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Sonntag, 1. Juni 2014

Misanthropie - Wenn Menschen Menschen hassen

Ich sitze in der Bahn und starre aus dem Fenster. Ich denke nach, wie immer. Ich kann einfach nicht aufhören damit. Ja, ja, ich weiß, dass ich das sein lassen sollte, einfach aufhören sollte mit der Scheiße, loslassen und der ganze Fuck, I know. Aber es geht nicht. Die Maschine läuft unaufhaltsam, ich habe auf den roten Knopf gedrückt und seitdem läuft sie. Oder war es jemand anderes? Ich weiß es nicht mehr...
Heute morgen bin ich aufgewacht und habe ans Sterben gedacht. Das verfickte Sterben, wie so oft. Wie wird es wohl sein? Kurz und schmerzlos? Oder eher das Gegenteil? Warum tun wir jeden Tag die gleichen Dinge, wenn doch jeder Tag etwas Besonderes ist?
Ich schaue mich um im Abteil.
Menschen. Überall Menschen. Jeden Tag Menschen. Immer andere. Immer neue. Oder sind es immer die Gleichen und ich erinnere mich nicht an die Gesichter? Weil sie mir egal sind? Weil sie mir doch nicht nahe sein können? Weil mir niemand wirklich nahe sein kann?
Ich denke ans Sterben, jeden Tag, denke an den Tod, meinen eigenen, den der Anderen, denke an all Diejenigen, die das Schauspiel des Daseins bereits hinter sich gebracht haben; nicht mehr sind - Nichts mehr sind. Denke, denke an dies, denke an jenes. Schaue mir die Gesichter an, die leeren, immer gleichen, immer fremden Gesichter.
Die Frau da, direkt im Abteil gegenüber. Diese Frau... was mag sie wohl denken?

Die Frau denkt:
Was hab ich mich abgemüht! Was hab ich mich abgemüht bisher und nichts! Niemand dankt mir für meine Leistungen! Schau sie dir doch an, alle denken nur an sich! Dabei hab ich doch so viel getan für die Gesellschaft! So viel Einsatz und so wenig Lohn! Manchmal würde ich am liebsten losschreien, sie alle anschreien, diese undankbaren Einzelgänger, würde sie schlagen und beißen, in Stücke reißen, ja das wäre schön, das wäre befreiend... Wegen ihnen mach ich doch das alles, jeden Tag aufs Neue, wegen Euch! Aber ich sitze hier, fahre zur Arbeit, bekomme mein Geld am Ende des Monats... wie eine Maschine, bekomme mein Geld und weiß nicht wohin damit...
Meine Kinder? Sind auch schon zu Maschinen geworden. Jeden morgen aufstehen, anziehen, zur Schule gehen...
Mein Mann? Schaut lieber Pornos im Internet als mich auch nur einmal mit Begehren anzuschauen. Begehren... hat er mich jemals geliebt? Wenn, dann muss es damals gewesen sein... In Italien, am Strand von Cesenatico. Ja, da hat er mich so angesehen. Begehren, Liebe... Ein tatsächliches Gefühl! Doch jetzt... ist da garnichts mehr. Kein Gefühl, nur Leere. Schau dir die Leute hier doch an. Überall Leere! Ich hasse mein Leben, hasse es, hasse es... Ich hasse meine Kinder, hasse meinen Mann und am meisten hasse ich mich... weil ich jeden Morgen aufstehe und das gleiche tue, aufstehe und zur Arbeit fahre; eine Arbeit, die mir nichts bedeutet, eine Arbeit, die ausbeutet, eine Arbeit, die nur von einer Maschine bewältigt werden kann. Ich bin eine Maschine und ich hasse mich dafür. Am Liebsten würde ich einfach aufhören mit diesem Maschinendasein. Wieder leben, frei sein... frei... wie der junge Mann da drüben. Man spürt gerade zu, wie sorglos er ist! Wie ich ihn dafür beneide, wie ich ihn dafür hasse! Ich hasse ihn, weil er frei ist und ich in Ketten vor mich hinvegetiere! Ich hasse diese Welt, die mich zu dem Menschen gemacht hat, der ich bin! ... Was er wohl denkt, der junge Mann da hinten mit den ruhigen Augen, dem entrückten Blick? Was mag er wohl denken? ...

