit" - 17.12.2013
Die Sache mit der Ehrlichkeit ist, dass sie nie in absoluter Konsequenz ausgelebt werden kann ohne Schaden anzurichten. Ehrlichkeit bis zu einem gewissen Grad ist in den meisten Fällen vorteilhaft, sie schafft Authentizität, sie schafft Vertrauen; Menschen fühlen sich geborgen und sicher, wenn sie ihr Gegenüber zu kennen glauben. Aber in jeder Beziehung herrscht eine unsichtbare Grenze und wer diese überschreitet, dem wird die Ehrlichkeit zum Verhängnis. Ehrlichkeit schafft Ablehnung, Unverständnis, Enttäuschung. Ehrlichkeit schafft Schwäche und wer schwach ist, der muss leiden. Die Schwachen schwimmen unter dem Strom - sie leisten nichts, sie wissen nichts, sie können nichts.
Niemand will schwach sein. Und doch sehnen wir uns nach vor allem eines: Verstanden zu werden, geliebt zu werden, als der Mensch, der wir wirklich sind, ohne Maske, ohne Schutz. Wir sehnen uns nach Vertrauen. Dieses Vertrauen glauben wir in kleinen ausgesuchten Kreisen gefunden zu haben, die wir um unsere Seele errichtet haben. Den Kreis der Freundschaft, den Kreis der Liebe.
Doch auch Freundschaften sind anfällig für die Flammen der Ehrlichkeit, auch die Liebe zu einem Menschen kann uns täuschen, wenn er sich uns als der offenbart, der er wirklich ist. In der Freundschaft und der Liebe herrschen dieselben Grenzen wie in allen anderen Beziehungen, nur sind sie weiter gesetzt und erlauben mehr Freiraum, mehr Luft zum atmen, um die nächste Lüge vorzubereiten.
Entsetzen macht sich breit, wenn man das Bild, dass man sich mühsam über Jahre hinweg von einem Menschen gemacht hat, vor sich einstürzen sieht; wenn sich Seiten an der Persönlichkeit auftun, die man bis dahin noch nicht kannte und die einem Angst machen, die verstörend, peinlich oder sogar bösartig sind. Vorbei ist dann das Vertrauen, vorbei die Hoffnung auf grenzenlose Ehrlichkeit. Vorbei die Freundschaft oder auch die Liebe oder in Beziehungen das Verlangen.
Vorbei, vorbei, vorbei.
Man breitet die Arme aus, sucht verzweifelt nach Ersatz um das dunkle Loch zu stopfen, die klaffende Wunde, die der einst so geliebte Mensch, der jetzt ein Fremder ist, in die eigene Seele gerissen hat. Und man findet Ersatz. Die Lüge hilft dabei, tatsächlich zu glauben, dass man nun wieder sicher sei. Die Lüge hilft dabei, erneut von Ehrlichkeit und wahrer Liebe zu sprechen, als habe man vergessen wie grausam das Erkennen gewesen ist, wie schmerzhaft die Wahrheit, wie gleißend die Verblendung.
So halten manche Verbindungen, vielleicht für die "Ewigkeit", denn dort wurden nie die unsichtbaren Grenzen überschritten, dort wurde die Lüge gefeiert wie ein Heiliger, ein Schutzpatron der Freundschaft, der Liebe, ein alles umfassender Puppenspieler, der zusammenhält, was nicht zusammen passt. Und wir frönen diesen Verbindungen, wir sprechen sie heilig, wir sagen "Ich liebe dich" und "Du bist mein bester Freund" und es ist uns gleich, dass wir lügen, weil wir uns in der Lüge geborgen fühlen, heimisch, geschützt. Bis dann doch eines Tages eine Grenze überschritten wird, der Vorhang fällt und die Lüge auffliegt. Nackt steht sie dann da, im grellweißen Scheinwerferlicht und wimmert und fleht, Ekel ergreift uns und panische Verzweiflung, die uns zur Flucht ins Ungewisse zwingt, zur Flucht in die Fremdheit der Menschenmassen, der Schatten, von denen einer unser Retter sein wird - sein muss! - sonst lohnt es sich nicht zu bleiben, sonst ist alles umsonst gewesen, jeder Atemzug, jeder Gedanke, jedes Gefühl, jedes verlogene Wort. Wir alle sind Getriebene der Einsamkeit, ständig auf der Flucht vor der Wahrheit, denn die Wahrheit zerfetzt uns wie ein Raketenschauer.
Wenn ich doch nur die Lüge lieben könnte, dann wäre ich endlich geheilt. Wenn ich doch nur zugleich lügen und lieben könnte, dann hätte ich einen Platz im Chaos der Gestalten. Aber ich kann es nicht, die Lüge widert mich an, das Schauspiel verdreht meine Gedärme, der Zirkus der Menschheit ist eine Vorstellung des Wahnsinns.
Seht her, ich überschreite sämtliche Grenzen, seht meine Seele, nackt und wimmernd, flehend im Scheinwerferlicht. Ich bin DanTheDarkness, das hässlichste, schwächste, widerwärtigste Geschöpf auf Erden. Wendet euch ab, wenn ihr den Anblick nicht länger ertragen könnt aber verschont mich mit euren Lügen! Wer bleiben will, der soll bleiben. Euch will ich lieben, so wie ihr seid, mit all euren Fehlern und Schwächen. Wir errichten uns ein Königreich der Ehrlichkeit, in dem es keine Grenzen mehr gibt, keine Angst vor dem blendenden Antlitz der Wahrheit, keine Lügen, die wie drahtige Nähte blutende Wunden zusammenhalten.
Ich wähle die Ehrlichkeit und mit ihr, wenn es sein muss, die Einsamkeit. Denn nur so fühle ich mich geborgen, heimisch und sicher. Nehmt eure Lügen und werdet glücklich auf eurer Flucht vor euch selbst. Ich bleibe hier und träume vom Universum, den ewig schweigenden Sternen im dunklen Ozean der Unendlichkeit, den Monden und Sonnen, Kometen und Asteroiden.
Ich bleibe hier und erlerne das Schweigen.
"Vos qui transitis... Serius aut citius sedem properamus in unam."

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Alter, genau das meine ich. Was meint der mit Lügen, wieso lügen denn alle? Wieso muss man einsam sein, wenn man ehrlich ist? Der hat echt ne Macke, der Vogel. Mal wieder ärgere ich mich darüber, den Scheiß gelesen zu haben. Meine gute Laune ist dahin. Das war echt das letzte Mal, dass ich mir ne Story von DanTheDarkness reingezogen hab, das allerletzte Mal. Freundschaft und blutige Nähte... tz, das will doch keiner lesen, du Spast!
Na, was solls, ich gebe "Hund beißt Kind in die Eier" in das Suchfeld bei youtube ein und schau mir das Video an. Beim dritten Mal muss ich endlich lachen und DanTheDarkness ist vergessen. Ich teile das Video mal wieder bei facebook und schreibe einen Kommentar:
"Leute, es ist immer wieder geil! Ich kann nicht aufhören, darüber zu lachen! xD"
Bier leer, ich stehe auf und hole ein neues aus dem Kühlschrank...

