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Freitag, 10. Mai 2013

Ein ruhiges Leben

Es war ein ruhiges Leben, das Leben des Sandro Meyer. Ein überschaubares, ein friedliches, vielleicht auch ein langweiliges Leben. Aber es hatte ihm immer gefallen. Er war nie unzufrieden, neidisch oder strebsam gewesen, sondern stets glücklich mit dem, was er hatte. Er wünschte sich nie etwas, denn er hatte ja alles, was man für ein gutes Leben brauchte. Eine Arbeit, eine Frau. Einen Sohn. Den Fernseher.
Seine Frau Lisa hatte ihn immer gefragt, was er sich denn zum Geburtstag wünsche und er hatte immer geantwortet: „Nichts. Denn ich habe ja alles.“ Lisa fand es zwar schön, dass ihr Gatte so glücklich und zufrieden war, doch sie wusste nie, was sie einem Mann, der schon alles hat, schenken konnte. Sie fühlte sich oft wertlos und einsam mit ihren Schuldgefühlen, dem Neid auf das Glück und den Erfolg anderer, ihrer Unzufriedenheit mit sich selbst und vor allem mit ihrem Körper. Sie hasste das Älterwerden. Sie hasste ihren Beruf. Und manchmal, da hasste sie auch ihre Familie, ihren teilnahmslosen Mann, ihren schweigsamen, introvertierten Sohn. Doch all ihr Hass war vergessen, wenn sie abends nach einem harten, langen, grauen Arbeitstag ein Glas Wein trank, das monotone Gemurmel des Fernsehers im Hintergrund, der Mann und Kind wie ein Hypnotiseur in seinen Bann zog. Sie saß dann oft lange Zeit am Küchentisch und rauchte und las und wenn sie nicht las, dann dachte sie nach. Sie konnte nicht aufhören mit dem Denken. Es war ihre Passion, auch wenn sie sich manchmal nach einer Pause sehnte. Doch Pausen, die gab es nicht. Ihr Kopf stand niemals still. Er war wie ein Karussell, das sich auf ewig im Kreis drehte und die Welt außerhalb zu bunten Schlieren verschwimmen ließ.
Manchmal beobachtete sie ihren Mann vom Türrahmen des Wohnzimmers aus. Heimlich schaute sie ihm dann beim Fernsehen zu und es überkam sie diese Traurigkeit, wie sie einen immer befällt, wenn man das Gefühl hat, etwas Großartiges und Wichtiges verpasst zu haben. Sie liebte ihren Sandro. Sie liebte ihn sehr. Aber tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie einen Fehler begangen hatte, als sie damals Ja gesagt hatte.
Das war auf Sizilien gewesen, im Mai 1991. Sie erinnerte sich immer gern an jene Zeit zurück. Dann spürte sie jedes Mal aufs Neue den kühlen, weichen Sand zwischen ihren Fingern, hörte das sanfte Rauschen des Meeres und roch die frische, salzige Luft der Küste. Sie erinnerte sich an seine zarten Finger, die ihren Nacken kraulten, während sie gemeinsam der blutigen Sonne zusahen, die zwar langsam, aber letztlich doch viel schneller als sie es erwartet hatten, im dunkelblauen Horizont versank. Sie erinnerte sich an seinen Kuss, der sich damals wie Feuerwerk in ihrem Herzen angefühlt hatte. Die Küsse waren zu jener Zeit anders als die Küsse heute, fand sie. Heute waren es einstudierte Gesten, die aus Pflichtgefühl und Gewohnheit abgespult wurden. Damals jedoch war jeder Kuss ein Kunstwerk für sich und mit jedem Mal, wenn sich ihre Lippen berührten, hatte sie ihn mehr geliebt.
Als die Sonne untergegangen war, fragte sie Sandro, ob sie Lust auf einen Strandspaziergang hätte und sie hatte gelächelt und Ja gesagt. Sie waren den Strand hinunter spaziert, weiter und weiter und einfach immer weiter, ohne sich Gedanken darüber zu machen, dass sie ja den ganzen Weg wieder zurück marschieren mussten. Als sie schließlich an einen Punkt kamen, an dem sie ausschließlich vom Licht des Mondes und der Sterne beleuchtet wurden und keine Menschenseele mehr in Sicht war, hatte Sandro sie erneut geküsst und ihr Haar gestreichelt. Sie hatten sich geliebt im feuchten Sand unter einer Kuppel von Milliarden Sternen und als sie nebeneinander in den Armen lagen, hatte er sie gefragt, ob sie seine Frau werden wolle. Es war spontan gewesen, einfach so. Die einzige unüberlegte Aktion in Sandros Leben.