Der Mann denkt:
Fuck, das Leben ist so seltsam. Warum bin ich hier und nicht jemand anderes? Warum musste gerade ich das Rennen gewinnen, warum nicht jemand anderes? Was solls, Mann, was solls, ich bin da, ich atme, ich schaue mir die Straßen Kölns an, hier durch das Straßenbahnfenster. Ich bin da und jetzt muss ich das Beste daraus machen...
Ich muss endlich mal mit den Bewerbungen anfangen, verdammt... Meine Eltern sind echt so saucool, jeden Monat neue Kohle, scheiße, mein schlechtes Gewissen bringt mich noch um, eigentlich ist das viel zu viel Kohle jeden Monat und ich tu garnichts dafür, nichts, null, nada, fuck... und dann das Gras, jeden Tag das verdammte Gras... aber ohne geht es einfach nicht mehr, ich kann dieses ewige Gedankenkarussell einfach nicht ohne Rausch ertragen. Diese Verpflichtungen und das alles... immer dieses ekelhafte Gefühl, einem anderen Menschen etwas zu schulden! Dabei hab ich es mir doch nicht ausgesucht, hier zu sein! Ich will garnicht hier sein, verfickt nochmal! Aber vorm Sterben hab ich zuviel Angst, tolle Scheiße. Einfach gehen kann ich außerdem auch nicht. Was soll aus meinen Eltern werden? Die würden das nicht verkraften, no way... oder Daria... was soll aus Daria werden, wenn ich nicht mehr bin? Ich kann nicht einfach gehen... ich muss diese Schuld abarbeiten. Alles abarbeiten... Morgen fange ich an mit den Bewerbungen, auf jeden Fall! Morgen fange ich mit den Bewerbungen an...
Mann, ich hasse das alles so sehr, warum kann ich nicht einfach so sein, wie ich bin? Warum muss ich mich immer verstellen, etwas darstellen, jemand sein, den Andere sehen wollen? Andere... Immer geht es um die Anderen! Ich hasse die Anderen, sie schreiben Dinge vor, die sie selbst nicht verstehen! Ich hasse euch! Ja, glotzt ruhig weiter blöd aus dem Fenster, ja, glotzt mich ruhig weiter blöd an, ja dich meine ich du alte hässliche Hure da drüben! Glotz mich an und schüttel mit dem Kopf wie es alle tun, sei enttäuscht von mir, sei angewidert, ja! Aber weißt du was? Du widerst mich genauso an! Die ganze Welt widert mich an! Fuck... morgen kümmer ich mich um die Bewerbungen. Morgen schick ich sie raus, echt jetzt...
Morgen... heut hab ich keinen Kopf dazu, bin echt daneben heute, das wird heut nix.
Morgen. Ich steh dann früh auf und...

Plötzlich klingelt irgendwo hinter mir ein Handy. Klingelton: Ebru Gündeş - Dön Ne Olur. Jemand geht ran:
"Alda, was rufs du am um diese Zait? ... Tchüsch, Junge, ich geh McFit, jedem Dienstag ich geh McFit, sei froh dassisch noch nisch am tränierem bin, Oldüm. ... Ya... ... Ya, Man... ...
Brus... Heute nur Brus, Donnestag Bein un Booch un Sanstag Bisseps, Junge... ... Nee, schab umgestellt ya... umgestellt, dem Treningsplahm... ya ya... Alda... du Huuuuuuuremsohn, Otto, schfikkdainmutta ya! ... Schwöre, kom mit am Sanstag Abent Daimönds ya, of de Ringe ya, schwöre schgeh vorher pumpem ya un dann Bitsches klarmachem ya, mit Dick Arm ya, frisch ofgepump ya, schwöre das am geilstem, klapp jedesmal, hab immer eine klargemach, manschesmal sogar suai! ..."