Montag, 18. November 2013

Weißabgleich

Feierabend. Ich sitze in der Bahn und starre auf mein Smartphone. Seite wird geladen... ich weiß gar nicht mehr, was ich eben in das Google-Suchfeld eingegeben hab. Ist ja auch egal, geht ja nur darum, die Zeit zu überbrücken. Die Langeweile, das graue Nichts zwischen Arbeit und Zuhause. Draußen ist es schon dunkel. Es regnet. Es ist kalt.
Die Seite öffnet sich, ah ja, genau, die Sitzgarnitur, die meine Freundin haben wollte. Ich scrolle runter und fange an, die Amazon-Bewertungen zu lesen:

Mein Mann und ich sind total zufrieden mit der Sitzgarnitur. Wir hatten uns schon seit längerem für das Duo-Set entschieden, wollten aber noch bis nach unserem Teneriffa-Urlaub warten, falls es zu Lieferengpässen kommen sollte. Der Versand über Amazon verlief jedoch wie gewohnt reibungslos und...

Ich scrolle weiter. Der Kunde Ludwig S. schreibt:

Die Polster sind zwar nicht aus hochwertigem Material, aber durchaus bequem und nicht zu weich. Die Rückenlehne ähnelt sehr dem Härnösand-Modell von Ikea, das wir auch in der engeren Auswahl hatten. Es passt sich ergonomisch an die Wirbelsäule an und ist im Vergleich zum Härnösand etwas härter, was dem Sitzkomfort allerdings eher zu Gute kommt als...

Ich scrolle weiter, schaue kurz aus dem Fenster, sehe nichtssagende Gesichter, die im grellen Licht der U-Bahn-Haltestelle farblosen Masken ähneln, dann schaue ich wieder auf mein Handy. Die Seite kotzt mich an und ich gehe zurück zu Google. Ich überlege kurz, dann gebe ich "Sinn des Lebens" ein. Ich öffne den ersten Link, Wikipedia, der Bildschirm wird weiß, die Seite wird geladen.
Hinter mir fängt plötzlich ein Mann an zu telefonieren. Ich starre auf das weiße Display meines Handys bin aber mental bereits in der Welt des Fremden, den ich nicht sehen, sondern nur hören kann. Er scheint mit einem Freund zu telefonieren. Er klingt irgendwie traurig, nein, eher entrückt und lethargisch. Obwohl er so langsam und monoton spricht, zieht mich seine Stimme in den Bann. Ich werde den Eindruck nicht los, dass er zu mir spricht, zu allen in der Bahn, dass er uns auf eine seltsam ironische Weise etwas sagen will. Interessant..., denke ich. Ich höre zu und vergesse das Handy.

 "... Ich war eben da. Sie sieht aus wie immer. Sie hat gelächelt, als ich in das Zimmer kam. Ihre Augen waren ganz rot. Wir haben eine Weile über Belangloses geredet, dann fing sie mit dem Thema an. Das es ungerecht ist, warum es ausgerechnet sie treffen musste, warum Gott so etwas zulässt und warum alle einfach weiter machen, obwohl sie wissen, dass es keine Ordnung, keine Gerechtigkeit, keinen Sinn im Leben gibt und so weiter. ... Ja. ... Nein, das hat sie nicht gesagt. ... Ich weiß es nicht... Nein, ich werde nicht mehr zu ihr fahren.
Hör zu, ich hatte den ganzen Tag dieses Gefühl, diesen Druck, verstehst du, dass ich etwas leisten muss, dass ich mich öffnen muss, dass ich nicht länger verdrängen kann. Auf der Fahrt zum Krankenhaus habe ich mir vorgestellt, wie ich sie in meine Arme nehme, wie ich anfange zu weinen, mich nicht mehr halten kann und alles vergesse. Wie damals, du weißt schon... Aber da war nichts dergleichen. Ich bin nicht traurig, ich bin nicht unsicher, ich halte das Leben nicht für ungerecht. Das Leben ist mir egal, der Tod ist mir auch egal. Was passiert, passiert eben, was kann ich dafür? Warum soll ich von allem ein Teil sein? Niemand ist ein Teil von irgendetwas.
Als sie da eben vor mir saß und geheult hat und die Welt und alles verteufelt hat, weißt du, woran ich da gedacht hab? An meinen Fernseher hab ich gedacht. Das ich dringend mal einen Weißabgleich machen sollte, weil mir letztens bei Game of Thrones aufgefallen ist, dass meine Einstellung einen leichten Rotstich hat. Ich musste während der ganzen Folge darauf achten, konnte mich kaum auf die Handlung konzentrieren, hab überall dieses Rot gesehen. Bin fast verrückt geworden. Ich hab mir dann vorgenommen, mir die Tage mal Zeit für die Einstellung zu nehmen und dann passiert sowas und ich muss ins verdammte Krankenhaus fahren und mir das dämliche Geleier anhören, das Menschen nun mal von sich geben, wenn sie in ihren illusionären Grundfesten erschüttert werden, weil wieder mal jemand gestorben ist oder sonst was und so weiter. Verstehst du, ich war genervt, statt traurig, hab meine Rolle gespielt und war innerlich weit, weit weg. Das, das... ja... nein, so ist das nicht...
Es geht mir nicht darum, mich selbst zu schützen. Ich brauche keinen Schutz. Ich kenne die Existenz, ich weiß, dass ich nichts weiß, ich weiß, dass der Tod sinnlos ist und dass es keine Ordnung in den Dingen gibt. Wovor soll ich also noch Angst haben? Dass mich ein Auto erfasst, dass ich ausgeraubt und totgeprügelt werde, dass mein Haus abbrennt, meine Tochter stirbt, die Erde von einem Meteoriten in Stücke gesprengt wird? Nein, ich hab keine Angst. Das Leben ist mir gleich, ich mache einfach weiter, Tag für Tag, immer wieder gibt es neue Aufgaben zu erledigen, warum soll ich mir Gedanken um den Tod machen? ... Jetzt fahre ich nach Hause, mach mir was zu Essen und nehm´ mir dann Zeit für den Weißabgleich. Morgen ist ein neuer Tag und übermorgen auch und immer gibt es was zu tun. Dinge tun, da sein... Das ist der einzige Sinn den wir Menschen brauchen. ... Was? ... Natürlich nicht. Ich hab ihr gesagt, dass das alles wieder wird und sie nach vorne schauen soll und so. ... Klar, hab ich das... Nein, das wäre mir zu anstrengend gewesen, soll sich ein Psychologe darum kümmern...
Als mein Sohn damals gestorben ist, hab ich genauso einen Scheiß von mir gegeben. Alle wollten mir helfen, aber es gibt keine Hilfe für so was. Menschen tun nur so, als wollten sie helfen, aber im Grunde können sie es nicht, nie. Man muss akzeptieren, dass das Leben ein Mysterium ist, das mit unseren beschränkten Mitteln nicht erfasst werden kann. Liebe, Wut, Trauer, das sind doch alles nur hormonelle Vergänglichkeiten. Was zählt, ist die Gegenwart, immer die Gegenwart, was du tust, was du sagst, genau in diesem Moment. Der Rest ist Nonsens, Ballast, der uns davon abhält, so zu sein, wie wir sind. ... ... Das ist mir auch egal, dann halt mich doch für pessimistisch, nihilistisch, wie auch immer... wen kümmert das? ... Häh? ... Ja, genau... Ja... Ha, ha, du Witzbold... Hehe... Hehehaha, du bist so ein Komiker, hehe... Ja, Rotstich, genau. Ist mir erst letztens aufgefallen, wie gesagt, bei Game of... ja, klar, mit maximaler Auflösung. Nee, 3D guck ich ja gar nicht mehr, daran liegt das nicht. ... Cool, wie heißt die Seite? ... Ja, alles klar, mach das... ... mach das... Ok, ok. ... Ja, ich bin in zwanzig Minuten zu Hause, dann ruf ich nochmal an wegen der Einstellung, am besten schickst du sie mir auf meine gmail-Adresse, dann hab ich sie direkt auf dem Handy. Alles takko mein Freund, danke dir. Ich meld´ mich später. Jup, bis dann, ciao..."