Lisa hatte Ja gesagt und dann hatte sie geweint und dann gelacht und immer wieder Ja gesagt. Sie hatte Ja gesagt.
Tränen erschwerten ihr oft die Sicht, wenn sie so in Erinnerungen versunken im Türrahmen stand und ihrem Mann und Sohn beim Fernschauen zusah. Dann schüttelte sie meist den Kopf und ging zurück zu ihrem Wein, dem Buch und den Zigaretten. Doch lesen wollte sie dann nicht mehr. Und auch nicht trinken und nicht rauchen.
Leben wollte sie, doch das ging nicht mehr.

Lisa hatte es aufgegeben, mit ihrem Mann über ihre Gefühle, Gedanken, Ängste und Sorgen zu sprechen. Sie hatte es nicht etwa aufgegeben, weil sie ihm nicht vertraute oder er ihr kein Interesse zuwies. Nein, das war nicht Sandros Art, einfach wegzuhören und sich nicht zu kümmern. Sandro war ein guter Mensch, der es nicht ertragen konnte, wenn es anderen schlecht erging. Und genau das war Lisas Problem. Wenn sie ihrem Mann von ihren Sorgen berichtete, waren es nun Lappalien wie die Geschichte vom Chef, der ihr keinen Urlaub geben wollte oder die von der dicken, unsympathischen Frau, die ihr einen Parkplatz vor der Nase weggeschnappt hatte oder aber auch gewichtigere Dinge wie ihre Depressionen oder der meist vergebliche Versuch, ihre innere Leere in sanften, aber unmissverständlichen Worten auszudrücken, dann war Sandro stets bemüht, das Problem zu lösen, es anzugehen, es zu bekämpfen. Er konnte es nicht ertragen, seine Frau leiden zu sehen. Es zerfraß ihn innerlich und er gab sich insgeheim selbst die Schuld, weil er es nicht vermochte, seine Frau glücklich zu machen. Doch es war nicht seine Schuld. Es war nie seine Schuld, denn die Schuld, die spürte dann nur Lisa, die sich über sich selbst ärgerte, dass sie ihren Mann so unter Druck setzte. Sie konnte es nicht ertragen, wenn Sandro aus der Ruhe kam, wenn er sich sorgte und sich Vorwürfe machte.
Deshalb hatte sie eines Tages beschlossen, ihn nicht mehr in ihre Gedankenwelt einzulassen, auch wenn sie sich oft einsam in ihr fühlte und verlassen und traurig. Es war der Tag gewesen, als Sandro später von der Arbeit nach Hause gekommen war und berichtet hatte, dass er eine Beförderung abgelehnt hatte, weil er keine Verantwortung übernehmen wollte. Sie hatte sich furchtbar über ihn aufgeregt und ihn einen Versager und Angsthasen genannt, weil sie einfach nicht verstehen konnte, warum ihr Mann keinen Ehrgeiz hatte und keine Ziele und keine Wünsche und keine Sorgen und Ängste. Doch Sandro hatte Angst. Sehr viel Angst sogar. Und die schlimmste all seiner Ängste war, seine Frau zu verlieren. Also hatte er sich entschuldigt und versprochen, noch am nächsten Tag zu seinem Chef zu gehen und die Beförderung anzunehmen. Doch wie sich herausstellte, hatte sich dieser bereits für einen anderen Kandidaten entschieden und die Stelle war bereits vergeben.
Lisa und Sandro hatten nie wieder ein Wort über diese Sache gewechselt und Lisa war es von nun an gleich, was ihr Mann auf der Arbeit und auch sonst erlebte, denn er erlebte nicht viel, außer auf der Arbeit und Zuhause und da war sie meistens bei ihm und konnte sehen und hören, was er trieb und was er nicht trieb.
Nein, mit ihrem Mann konnte sie nicht reden, außer über organisatorische Dinge und das Fernseh-Programm. Wenn sie Gäste bei sich hatten, unterhielt Sandro diese meist mit furiosen Geschichten, die ihm seine Arbeitskollegen berichtet hatten. Sandro war sehr beliebt, denn er strahlte Zufriedenheit und Freude aus, wenn er erzählte oder zuhörte oder mit seinem Sohn sprach oder mit seiner Frau. Lisa und Sandro hatten nicht oft Besuch, aber wenn Gäste kamen, dann blieben sie lange und am Ende hatten alle rote Wangen vom Wein und vom vielen Lachen. Doch wenn die Gäste auf dem Heimweg waren, herrschte Schweigen im Haus, jedenfalls bis der Fernseher eingeschaltet wurde, der dann bis früh morgens lief, wenn die Sonne bereits durch die Vorhänge kroch und ihr warmes, helles Licht das künstliche Flimmern der bewegten Bilder verdrängte.

