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Freitag, 10. Mai 2013

Annas Titten

 
Ein weiser Mann hat mal gesagt, dass man erst über eine Frau hinweg ist, wenn man sich nicht mehr an ihre Titten erinnern kann…

Es ist kalt, der Winter scheint kein Ende nehmen zu wollen. Hin und wieder schneit es sogar und der Wind heult in regelmäßigen Böen durch die Häuserschluchten, wie ein gieriger, unsichtbarer Dämon auf der Suche nach warmem, pulsierendem Fleisch.
„Was für ein verficktes Dreckswetter!“, flucht Tim und rollt die Bierflasche zwischen seinen behandschuhten Händen, als würde sie dadurch Wärme produzieren. „Es ist März und wir frieren uns den Arsch ab. Scheiß Klimaerwärmung, die Welt gibt langsam aber sicher den Geist auf.“
Kai nickt und nimmt einen Schluck aus seiner Flasche. Er blickt die menschenleere Straße hinunter, dann eine Häuserwand empor, die von leuchtenden Fenstern besät ist, hinter denen Menschen in beheizten Zimmern sitzen. Die kleine Mauer, auf die sie sich gesetzt hatten, gibt eine bleierne Kälte ab, die ihm bis in den Rücken fährt.
„Wir sollten gleich wieder irgendwo rein gehen.“, schlägt Tim vor. „Vielleicht ruf` ich mal Alex an und frag, wo die sind.“
„Lass.“, erwidert Kai nüchtern. „Anna ist dabei.“
„Ach, komm schon!“, raunt Tim in an. „Du warst nicht mal drei Monate mit der zusammen, jetzt tu nicht so, als hättest du dein Herz verloren!“
„Ich hab` einfach keine Lust sie zu sehen, okay?“ Kai starrt in eines der erleuchteten Fenster in dem Haus gegenüber. Eine Frau erscheint schemenhaft hinter dem Glas und zündet ein paar Kerzen an, die direkt am Fenster stehen. Vermutlich sind sie noch von Weihnachten übrig geblieben.
„Du musst ja nicht mit ihr reden, Mann. Setz dich einfach hin, bestell was zu trinken und ignorier` sie.“
„Ignorier` sie…“ wiederholt Kai gleichgültig. „Der bloße Gedanke an sie macht mich schon wahnsinnig. Ich sehe es schon vor mir, das klassische Gespräch: Na, wie geht’s dir? Alles wieder ok? Ja, ja, alles super, das Leben ist geil, alles viel besser, seitdem wir nicht mehr ficken. Ich fick jetzt viel geilere Fotzen als dich, ich brauch dich nicht, bla, bla, bla…“
Tim muss lachen. „Ja, das würdest du sagen.“
„Nein, würde ich nicht. Ich würde das Theater mitspielen. Ein guter Freund sein und so tun, als wäre alles bestens.“
„Ist es das denn nicht?“ Tim wirft seinem Freund einen besorgten Blick zu, folgt aber dann dem seinen und starrt zu dem von Kerzenlicht umrahmten Fenster hinauf.
„Ach, keine Ahnung.“, antwortet Kai resigniert und wendet seine Aufmerksamkeit wieder der vereisten Straße zu; den Partikeln von Schmutz und Schnee, die sich auf dem schwarzen Asphalt miteinander vermengen.
„Ich weiß nicht, was ich denken soll. Gibt es eine Anleitung, wie man sein muss, was man tun muss, was nicht? Wir alle tun so, als gäbe es da diesen Master-Plan, diese Hausordnung, an die man sich zu halten hat, wenn man ein „sinnvolles“ Leben führen will. Ich mein`, was soll das alles eigentlich? Jeden Tag aufstehen und das Gleiche tun, immer wieder aufs Neue?  Wofür leben wir? Wofür lohnt sich das alles? Liebe? Macht? Oder einfach nur zur Befriedigung unserer Triebe, unseres Hungers? Um am Leben zu bleiben, weil Leben kostbar ist?“
Tim schüttelt den Kopf. „Du bist in einer Scheißphase gerade. Du kommst schon wieder klar. Die Zeit…“
„…heilt alle Wunden, komm mir nicht mit der Kacke. Du hast auch keine Ahnung, genau wie alle anderen. Genau wie ich selbst! Du machst einfach immer weiter, ohne zu hinterfragen.“
„Hinterfragen bringt auch nichts. Du solltest dir nicht so viele Gedanken machen.“
„Und wenn ich sie mir trotzdem mache?“ Kai steht auf und schlägt sich den Schmutz von der Hose. „Wenn ich verstehen will… wissen will, ob es einen Sinn gibt in den Dingen, die wir tun? Wenn ich den Master-Plan nicht akzeptiere, meinen Hunger und meine Geilheit nicht stille wie ein Tier? Wenn ich auf die Liebe und den ganzen Ballast scheiße, auf Moral und Gemeinschaft?“
„Dann landest du im Knast oder in der Psychiatrie. Die Regeln sind ganz einfach.“
„Die Regeln…“, wiederholt Kai spöttisch. „Und wer macht diese Regeln? Menschen? Götter? Egoisten? Humanisten?“
„Was weiß ich, was du meinst, Alter. Allah macht Regeln. Die Bundeskanzlerin macht Regeln. Es gibt immer irgendwen, der verfickte Regeln aufstellt.“
„Und an die hält man sich dann einfach. Warum? Weil sie da sind? Weil man sonst weggesperrt wird? Also befolgen wir alle nur diese Regeln, weil wir Angst vor Strafe haben. Das ist erbärmlich.“
„Jeder Mensch hat Angst, so einfach ist das.“ Tim zuckt mit den Schultern. „Diese Regeln nehmen uns die Angst, weil wir wissen, was wir tun müssen, um dazuzugehören. Man muss einfach nur tun, was alle tun, dann gibt’s auch keinen Ärger.“
Kai muss lachen. „Tun, was alle tun? Das kann nicht dein Ernst sein. Du machst genauso wenig Sinn wie alles andere in dieser Welt.“
„Was wirst du denn tun, wenn es diesen Sinn nicht gibt, von dem du redest?“ Tim nimmt den letzten Schluck aus seiner Flasche und wirft sie hinter sich in einen ungepflegten Vorgarten. „Was ist, wenn du endlich deinen Beweis findest, dass alles willkürlich und sinnlos ist, dass es keine Ordnung oder so was im Universum gibt? Was machst du dann? Dich umbringen? Na, dann los. Du machst es dir einfach. Du stiehlst dich mit der Ausrede aus dem Leben, dass wir alle eine Lüge leben, dabei weißt du selbst nicht, was Lüge und was Wahrheit ist. Du bist ein Träumer, Kai. Eine Heulsuse. Beweis mal, dass du Eier hast und nimm das Leben, wie es ist!“
Kai lacht erneut, doch diesmal ist es ein freieres, freundlicheres Lachen. „Beweis mal Eier?“, wiederholt er genüsslich. „Du bist ein Idiot.“
„Was ist denn dein Problem, du Fucker? Wir leben hier, auf der guten Seite dieses gottverlassenen Planeten, haben Kohle, haben Essen, können saufen und ficken, wie wir lustig sind. Und du sitzt hier und bist traurig, weil dich diese Fotze von Anna abgeschossen hat.“
„Jetzt hör mal damit auf!“ Kai ist jetzt wirklich wütend. Seine Hände zittern und seine Finger umklammern die eiskalte Flasche mit fester Gewalt. „Es geht nicht um Anna oder sonst wen. Es geht darum, dass das Leben das wir führen nur Sinn macht, wenn wir nicht darüber nachdenken. Das kann doch keine Lösung sein!“
„Jetzt beruhig dich mal wieder. Ich wusste nicht, dass du`s so ernst meinst.“
Kai wendet sich von seinem Freund ab und leert die Flasche in einem Zug.
„Auf einen Tag folgt ein anderer, der dem ersten aber vollkommen gleicht. Und so reihen wir unsere geklonten Tage aneinander und versuchen ihnen, mit diversen Aktionen einen Charakter zu geben, um sie hinterher, in unserer Erinnerung, besser unterscheiden zu können. Aber unsere Erinnerung ist verseucht von Lügen, die wir selbst erfunden haben. Wir erfinden coole Stories und alles verschwimmt zu einem großen, sinnvollen Konzept, während das tatsächlich Erlebte verblasst. Alles ist von uns selbst konstruiert. Ich konstruiere nicht mehr. Ich will nicht mehr lügen. Ich höre einfach auf damit.“
„Mach was du willst. Wenn du meinst, dass es dir was bringt.“ Tims Stimme verhallt in der eisigen Stille der Seitenstraße. Noch einige Minuten lauschen die jungen Männer dem weit entfernten Rauschen des Verkehrs, den Geräuschen aus den Häusern um sie herum.
„Sollen wir noch ins Kino?“ schlägt Tim schließlich vor. „Um Eins läuft „Prometheus“ im Alpha.“
Kai nickt und wirft die leere Flasche zu Tims in den fremden Vorgarten.
„Yeah, scheiß drauf. Kopf aus, Käsesoße rein. Das verfickte Leben ruft.“
„Kopf aus, Nachos rein?“ Tim legt seinem Freund eine Hand auf die Schulter und lächelt ihm väterlich zu. „So gefällst du mir, mein Sohn.“
„Ach, fick dich.“, antwortet Kai und muss grinsen, weil Tim so bescheuert aussieht. „Komm, lass gehen…“