Ich höre wie der Mann aufsteht, ich kann ihn schemenhaft im Fenster der Fahrerkabine erkennen. Grauer Mantel, kurze Haare, Mitte vierzig vielleicht. Nichtssagend, wie die Masken da draußen. Er verlässt die Bahn an der nächsten Haltestelle. Ich widme mich wieder meinem Smart-Phone. Was hatte ich eben nochmal bei Google eingegeben? Ah ja, richtig, der Sinn des Lebens.
Die Seite kotzt mich an.
Ich gehe zurück zu Google und gebe Samsung UE46F6470 Weißabgleich in das Suchfenster ein...

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Die Schönheit des Ertrinkens

Ich war sechs, als ich das erste Mal von der zerstörerischen Magie der Musik in Stücke gerissen wurde. Meine Eltern hatten sich gerade getrennt und meine neuen Pflichten in der Schule überforderten mich. Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen.
Ich kam aus der Schule, niemand war zu Hause. Ich hatte bereits einen eigenen Schlüssel, obwohl ich gerade erst eingeschult worden war. Meine Mutter hielt mich für eine Art Wunderkind, das nicht nur seinen gleichaltrigen Mitschülern, sondern auch den meisten Erwachsenen überlegen war. Heute glaube ich, dass sie sich einfach nur die Kosten für eine Nachmittagsbetreuung sparen wollte.
Jedenfalls war da dieser graue Nachmittag, der Tag in der Schule war ein Alptraum gewesen und ich war froh, endlich von der Stille der menschenleeren Wohnung umgeben zu sein. All der Lärm, das Getue der Lehrerin, die Streitereien auf dem Schulhof waren weit entfernt und ich spürte, wie sich meine Kehle von dem Druck löste, der seit dem von Stress und Hektik geprägten Morgen auf ihr lastete.
Doch in mir tobte noch immer die Wut. Wut über die vergeudete Zeit in der Schule, Wut über das irrationale Verhalten meiner Klassenkameraden, Wut über die ungerechte Lehrerin, die ihren unverdauten Hass allen Männern gegenüber Luft machte, indem sie die Jungen aus ihrer Klasse wie Dreck behandelte, während die Mädchen von ihr auf Händen durchs Leben getragen wurden. Ich spürte Wut meinen Eltern gegenüber, weil sie nicht mehr an die Liebe glaubten und ich spürte Wut mir selbst gegenüber, weil ich nichts zu tun vermochte, um sie wieder zur Vernunft zu bringen. Durch meine Venen pulsierte dunkler, undefinierbarer Zorn und es schien kein Ventil zu geben, durch das ich mein Blut hätte reinwaschen können.
Doch an jenem Tag war etwas anders. Irgendwie, durch einen glücklichen Wink des Schicksals, hatte ich plötzlich eine Kassette meines Bruders in der Hand. "Hardcore" stand in hektisch hin gekritzelten Lettern auf dem schief aufgeklebten Etikett. Ich legte sie in die Anlage, die sich meine Eltern noch vor kurzem gemeinsam angeschafft hatten, drehte am Rad für die Lautstärke, drückte auf den kleinen grünen Pfeil für Play und wartete gespannt. Ein dumpfes Rauschen drang aus den Boxen, mein Herz schlug wild vor Erwartung und Angst.
Als mich der dunkle Bass wie ein brennender Panzer überrollte und die rhythmischen Schallwellen der Instrumente meine Brust in tausend Stücke sprengten, wusste ich, dass ich endlich etwas in der Welt gefunden hatte, das keine Lüge war. Ich fühlte mich plötzlich frei von all der Last meines jungen Lebens, von den Erwartungen, den Illusionen, dem falschen Lächeln der Maskierten. Ich schrie, wie ich noch nie in meinem Leben zuvor geschrieen hatte, ich tobte, warf Möbel um, Glas zerbarst und mit den tausend Scherben zersprang auch meine Angst vor der Zukunft. Die Nachbarn klopften wie wild an die Tür, doch ich war in meinem Rausch gefangen. Ich weinte, ich lachte, ich schrie und tobte durch die Wohnung wie ein Wirbelwind.
Das Leben hatte sich mir endlich in seiner wahren Gestalt offenbart. Es gab fortan kein Zurück mehr. Meine Seele war für alle Zeit an den unsichtbaren Dämon gebunden.