Der stillschweigende Pakt der beiden Eheleute, sich von schweren Themen fernzuhalten, hielt viele Jahre an. Ihr Sohn wurde erwachsen, er reiste ins Ausland, kehrte zurück, schloss sein Abitur ab, fand eine Ausbildungsstelle als Verlagskaufmann, schloss auch diese ab und offenbarte seinen Eltern eines Abends, dass er ausziehen und seinen eigenen Haushalt führen wolle. Dies traf Sandro und Lisa hart. Sie hatten sich schon immer vor dem Tag gefürchtet, an dem es offensichtlich sein würde, dass ihre Aufgabe als Eltern für ihren Nachwuchs zu sorgen beendet sei. Nicht weil sie es ihrem Sohn nicht wünschten auf eigenen Füßen zu stehen oder an ihm klammerten, sondern weil sie Angst hatten, wieder nur zu zweit zu sein. Lisa und Sandro verband der Alltag. Wenn dieser nun zusammenbräche, was sollten sie dann mit sich anfangen? Wie sähe ihr Leben aus ohne die Verpflichtungen des Elterndaseins?
Lisas Furcht vor der neuen Situation war um vieles größer, als die Bedenken ihres Mannes. Sie hatte dunkle Träume in jener Zeit, aus denen sie schweißgebadet erwachte, mit pochendem Herzen und sich vor einer unüberwindbaren Mauer an Gefühlen gegenüber sah. Wut, Einsamkeit, Trauer, Scham. Vor allem überwältigte sie in jenen Nächten oft das kaum ertragbare schlechte Gewissen, das sie ihrem Mann gegenüber verspürte. Ein Gefühl des Hintergehens, der Täuschung.
Doch ihre Bedenken waren vollkommen unbegründet. Alles lief beinahe wie bisher, als der Auszug vollzogen und der Nachwuchs aus dem Hause war. Die Jahre vergingen und das Ehepaar wurde immer schweigsamer und schweigsamer. Sandro hatte sich schon längst damit abgefunden, ein ruhiges, überschaubares Leben zu führen. Es kostete ihn kaum Mühe, seine Bedürfnisse mehr und mehr zurückzuschrauben und sich mit dem zu begnügen, was er hatte. Manchmal sehnte er sich nach der Nähe seiner Frau, doch Lisa hatte sich mit den Jahren immer weiter von ihm zurückgezogen, nun auch körperlich. Es war ihr unangenehm, ihrem Mann nah zu sein, ihn zu küssen, zu riechen, mit ihm zu schlafen. Sandro merkte, dass es seiner Frau nicht gefiel, wenn er ihr zu nah kam, also zog auch er sich von ihr zurück, um sie nicht zu bedrängen. Er kam sich vor wie ein wildes Tier, wenn er an die Male zurück dachte, an denen er versucht hatte, sie in Stimmung zu bringen. Ein Tier, das seinen Trieben unterworfen nach Befriedigung lechzt, so fühlte er sich dabei. Er schämte sich dafür, seine Frau diesen Trieben ausgesetzt zu haben und unterdrückte sie fortan, bis sie für ihn kaum mehr wahrnehmbar waren.
Doch Lisa sehnte sich nach Nähe und je mehr sie sich von ihrem Mann zurückzog, desto größer wurde der Drang nach Liebe, Zärtlichkeit und Abenteuer. Doch all das war mit ihrem Mann nicht mehr möglich. In den Nächten träumte sie von romantischer Liebe, von Jünglingen mit wallendem Haar, von wilden Orgien, den Küssen einer Frau, von freiem Fall und haltloser Raserei. Doch ihr Alltag war grau und leer und ihre Einsamkeit drohte sie endgültig zu zerfressen.