Kai, Pissrinne, rauschendes Wasser. Er ist allein auf der Herrentoilette des Kinos. Das Bier hat ihn keine zwanzig Minuten des Films schauen lassen, als es sich auch schon wie eine wütende Meute volltrunkener Penner in einer Bahnhofsvorhalle Richtung Ausgang bewegt hat und sich nun wie ein gelber Fluss in das sprudelnde Rinnsal des weitgestreckten Pissoirs ergießt.
Kai denkt nach. Er denkt an den Film, an Aliens, an Anna, an seinen Bruder, an den Tod, an Hemingway, dann wieder an den Film und wie sehr er ihn bereits langweilt. Gestellte Situationen, gestellte Dialoge, gestellte Bilder, gestelltes Leben.
Was ist schon nicht gestellt in dieser von Menschen konstruierten Realität?
Plötzlich wird die Tür aufgerissen und ein klobiger Südländer mit extrem dünnrasiertem Backenbart betritt das WC. Er wirft Kai einen müden, entrückten Blick zu, stellt sich ans andere Ende des Pissoirs und fummelt an seiner Gürtelschnalle rum. Kai wendet seinen Blick wieder seinem Schwanz und dem gelben Pissefluss zu, der aus ihm hinaus in die Wirklichkeit sprießt.
„Scheiselienfilm, oda?“ fragt der Südländer ihn plötzlich und blickt ausdruckslos, seine lange, braune Nudel in der massigen Hand, zu ihm hinüber.
„Ja, Scheißfilm…“ antwortet Kai tonlos. Der Südländer nickt abwesend.
„Neksmal isch geh Pornokino.“ Der Südländer grinst schief und zwinkert Kai zu. „Bessa Titen as Elienscheise.“
Kai nickt ausdruckslos. „Ja, besser Titten…“
Zeit zu gehen. Er packt seinen Schwanz ein, wäscht sich die Hände und will das WC verlassen als der Türke ihm noch etwas hinterher ruft, was sich wie „Du geiles langes Nudel, wenn wils kom mit Pornokino, wir wixe susamme!“ anhört. Kai schüttelt angewidert den Kopf und macht sich auf Richtung großem Kinosaal.
„Die Welt macht einfach keinen Sinn.“, murmelt er in sich hinein, nicht ohne ein leichtes Grinsen unterdrücken zu können.