Die Musik war seitdem stets mein unsichtbarer Begleiter durch die Höllenfeuer des Alltags. Mein Bruder ließ mich seine Kassetten hören, auch wenn er sich sonst nicht großartig um mich scherte. Ich lernte die verschiedenen Instrumente und Nuancen aus dem Chaos der Klänge herauszufiltern. Den treibenden, dumpf wimmernden Bass, der einem wie harte Schläge durch die Eingeweide rauschte, die klirrenden Becken, die um den brennenden Kern herum zirkulierten wie Motten um ein Feuer, das harte, unbarmherzige Rauschen und Dröhnen der verzerrten Gitarren, die Wut und Verzweiflung in einer bis an ihre Grenzen getriebenen menschlichen Stimme.
Manchmal hörte ich tagelang nur einen einzigen Song, spulte die Kassette immer wieder zurück und genoss von neuem das bekannte Chaos, und doch entdeckte ich bei jedem Durchlauf etwas Neues, eine versteckte Betonung, eine zuvor unbeachtete Nuance. Wenn ich ein Stück in und auswendig kannte, strömten unaufhaltsame Bilder auf mich ein, Bilder des Triumphes über das Leben, Bilder des Hasses und Bilder der Liebe. Ich erfand komplette Geschichten, die sich mit den Klängen der Musik verbanden und sich für immer in mein Herz brannten.
Mit elf Jahren bekam ich meine erste Gitarre, da mein Vater sich nach dreijähriger Abstinenz wieder gemeldet und ein schlechtes Gewissen seinen Söhnen gegenüber gehabt hatte. Es war berauschend, die Musik, die ich zuvor als etwas Festes, Vorgeschriebenes empfunden hatte, mit meinen Fingern und Gedanken steuern und lenken zu können. Jeden Tag nach der Schule warf ich meine Schulsachen in die Ecke und übte und spielte und experimentierte mit den mir so vertrauten Tönen. Meine Mutter war oft wütend darüber, dass ich nichts für die Schule tat und stattdessen ständig an der Gitarre saß. Aber sie hatte nicht den nötigen Willen, um mich dazu zu zwingen, meine Hausaufgaben zu machen, oder für die Prüfungen und Tests zu lernen.
Mit vierzehn spielte ich in meiner ersten Band. Es war eine Schülerband und wir spielten bescheuerte Songs für bescheuerte Menschen. Die Lehrer wollten, dass wir uns einen vernünftigen Bandnamen zulegten. Vernünftig hieß hier, dass er weder obszön noch in sonstiger Weise gegen die Werte einer friedlebenden, harmonischen Gesellschaft verstoßen durfte. Wir nannten uns schließlich "The Fuckfest", was für reichlich Furore nicht nur in der Lehrerschaft der Schule sorgte. Unser erstes Konzert spielten wir allerdings unter dem Namen "Happy Holidays" auf dem Sommerfest der Schule. Den Namen hatte sich meine Klassenlehrerin ausgedacht; eine untervögelte, einsame Frau mitte vierzig, die vom Leben enttäuscht und von sich selbst angewidert war.
Es folgten weitere belanglose Auftritte und die Songs, hauptsächlich seichte Coverstücke altbackener Oldies, hingen mir nach kurzer Zeit zum Hals raus. Beim alljährlichen Sommerfest, ich hatte zuvor ein Live-Video von Nirvana mit meinem Bruder zusammen gesehen, zerstörte ich mitten im Solopart von "House Of The Rising Sun" meine Gitarre, den von der Schule gestellten Verstärker sowie die Bassdrum des schuleigenen Schlagzeug-Sets. Ich wurde von dem Schülerband-Projekt der Schule supendiert und durfte eine Woche lang nicht zum Unterricht erscheinen, was ein Segen war.

In den folgenden Jahren lernte ich immer mehr Musiker kennen. Über eine Freundin aus der Klasse baute ich Kontakt zu einer Gruppe langhaariger Freaks auf, die schon über zwanzig waren und einen eigenen Proberaum zum jammen hatten. Wir hingen zusammen rum, tranken Bier und Schnaps und kifften einen Joint nach dem anderen. Gleich am ersten Abend war ich so stoned, dass ich über das Kabel meiner Gitarre fiel und das ohnehin schon malträtierte Teil mit voller Wucht in die Anlage flog. Die Jungs lachten nur und sagten, wenn ich das nochmal genau so hinbekomme und dabei ein fettes Solo spiele, würden sie mich in ihre Band aufnehmen. Ich spielte mein Solo, verzichtete aber auf die Showeinlage.
Wir jammten die halbe Nacht und ich stellte fest, dass meine neuen Freunde zwar alle vollkommen verdreht, aber dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, verdammt gute Musiker waren. Es war berauschend, wie sich die Ideen überschlugen, wie sich Songs entwickelten ohne über eine gemeinsame Richtung zu sprechen. Wir lachten viel in dieser Nacht und ich musste kotzen vom vielen Alkohol und dem Gras und Tom, der Bassist fuhr mich nach Hause und klopfte mir auf die Schulter und sagte mir, dass ich mir schon mal Gedanken über einen Bandnamen machen solle.
Meine Mutter schimpfte mit mir, weil ich mitten in der Nacht nach Hause kam und nach Bier, Zigaretten, Gras und Kotze stank. Aber sie hatte wie gewohnt nicht die Energie und Willensstärke, um meiner Gleichgültigkeit irgendetwas entgegen zu setzen.
Mein Vorschlag, die Band "The Fuckfest" zu nennen, wurde mit tobendem Applaus angenommen und wir probten daraufhin wie verrückt und schrieben Songs, die wir aus den besten Parts unserer Jam-Sessions zusammen bastelten. Eines Tages kam Rush - unser Drummer der eigentlich Rainer hieß und dem sein Name so unfassbar peinlich war, dass er jedesmal etwas in Stücke schlug, wenn ihn jemand so nannte - in den Proberaum, er hatte ein ganz rotes Gesicht, weil es draußen so kalt war und er war ganz aufgeregt und schrie uns an, dass er für The Fuckfest einen Gig klar gemacht hätte. Wir sollten im Death & Dance als Vorband von "The Illuminados" spielen, was eine Ehre war, denn die Erleuchteten waren eine sehr bekannte lokale Rockband, die uns einige Zuschauer einbringen würde.
An das Konzert selbst erinnere ich mich nur noch schwach, nicht weil ich unter Drogeneinfluss gestanden hätte, nein, ganz im Gegenteil, ich war viel zu nüchtern, weil ich Angst hatte, die komplexen Arrangements zu vergessen. Es war einfach ein berauschendes Erlebnis, vor so vielen betrunkenen Leuten zu spielen, die jeden Takt unserer Musik abfeierten, als wären sie Jahrzehnte lang auf einem fremden Planeten gestrandet gewesen.
Es folgten noch einige Konzerte, unter anderem eines, bei dem es nur einen einzigen Zuschauer gegeben hatte, weil niemand Werbung gemacht hatte. Der Typ war nur zufällig an dem Laden vorbeigekommen, weil er eigentlich ´ne Nutte ficken wollte, aber auf dem Parkplatz waren dann keine gewesen und dann hatte er sich gedacht, was soll´s, schau ich mir halt The Fuckfest an. Er war auf jeden Fall zufrieden, was man von uns nicht behaupten konnte, obwohl es reichlich Bier gegeben hatte, das als Gage fungieren sollte.