Die Affäre mit Frederic fühlte sich für Lisa wie ein Gefängnisausbruch an. Sie hatte eines Abends begonnen, als sie beide Überstunden nachholten und sich im Kopierraum näher gekommen waren. Frederic hatte sie schon immer interessiert. Er war Mitte vierzig, nicht hübsch, aber auf eine geheimnisvolle Weise faszinierend, die sie nicht erfassen konnte. Schon seit vielen Jahren herrschte ein entspanntes Verhältnis zwischen ihnen und es kam oft vor, dass Lisa bewusst mit ihm flirtete, oder sich auf einen Flirt seinerseits einließ. Sie hätte sich nie zu träumen gewagt, dass es einmal so weit gehen würde. Als sich ihre Lippen im sterilen Licht der Neonröhren das erste Mal berührten, hätte sie am Liebsten laut losgeschrien vor Erregung. Sie wusste, dass sie etwas Verbotenes tat, doch sie fühlte sich zu gut dabei, als dass sie es an Ort und Stelle hätte bereuen mögen. Ihr Mann war in weite Ferne gerückt, so wie sie selbst, ihr altes, verkümmertes Ich, dass sie kaum mehr wieder erkannte.
Auf den ersten Kuss folgten abendliche Treffen in Restaurants und Bars, die meist in Frederics Wohnung, genau genommen in seinem mit seidenen Laken überzogenen Bett, endeten. Lisa entdeckte ihre Lust und Leidenschaft, die sie seit so langer Zeit in sich selbst vergraben hatte, erneut wieder. Kein Gedanke an Sandro verdarb ihr die Laune, kein schlechtes Gewissen ließ sie hadern. Sandro selbst schöpfte nicht den geringsten Verdacht. Seine Frau ließ ihn im Dunkeln, wo und mit wem sie ihre Abende verbrachte. Er machte sich zwar seine Gedanken, aber er wollte seine Frau nicht mit Fragen und Vorwürfen belasten, denn er sah, dass es ihr gut ging und das freute ihn. Die Abende allein zu Haus verbrachte er weiterhin vor dem flimmernden Fernseher. Ab und an telefonierte er mit seinem Sohn, dem es in seinem neuen Job gut erging. Meist schaute er Dokumentationen über historische Persönlichkeiten oder naturwissenschaftliche Phänomene und sozialkritische, politische Zusammenfassungen, aber auch Filme und Krimis. Oft schlief er im flackernden Licht der Bilder ein, träumte wild von Farben und Formen. Wenn er erwachte, schaltete er schlaftrunken den Fernseher aus und ging dann in das Leere Bett, das ihm ohne seine Frau kalt und hart erschien. Manchmal lag er noch lange wach und dachte an Lisa, wie sie früher war. Er lächelte dann und sein Herz schlug für kurze Zeit schneller. Wenn er dann endlich in Schlaf gesunken war, waren seine Träume leer.

So vergingen viele Monate. Die Affäre zu Frederic wurde zu einer tiefen, vertrauten Beziehung und Lisa erlebte einen unverhofften Frühling des Glücks, mit dem sie nicht mehr gerechnet hatte. Wenn sie, was immer seltener der Fall war, zu Hause bei ihrem Mann schlief, lauschte sie lang seinem tiefen, entspannten Atmen, während sie in den dunklen, sternenbeleuchteten Himmel starrte.
Das Leben ist so kurz und schmerzvoll, dachte sie einmal, die Menschen rauschen wie Fernsehbilder an einem vorüber, Liebe verblasst und erblüht erneut. Wir sind alle nur kleine Kinder, die niemals wirklich erwachsen werden.
Eines Morgens, ihr Mann schlief noch fest, erwachte sie aus wirren Träumen. Ein schmerzlicher Pfeil steckte in ihrer Brust und ein Gefühl der Schuld bemannte sich ihrer. Sie betrachtete Sandro, als wäre er tot, ermordet durch ihre Hand. Dann küsste sie ihn und flüsterte: „Du warst ein guter Mann, ich liebe dich.“
Am Abend desselben Tages, als Frederic in ihr war und sein Gesicht in ihrem Haar vergrub, waren alle dunklen Wolken, die ihre Seele verhangen hatten, fort. Sie schloss die Augen und genoss die Wärme seines Körpers, seine Zügellosigkeit und Hingabe. Und als er kam, sich keuchend neben sie gelegt hatte und in einen leichten Schlummer der Erschöpfung gefallen war, beschloss sie, ihrem Mann die Wahrheit zu sagen.

Wie es oft im Leben ist, fallen zwei außergewöhnliche Ereignisse manchmal auf denselben Augenblick, als hätte sie eine unsichtbare Hand zusammengeführt. Manche nennen es Schicksal, andere wiederum Zufall. Welche Macht ihre Finger im Spiel hatte, als Lisa und Sandro nach vielen Jahren das erste Mal wieder miteinander sprachen, darüber kann nur spekuliert werden. Fakt ist jedoch, dass sich das Gespräch vollkommen anders entwickelt hätte, wäre es nicht genau an jenem Tag im Juni geführt worden, jenem Tag, der für Lisa stets unvergesslich sein würde.