Ich denke jetzt nicht mehr an den Tod. Ich versuche, mir vorzustellen, was der Kerl am Telefon vom Leben hält. Ich stelle mir vor, ich sei der Typ. Ich stelle es mir ganz fest vor... Was denke ich?... Was denke ich...

Der Typ am Handy denkt:
Der Lebem is gut, Alda. Der Leben is gail. Der Leben is so gail. Gleisch Trening, dann gut essem bei Babane, am Wochemende Bitsches klar machem, dann bisschen Arbait, dann wieder Trening, dann Essem bei Babane, dann wieder Bitsches, boah, Lebem is so gail Oldüm, ya, so gail, isch liebe meim Lebem ya, gaile welt, ya...
Wemm dem ganzem doitschem Maserfackers nisch wärem ya, immer schlesch gelaumt ya, immer trorig, isch hasse dem voll ya, dem schais Doitschem ya, isch hasse dem foll ya, boah wie isch dem hasse ya! An Sanstag am bestem wir gehen hinterher noch paar Doitsche klatschem, habem dem verdiemt ya, immer schaise droof dem Bastards ya, Huremsöhne, habem escht paar of dem Fresse verdiemt ya... tchüsch... aber sons alles gud ya...

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Ok, Schluss, Cut!
Worauf will diese Drecksgeschichte hier jetzt eigentlich hinaus, fragst du dich bestimmt gerade - ja genau du! Du, der du bis hierher gelesen hast, und die ganze Zeit versucht warst, dir wie gewohnt deinen Youtube-Mist, Kinderpornos oder sonst irgendeinen Schrott, den deine angeblichen Freunde bei Facebook gepostet haben, reinzuziehen?
Du kommst selbst nicht drauf? Echt jetzt?
Also gut, du selten dämlicher Motherfucker, dann sei dir die Moral von der Geschicht´ an dieser Stelle aufs Brot geschmiert. Achtung, hier kommt sie, die Essenz des soeben Gelesenen, das Salz in der virtuellen Darkness-Suppe:

"Denk nicht nach, mach was dir gut tut, hasse alles oder lass es bleiben... Interessiert keine Sau! Ich für meinen Teil muss jetzt los, Brust, Bein und Bauch trainieren (Bizeps nur am Wochenende) und dann ab in den Club, hübsche Frauen mit meinen Muskeln betören."

Du denkst ans Sterben jeden Tag?
Dann verreck doch, wen kümmert´s, gibt haufenweise Leute, die nur darauf warten, deinen Platz einzunehmen.
Du sehnst dich nach Anerkennung, Liebe, Leidenschaft und Trost? 
Träum weiter, mach deinen Scheiß oder bleib auf der Strecke. Es gibt zu viele Menschen und zu wenig Platz auf diesem Planeten, wer braucht dich, Träumer, der du all diese Dinge verlangst? Mach Platz oder geh mit, aber heul nicht rum, man lebt nur einmal, also mach was draus! Trainiere deine Muskeln, sei eine Maschine, Herz aus Plastik, that´s the way. Wenn dir das missfällt, dann fahr zur Hölle, du wertloses Stück Menschenscheiße.
Du glaubst, das Wettrennen endet mit dem Eindringen in die Gebärmutter? Falsch! Der Wettkampf dauert ewig, bis dein kümmerliches Herz aufhört zu schlagen. Renne oder bleibe liegen im Gras und schau den wahren Läufern beim Marathon zu.
Was, auch das macht dich traurig?
Dann schließ die Augen und halt´ die Luft an, bis alles schwarz wird, bis der Schleier dich einhüllt. Mach Platz für die wahren Läufer.
Oder lauf mit und beweise dir selbst, dass du das Dasein, die Existenz, das Alles verdient hast. Beweise dir selbst, dass du ein Mensch bist.
 
"I... Am I the next? Self inflicted overload.
Thoughts returning to think me away.
I... Will I be reprieved,
or am I just awaiting the sentence of my exquisite,
internal machinery of torture"
(Meshuggah, 1998)