„Und?“ flüstert Tim, nachdem Kai an seinen Platz zurückgekehrt ist. „Wie findste den Film bisher? Hast echt ein paar coole Szenen verpasst.“
Kai zuckt mit den Achseln. „Irgendwie lahm das Ganze. Nächstes Mal geh ich ins Pornokino. Titten sind besser als Alienscheiße.“
Tim lacht. „Kann sein. Aber noch besser sind Alien-Titten! Wart mal ab, vielleicht bekommen wir ja noch ein paar zu Gesicht.“
Kai grinst. „Ja, vielleicht. Er nimmt einen Schluck Bier aus der feuchten Flasche, betrachtet das wirre Treiben auf der Leinwand und denkt an Annas Titten. Es waren schöne, wenn auch recht kleine Titten; symmetrisch, wohlgerundet, aufreizende, nicht allzu auffallende Nippel, die selbst bei extremer Hitze noch fest und spitz waren. Es waren Titten, die man hätte malen müssen. Ein Da Vinci hätte sich ihrer annehmen sollen oder ein Botticelli. Titten für die Ewigkeit.
Wäre sie nicht so eine verklemmte, rechthaberische Fotze gewesen…, denkt Kai, während auf der Leinwand ein menschlicher Kopf in einem Raumanzug von einem parasitären Alien-Wurm gesprengt wird, … ich würde sie wohl niemals vergessen.
Dann denkt er wieder an seinen Bruder, den toten, verwesenden Bruder unter den vielen Schichten Erde, er denkt an Affen aus dem Zoo, die vergnügt in die Hände klatschen, wenn sie einen Witz gerissen haben, er denkt an die Klimaerwärmung, an die Atomraketen-Drohung Nordkoreas, an Kinderschändung und McDonalds Happy Meals. Er denkt an Sartre, Camus und Pornokinos, an Ehemänner, die ihre Frauen betrügen, an Kinder, die andere Kinder in Sandkästen verhauen, er denkt an Schokoladeneis mit Sahne, an Bundesjugendspiele und Karate-Kid, an Wodka Ahoi und überteuerte Nutten, an Fernsehshows und Happy-Ends, an Klopapier und Fail-Compilations, an Holocaust und Freibier-Parties. Er denkt an Menschen, die andere Menschen ficken, in den Arsch, in den Mund, überall hin. Er denkt an verliebte Paare, an Sonnenuntergänge am Strand, an Massenmörder und Amokläufer. Er denkt an Videospiele, an Selbsthilfegruppen, an Versicherungen und Zeitungsverkäufer.
An all diese Dinge und noch viele mehr denkt er, gleichzeitig, sie miteinander vermischend, während vor ihm auf der Leinwand Angst und Gemetzel simuliert werden und um ihn herum schweigende, Popcorn knabbernde Zuschauer sitzen. Alles verschwimmt zu einem einzigen bunten Brei, einer Galaxie aus Vorstellungen und Farben, aus Materie und Anti-Materie. Die Welt ist keine Kugel mehr, sondern ein langanhaltender, ohrenzerfetzender, in allen möglichen Frequenzen vibrierender Furz.
Dann denkt er wieder an Annas Titten und muss plötzlich so laut auflachen, dass sich alle zu ihm umdrehen.

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