Das Ende von The Fuckfest kam ganz plötzlich, als Rush eines Tages nicht mehr zu den Proben auftauchte. Er sei ausgerissen, hieß es. Habe genug von der Scheiße gehabt und sei nach Amerika geflogen, um auf einer Farm zu arbeiten. Die Band brauchte im Grunde nur einen neuen Drummer, aber Rushs Fortgang hatte ein Lauffeuer in Gang gesetzt. Tom verließ ebenfalls die Band, weil er sich auf den Job und seine Freundin konzentrieren wolle, die ihm den Floh ins Ohr gesetzt hatte, dass wir ihn zu einem schlechten Menschen machen würden, weil wir kiffende, saufende, rüpelnde Versager seien, die niemals einen Job oder ein Haus oder eine Familie haben würden und ob er auch so ein Versager sein wolle und was er denn von der Musik erwarte, wie er mit Bassspielen seine zukünftigen Kinder ernähren wolle und bla, bla.
Zurück blieben Ben und ich, Gesang und Gitarre. Ich erinnere mich noch genau an den Abend, als Tom uns all den Scheiß von seiner Freundin und den zukünftigen Kindern erzählt hatte und dann wie ein getretener Hund abgerauscht war und ich allein mit Ben im Proberaum saß, das Rauschen meines Verstärkers vertrieb glücklicherweise die trostlose Stille, die uns sonst eingehüllt und um den Verstand gebracht hätte.
Wir suchten daraufhin nach geeigneten Musikern, um The Fuckfest fortzuführen, aber die einzigen Typen, die sich auf unsere Anfragen meldeten, waren entweder vollkommene Dilettanten oder gemeingefährliche Psychopathen, denen wir einen nach dem anderen eine Absage erteilen mussten. Und so kam es, wie es kommen musste: Tom erschien eines Tages ebenfalls nicht zur Probe und ich saß allein im wabernden Rauschen meines Verstärkers und klimperte vor mich hin, in Gedanken an die großartigen Momente der letzten Jahre.
Ich beschloss, mich ebenfalls um mein Leben zu kümmern, dass während der letzten Jahre vollkommen aus dem Ruder gelaufen war. Ich hatte die Schule geschmissen und hielt mich mit unterbezahlten Nebenjobs über Wasser. Meine Mutter ließ mich noch zu Hause wohnen, aber sie sprach nicht mehr mit mir, ignorierte mich gar vollkommen, um mir zu zeigen, wie enttäuscht sie von mir war. Zumindest sparte ich mir die Miete und hatte ein Dach über dem Kopf, aber all das bedeutete mir wenig, denn mir fehlten die Musik und die Euphorie eines Gigs. Wenn man einmal dieses berauschende Gefühl erlebt hat, auf einer Bühne zu stehen, den Geist der Musik mit anderen Menschen zu teilen und eins zu sein, mit dem Klang der Welt, dann kann einen nichts anderes mehr begeistern.
Ich bewarb mich schließlich um eine Ausbildungsstelle und fing eine Lehre zum Industriemechaniker an. Die Laune meiner Mutter besserte sich, was das Zusammenleben mit ihr enorm erleichterte. Ich arbeitete hart und fiel jeden Abend müde und ausgelaugt ins Bett, nur um am nächsten Morgen in einen ähnlich zermürbenden Tag zu starten. Die Tage glichen tatsächlich einer dem anderen, nur das Wochenende spendete den Trost der Variation, doch variierten sie nur scheinbar, denn im Endeffekt gestaltete sich jedes Wochenende wie das andere. Freitags zog ich mit Freunden um die Häuser, versuchte Mädchen aufzureißen und betrank mich maßlos. Für den Samstag nahm ich mir stets vor, zu Hause zu bleiben und an neuen Songs zu arbeiten, aber ich hielt es nie lange in meinem vernachlässigten Zimmer aus und widmete mich stattdessen den gleichen sinnlosen Anstrengungen, das Leben zu vergessen, wie am Tage zuvor. Die Variation war letztendlich wie so vieles im Leben nur eine bloße Illusion und ich wusste, dass es so nicht weitergehen konnte, doch ich ließ mich treiben im eiskalten Strom der Belanglosigkeit, ich wollte nicht mehr auf Sinnsuche gehen, wollte nur noch leben und meine Pflichten erfüllen, die mich zu einem Menschen von Vielen machten.

Es war ein grauer, nichtssagender Mittwoch gewesen, als ich meinem Chef sagte, dass er sich selbst ficken und sich dann eine Kugel in seinen fetten hässlichen Schädel schießen solle, was ohne Umschweife dazu führte, dass ich meine Ausbildung an den Nagel hängen konnte.
Ich weiß nicht mehr, was mich dazu getrieben hatte, aber ich erinnere mich noch sehr genau an den Augenblick, als ich aus der großen Maschinenhalle ins milchige Tageslicht trat und mich die so lang entbehrte Freiheit und ein unbeschreiblicher Drang zu leben wie ein Feuer durchflutete. Ich hatte noch Tage danach dies Grinsen im Gesicht, wie es nur einen Menschen zieren kann, der nach langer Zeit der Selbstleugnung plötzlich wieder Sinn und Struktur in der Welt entdeckt und dem augenblicklich alle Möglichkeiten und Träume offen zu stehen scheinen.
Meiner Mutter erzählte ich zunächst nichts von meiner Kündigung, ich behauptete ich sei krank und sie beließ es dabei. In ihrer Welt gab es andere Sorgen und sie vertraute mir immer noch wie einem Heiligen, obwohl sie genau wusste, dass ich alles andere war als das.
Ich hatte einiges an Kohle angesammelt und beschloss, mein kleines Vermögen bis auf den letzten Pfennig in Alkohol und Drogen zu investieren. An einem dieser verkorksten Abende traf ich auf Trent, einen jungen Amerikaner, der von zu Hause ausgerissen war, um das dunkle Europa kennenzulernen, wie er es nannte und um Inspiration für seine Musik zu finden. Er spielte Bass, war unglaublich hässlich und sprach kaum Deutsch, aber wir hatten eine Menge Spaß an diesem Abend, ich spendierte ihm und mir selbst zahlreiche Drinks und wir quatschten jede Frau an, die in unsere Nähe kam, egal ob sie hübsch war oder nicht. Natürlich bekamen wir eine Abfuhr nach der anderen, was nicht nur daran lag, dass Trent so ein hässlicher Fucker war, aber wir lachten nur, wenn uns wieder eine abblitzen ließ und bestellten Tequila, Rum und Wodka, bis wir nicht mehr stehen konnten.
Wir trafen uns am nächsten Abend im Proberaum, um zu jammen, ich glaube ich sah nicht besser aus als der dürre Trent, denn ich hatte den Kater meines Lebens, aber ich freute mich dennoch auf die Session und hoffte sehr, dass Trent so spielen konnte, wie er trank. Wir hatten uns schnell gefunden, er spielte sehr groovelastig und akzentuiert, was mir sehr gefiel, da es meinem eher unsauberen, dynamischen Spiel eine feste Grundlage gab. Wir sprachen kaum miteinander, ließen vielmehr die Instrumente sprechen und ich freute mich sehr, dass Trent ähnlich wie ich den Hang zu traurigen Melodien und melancholischen Flächen hatte, die sehr an die glorreichen Siebziger erinnerten. Wir beschlossen, uns regelmäßig zu treffen und nach weiteren Musikern Ausschau zu halten, damit wir eine Band gründen konnten. Mein Herz hörte nicht auf, wild gegen meine Brust zu schlagen, als ich abends in meinem heruntergekommenen Zimmer saß und an die Zukunft dachte.

Eines Tages brachte Trent einen schüchternen, kränklich aussehenden Rotschopf mit in den Proberaum, der aussah, als wäre er jahrelang von einem Perversen in einem dunklen Keller gefangen gehalten worden und erst seit ein paar Wochen wieder in Freiheit. Er sprach sehr leise und sah einem dabei nicht in die Augen, aber ich mochte ihn, da er mich an einen Freund erinnerte, den ich in der Grundschule gehabt hatte. Der Junge hieß Gabriel und war ein sehr talentierter Drummer. Gleich bei der ersten Session mit ihm hatten wir bereits ein paar grobe Songs zusammen, deren dunkle Schwermütigkeit und destruktive Melancholie uns selbst überraschte. Mir fiel auf, dass Gabriel selten bis überhaupt nicht lächelte, aber wenn er am Schlagzeug saß, leuchteten seine Augen auf eine unheimliche Weise und verrieten seinen Zorn und seinen Willen, der Welt ihre Ungerechtigkeit und Grausamkeit für alle Zeiten heimzuzahlen. Wir probten daraufhin so oft wir konnten und da wir alle drei arbeitslos waren, kamen wir ziemlich oft dazu, an neuen Songs zu arbeiten. Wir verzichteten irgendwann sogar darauf, uns für die nächste Session zu verabreden, denn irgendeiner von uns war immer im Proberaum und es war eine Frage der Zeit, wann der Rest letztlich eintrudelte.
Ich versuchte mich als Sänger, aber mehr als wütendes Gebrüll brachte ich nicht zustande. Ich wollte es schon aufgeben und auf einen vernünftigen Sänger warten, aber Trent bestand darauf, dass ich wenigstens in den harten Passagen meinen Hass in die Welt hinausschrie. Er war der Meinung, dass durch das Gebrüll etwas mehr Menschlichkeit in unsere Klangwelten gebracht würde und dass es den Zuhörer dazu brächte, die Songs nicht mehr nur als Songs, sondern als Fragmente ihres eigenen verworrenen Lebens wahrzunehmen. Mir war es gleich, aber ich bemühte mich, meine Gesangs- oder besser Geschrei-Passagen auf ein Minimum zu beschränken, auch weil es mich zu sehr von der Intensität der Harmonien ablenkte.
Gabriel erwies sich als wahres Genie, was die lyrische Komposition von Worten und Metaphern anging. Mir war bereits aufgefallen, dass er zwar wenig sprach, doch wenn er etwas sagte, er sich immer Zeit ließ, die richtige Ausdrucksweise zu finden, um seine komplexen Gedankenbilder zu vermitteln. Ich fragte ihn, ob er nicht einen Text für einen Song schreiben wolle, an dem wir gerade arbeiteten und er willigte ein. Er ließ sich Zeit mit der Schreiberei und stellte plötzlich Trent und mir Fragen über Fragen, was wir empfänden, wenn wir den Song spielten, welche Bilder die Melodien in uns hervorrufen würden und dergleichen. Es war ein schwermütiger Song von knapp neun Minuten, er war recht einfach gestrickt, entwickelte aber eine kaum spürbare Dynamik, die gegen Ende in einem alles zerfetzenden Chaos aus Störgeräuschen, Geschrei und wilden, unaufhaltsamen Bassrhythmen mündete. Der ruhige Einstieg erinnerte mich jedoch immer an den Ozean, die schwarze Stille tief unten im Meer, in der kein Mensch überleben, es keinen Raum für Neid, Hass und Gier geben kann. Gabriel gefiel diese Vorstellung, auch wenn er seltsam entrückt vor sich her starrte, während ich ihm meine Bilder beschrieb.
Als ich den Text das erste Mal las, wurde mir schwer ums Herz und ich wusste, dass es genau das war, wonach der Song geschrien hatte. Es war ein kryptisches Gedicht ohne Titel und entwarf Bilder eines kleinen Mädchens, dass immer tiefer in die Dunkelheit des Ozeans hinabgezogen wurde und mit jedem Meter, den es in die unendliche Tiefe sank, mehr und mehr Erinnerungen an ihr vorheriges Leben als Mensch, als Schwester, als Tochter und als Freundin von sich abwarf. Die Einsamkeit und Stille der Tiefe ließ sie zu etwas Höherem werden, ein Mensch, der all sein Menschsein abgeworfen und jegliche Schwäche und Angst verloren hatte. Ich stellte sie mir als das schönste Geschöpf vor, dass sich ein menschlicher Geist würde vorstellen können.
Ich fragte Gabriel, wie er auf dieses Bild mit dem ertrinkenden Mädchen gekommen sei und er antwortete, dass das Mädchen seine Schwester symbolisiere, die vor vielen Jahren ertrunken war, nachdem sie beim Schlittschuhfahren auf dem See ins Eis eingebrochen war. Er sagte das sehr anteilslos, als wäre es die Erinnerung an einen Film, den er als Kind gesehen hatte, aber wie beim Musizieren verrieten seine Augen, was wirklich in ihm vorging und ich stellte keine weiteren Fragen mehr, jetzt nicht und auch nicht in Zukunft, was es mit den Metaphern in seinen Texten auf sich hatte. Ich ließ sie einfach wirken und freute mich jedesmal aufs Neue, dass sie stets wie das letzte fehlende Teil eines Puzzles zur Musik passten.
Wir gaben dem Song den Titel "The Beauty Of Drowning" und es wurde uns zum Ritual, jede unserer Proben und späteren Konzerte mit ihm zu beginnen.

Artjom komplettierte schließlich unsere Band. Er war ein sehr fähiger und kreativer Gitarrist, der mir in technischer Sicht um einiges voraus war. Er war gebürtiger Russe und hatte von Natur aus Freude an melancholischen Harmonien. Wir ergänzten uns sehr. Wenn ich ein Riff oder eine Melodie spielte, dauerte es keine zwei Minuten und Artjom hatte ein entsprechendes Gegenstück aus den Fingern geschüttelt, welches das Gitarrenspiel um milliarden Welten erweiterte, ohne ihm die ursprüngliche Intension zu nehmen. Nicht nur unser Vorzeigestück "The Beauty Of Drowning" gewann durch ihn an Klangfülle und Intensität, sondern unser gesamter Sound wurde breiter, offener und lebendiger. Wir klangen nicht mehr so roh und hart wie in unseren Anfangstagen, unsere Songs fühlten sich an wie schwarzes Wasser, dass jedesmal aufs Neue in einem immer wieder variierenden Strom in die Zukunft floss. Wir entschlossen uns kurzerhand, auch unsere Band "The Beauty of Drowning" zu nennen und das Ertrinken sowie den Ozean als leitendes Motiv in all unseren Songs zu etablieren.
Die ersten Konzerte kamen und wir spielten wie gewohnt vor kleinen Gruppen von Zuhörern. Seltsam war, dass die Leute anders als damals bei den Fuckfest-Auftritten weder ausrasteten, noch sonst große emotionale Regungen zeigten, sondern vielmehr wie paralysiert vor der Bühne standen und uns mit unergründlichen Augen anstarrten, als kämen wir aus einer anderen Welt. Heute vermute ich, dass sie uns einfach nicht einordnen konnten, nicht verstanden, wie man so traurige Musik machen konnte. Ich stellte fest, dass die meisten Menschen Musik als etwas erachteten, dass sie von der Sinnlosig- und Traurigkeit des Lebens ablenken sollte und sie nicht mit der Nase direkt hineinstoßen durfte. Aber genau das taten wir und sprachen damit nicht jedermann auf Anhieb an.
Aber es war uns egal, was die Leute von uns hielten, denn wir wussten, dass wir nichts anderes machen wollten, das The Beauty Of Drowning genau das war, was unsere Verbindung, was jeden einzelnen von uns ausmachte. Und so spielten wir weiter, mal vor hundert, mal vor zehn Zuhörern und immer war da die kleine Zahl an Gästen, deren Nerv wir trafen, die dankbar waren für das, was wir zu geben hatten und das war für uns wichtiger, als die Massen zu begeistern.
Doch das Geld wurde knapp und da wir an den Konzerten eher schlecht als recht verdienten, war es uns bald nicht mehr möglich, die Miete für unseren Proberaum zu bezahlen. Trent flog aus seiner Wohngemeinschaft und lebte von da an im Proberaum. Artjom wohnte in einem Wohnwagen und Gabriel und ich teilten uns mein Zimmer in der Wohnung meiner Mutter, was seltsam gut funktionierte, denn Gabriel war ein angenehmer Mitbewohner, der mit wenig zufrieden war.
Wir gingen also wieder auf Jobsuche, um unsere Musik zu finanzieren. Ich arbeitete als Kommissionierer für ein Maschinenbauunternehmen, Gabriel fand eine Stelle als Briefträger. Artjom lebte weiterhin von den Tantiemen seines Großvaters, der vor vielen Jahren ein russisches Weihnachtslied komponiert hatte. Es war ein Hungerlohn, aber Artjom war bescheiden und sein Wohnwagen ersparte ihm hohe Mietkosten. Trent verdingte sich zunächst als Straßenmusiker, konnte allerdings kaum Gewinne erzielen, weil er erstens sehr uninspiert Gitarre spielte und zweitens durch seine drahtige Hässlichkeit die Leute vergraulte. Er ließ eines Tages dann einfach seine schäbige Klampfe im Proberaum und setzte als Bettler auf das Mitleid der Leute, was um einiges besser funktionierte.

So vergingen die Jahre, wir spielten einige Konzerte und gewannen eine kleine Fanbase, die uns von Gig zu Gig folgte und uns das Gefühl gab, eine kleine gemeinsame Familie zu sein. Trent hingegen widmete sich mehr und mehr dem Alkohol, was für uns zunehmend zum Problem wurde. Musikalisch lieferte er weiterhin Qualität, es war unglaublich, wie besoffen er bei manchem Auftritt gewesen war und trotzdem sauber und mit Gefühl Bass gespielt hatte. Doch sein körperlicher Zustand verschlechterte sich von Monat zu Monat und es war eine Frage der Zeit, wann er komplett abrutschen und sich um den Verstand saufen würde. Wir redeten stundenlang mit ihm, meldeten ihn für eine Entziehungskur an, doch er ließ nicht ab vom Trinken. Eines Tages war er fort; da, wo vorher sein Bass und seine Schlafecke gewesen war, lag ein Zettel auf dem in kaum lesbaren Lettern geschrieben stand, dass er nach Indien reisen und sich selbst finden wolle.
Trents Verschwinden warf die Band in einen dunklen Abgrund und es war wieder wie damals mit The Fuckfest, dass dieser eine Schlag das komplette Gleichgewicht der Gruppe zerstörte. Artjom hatte schon lange mit dem Gedanken gerungen, nach Russland zurückzukehren, um eine Familie zu gründen, hatte sich aber wegen der Band und der Musik nie überwinden können. Jetzt taumelte die Band und er sah seine Chance gekommen. Alles reden half nichts, so verloren wir auch ihn an die große weite Welt.
Gabriel und ich blieben zurück und suchten noch eine Weile nach geeignetem Ersatz, doch wir wurden mit keinem der Bewerber so richtig warm. Die Band war wie eine Familie für uns gewesen. Einen Bruder oder einen Vater kann man schließlich auch nicht einfach durch jemanden ersetzen. Und so verzichteten wir auf das Vorhaben, The Beauty Of Drowning fortzusetzen und beschlossen, erstmal eine Pause zu machen und unsere Leben in den Griff zu bekommen.
Gabriel fand einen Job bei einem Verlag und er zog nach Berlin. Es war ein trauriger Abschied gewesen und ich hatte Tränen in den Augen, als ich ihn gehen ließ.
Ich habe sie alle bis heute nicht wieder gesehen. Was aus Trent und Artjom geworden ist, weiß ich nicht. Gabriel schrieb mir Jahre später eine Email und wir tauschten unsere Nummern aus, aber es kam nie zu einem Wiedersehen.
Heute arbeite ich als Verkäufer in dem Plattengeschäft meines Bruders. Seit The Beauty Of Drowning habe ich nie wieder in einer Band gespielt und vermisse es auch nicht. Ich habe eine wunderschöne Tochter und eine biestige Ex-Frau, die ich trotz all dem Ärger, den wir die letzten Jahre hatten, über alles liebe. Ich habe eine kleine gemütliche Wohnung am Stadtrand, bin gesund und freue mich auf die Zukunft mit meiner kleinen Familie, doch ich weiß auch, dass mich bis ans Ende meiner Tage die Zweifel foltern werden. Was wäre wenn...? Diese Frage stellen wir uns alle nicht nur einmal in unserem Leben. Doch was bleibt ist stets die Gegenwart, das was tatsächlich geworden ist. Alles andere sind Erinnerungen, Wünsche, Träume die eines Tages verblassen, wenn wir in die Tiefen des Ozeans hinabsinken und alles Meschliche von uns abwerfen.
Am Ende aller Tage sind wir alle schön. Frei von Elend und Angst, Hunger und Traurigkeit. Im Ertrinken liegt der Glanz der Ewigkeit. Dieses Geschenk gebührt uns allen.
Dem einen früher, dem anderen später.

- Alle Personen und Begebenheiten sind frei erfunden. Dies ist keine Bandbiografie. -

Sonntag, 29. September 2013

Die Frau im blauen Kleid

"Das, was mich wirklich verfolgt, ist ihr Blick... ihr Lächeln, das Leuchten in ihren Augen, kurz bevor der Laster sie erfasst."
Der Mann am Schreibtisch schreibt etwas in seinen Notizblock. Er wartet geduldig, gibt seinem Patienten Zeit, um seine Gedanken zu sammeln. Der Patient atmet schnell. Als er wieder zu sprechen beginnt, zittert seine Stimme vor Schmerz:
"Ich muss immer daran denken, an was sie gedacht hat in diesem Moment. Jede Nacht erlebe ich diesen Tag von neuem, küsse sie ein letztes Mal, verabschiede mich von ihr, sehe ihr nach, wie sie in ihrem blauen Sommerkleid, das sie so geliebt hat, über die Straße zu ihrem Auto geht, sich noch einmal umdreht, mich anlächelt und..."
Der Patient kann seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Er weint und schluchzt, sein Atem ist unregelmäßig und erregt.
"Weinen Sie ruhig." Der Mann am Schreibtisch blickt den Patienten eindringlich an und wartet darauf, dass dieser sich wieder entspannt. "Es ist gut, Trauer zuzulassen."
"Ich will aber nicht mehr trauern, verdammt!" Der Patient ist verzweifelt, wütend, kompensiert den Verlust durch Aggression. "Ich will einfach nur wieder leben! Eine Nacht durchschlafen, ohne sie erneut zu verlieren! Ich halte das einfach nicht mehr lange aus! Ich kann nicht mehr, verstehen Sie? Ich will nichts mehr zulassen, ich will einfach nur vergessen!"
Der Mann am Schreibtisch nickt. Sonnenlicht spiegelt sich in seinen runden Brillengläsern.
"Ich will sie einfach nur vergessen... Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn wir uns niemals kennengelernt hätten... ich meine, wenn wir uns niemals verliebt hätten. Liebe ist eine grausame Last, wenn sie nicht erfüllt werden kann. Ich hasse die Liebe. Sie hat mir nichts als Schmerz und Einsamkeit gebracht."
Der Mann am Schreibtisch schlägt die Beine übereinander.
"Ich weiß, dass Sie mir helfen wollen... ich weiß, dass ich weiter an mir arbeiten muss und das alles... aber ich habe einfach nicht mehr die nötige Kraft dazu. Ich bin leer, verstehen Sie? Alles ist grau und bedeutungslos für mich da draußen. Nichts kann meine Liebe zu ihr... jemals ersetzen..."
Der Mann am Schreibtisch räuspert sich, bevor er mit ruhiger, gelassener Stimme erwidert: "Im Grunde geht es auch nicht darum, einen Ersatz für Ihre verstorbene Frau zu suchen, Herr Eidsvag. Sie verlangen zu viel von sich und dem Leben."
"Nein. Sie verstehen das nicht... Das Leben verlangt zu viel von mir."
Der Mann am Schreibtisch schüttelt den Kopf. "Das Leben verlangt überhaupt nichts von Ihnen, Herr Eidsvag. Das Leben ist das, was Sie daraus machen. Wir haben schon einmal darüber gesprochen, dass Sie versuchen müssen, die Zeit mit Ihrer verstorbenen Frau als etwas Gutes, eine Art Geschenk zu betrachten. Sie müssen lernen, die Vergangenheit als etwas Positives zu sehen, etwas, an dem Sie durch glückliche Fügung teilhatten und das jetzt hinter Ihnen liegt. Sie müssen nach vorne schauen, dann werden Sie auch die Schatten der Erinnerungen loswerden."
"Geben Sie mir einfach irgendwas, damit ich nicht mehr träume, Doktor. Irgendwas, ich flehe Sie an! Die Träume sind es, die mich fertig machen, nicht die Erinnerungen, die kann ich kontrollieren. Diese verfluchten Träume jede Nacht. Bitte, Doktor. Verschreiben Sie mir Valium."
Der Mann am Schreibtisch schüttelt den Kopf. "Nein, Herr Eidsvag. Dadurch erreichen wir gar nichts. Sie müssen sich ihren Ängsten stellen und sie überwinden, wenn Sie frei sein wollen."
Der Patient bricht erneut in Tränen aus. Er richtet sich auf und blickt den Mann am Schreibtisch mit erröteten, blutunterlaufenen Augen an. "Wenn Sie mir kein Valium verschreiben, werde ich mir einen anderen Psychiater suchen."
"Auch damit erreichen Sie nur das Gegenteil, Herr Eidsvag. Sie wissen das."
Der Patient schüttelt den Kopf. "Ich weiß gar nichts... Niemand tut das. Wir alle sind unwissende Narren... Jeder ist allein, wir alle haben unsere Vergangenheit. Es wird niemals aufhören. Es gibt nur diesen einen Ausweg. Existenz bedeutet Leiden. Das war schon immer so und ist es auch heute noch..."
Der Mann am Schreibtisch schreibt etwas in seinen Notizblock.

Drei Stunden und siebenundvierzig Minuten später. Der Patient, Herr Eidsvag, Aksel sitzt vor dem Fernseher und starrt in das flimmernde Chaos aus farbigen Pixeln. Er denkt nichts, er fühlt nichts, ist weder glücklich, noch traurig, weder einsam, noch verzweifelt. Er starrt einfach auf das sich ständig verändernde Farbenmeer und atmet, atmet, atmet. Dann, ohne besonderen Grund, stellt sich Schärfe in seinem Blick ein und er erkennt einen grauen Mann im Anzug vor einem blauen Hintergrund. Das Rauschen in Aksels Kopf formt sich zu Worten und er beginnt, deren Bedeutung in sich aufzunehmen:
"... geben kann. Gott ist nicht nur unser Schöpfer, er ist auch unser Freund. In den dunkelsten Stunden, wenn wir keine Hoffnung mehr sehen, ist er da, tief in uns, weit über uns, überall und hält uns in seinen schützenden Armen. Alles Übel in der Welt verblasst und wir sind eins mit dem göttlichen Klang. Shaaaaaaaaaaaaaa - shaaaaaaaaaaaaaa - spüren Sie die die Aura Gottes in ihrem Herzen? - shaaaaaaaaaa - shaaaaaaaaaaaaa - shaaaaaaaaaaaaaa..."
Aksel schaltet den Fernseher aus und verlässt das Wohnzimmer. Im Schlafzimmer betrachtet er das Bett. Eine Gänsehaut schleicht sich über seinen Rücken den Nacken hinauf bis an die Spitze seines Schädels. Er geht ins Bad, putzt sich die Zähne, zieht sich um, wäscht sich das Gesicht, betrachtet sich im Spiegel. Draußen beginnt es sanft zu regnen. Er schließt das Fenster, löscht das Licht, geht ins Schlafzimmer, legt sich ins Bett. Er gübelt noch eine Weile vor sich hin, versucht, nicht an sie zu denken. Er zwingt sich, an Belangloses zu denken. An den Supermarkt mit seinen vielen Regalen und der entspannenden Musik im Hintergrund. An sein Schlagzeug, die goldenen Becken, die dumpfe, stampfende Bassdrum und die leicht quietschende Fußmaschine, die er demnächst zur Reparatur bringen muss. Er denkt an Geld und Segelschiffe und an Wachsfiguren und Feuer. Er stellt sich vor, wie es sich anfühlt, zu verbrennen. Kein guter Gedanke, er denkt schnell wieder an etwas anderes. Er schaltet das Licht aus und konzentriert sich auf seine Atmung, wie es ihm sein Psychiater empfohlen hat. Kopf aus. Herz aus. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen... Ausatmen...
Schließlich schläft Aksel ein. Zunächst ist alles schwarz, doch nach circa einer Stunde beginnt er zu träumen.
Es ist der gleiche Traum wie jede Nacht.