Es war ein Freitag gewesen. Als Lisa in Frederics Bett die Augen aufschlug, registrierte sie als erstes den Regen, der unaufhörlich gegen das Fenster der Dachschräge über ihnen prasselte. Sie betrachtete die Schlieren, die sich wie kleine Bäche einen Weg über das Glas suchten und ihr Herz schlug schneller, als sie an das bevorstehende Gespräch mit ihrem Mann am Abend nachdachte.
„Wir müssen reden“, hatte sie gestern Abend am Telefon zu ihm gesagt. „Es ist wichtig.“
Sie hatten sich für Neun Uhr am Abend verabredet. Lisa wusste genau, wie sie anfangen würde. Sie hatte sich alles genau ausgemalt, wie sie am Küchentisch sitzen würde, wie Sandro sie erwartungsvoll ansehen und sie schließlich mit ruhiger Stimme mit dem Sprechen beginnen würde: „Es tut mir Leid, Sandro, dass ich keine gute Ehefrau mehr für dich sein kann. Aber es gibt da jemanden, den ich sehr gern habe und der mir all das gibt, was du mir nicht mehr geben kannst. Ich war so oft allein in den Jahren mit dir und du hast nie etwas getan, was mir geholfen hätte. Du warst einfach immer nur da und hast nichts gesagt. Du bist wie ein Schatten um mich herum geschlichen, während ich innerlich verwelkte. Ich kann dir keine gute Ehefrau mehr sein. Deshalb verlasse ich dich. Unsere Zeit ist vorüber.“
Dann würde sie aufstehen und ihn umarmen und sich bei ihm für die schöne Zeit und die Familie bedanken, die sie durch ihn geschenkt bekommen hatte; sie würde ihm sagen, dass sie jederzeit für ihn da wäre, wenn er bei irgendetwas ihre Hilfe benötigen sollte, sie würde ihm empfehlen, alles erst einmal sacken zu lassen und sich über die Situation klar zu werden. Sie würde ihm versichern, dass die Scheidung schnell und einfach von Statten gehen würde, dass sie sich um alles kümmern werde und er sich auf sich selbst konzentrieren solle.
Dann würde sie gehen und endlich frei sein. Dann würde sie zu Frederic gehen, ihn küssen und ihm sagen, dass alles vorbei sei.
Doch es kam anders. Sie hatte nur ihre Seite des Mondes beleuchtet.

„Ich habe CMML. Ich werde sterben.“
Mit diesem Satz hatte ihr Gespräch begonnen und es war Sandro gewesen, der ihn ausgesprochen hatte. Lisa war verstört, wie vor den Kopf geschlagen. Sie schüttelte den Kopf und setzte sich mit in Falten geworfener Stirn zu ihrem Mann an den Küchentisch.
„Augenblick.“, warf sie mit zitternder Stimme ein. „Das ist nicht das, worüber ich mit dir sprechen wollte, Sandro.“
„Ich war heute bei der dritten Untersuchung. Sie wissen es mit nun mit Gewissheit.“
Lisa schwieg, versuchte, einen Ast zu ergreifen, während die Strömung sie immer stärker ins Ungewisse zerrte.
„Was redest du da?“ fragte sie, jetzt mit festerer Stimme, in die sich etwas Zorn gemischt hatte. „Ich verstehe kein Wort.“
„Chronische myelomonozytäre Leukämie. Das bedeutet CMML. Die Ärzte sagen, dass diese Form des Blutkrebses in der Regel bei älteren Menschen ab fünfundfünfzig eintritt. Ich sei ein Sonderfall, sagten sie.“
„Blutkrebs?“ murmelte Lisa, nun sichtlich geschockt. Das konnte doch alles nicht wahr sein, dachte sie. Wie konnte er ihr das jetzt antun? Gerade jetzt? Warum gerade jetzt?
„Ja. Bei richtiger Behandlung kann ich aber noch gut vier bis fünf Jahre leben, sagen sie. In meinem Alter sei die Gefahr nicht so groß, dass ich die Behandlung nicht verkrafte. Es gibt da eine gute Klinik, die sich auf Knochenmarks- und Bluterkrankungen spezialisiert hat. Ich habe auf 3sat mal eine Dokumentation darüber gesehen. Ist wirklich toll dort, man wird da fabelhaft behandelt und die meisten Patienten leben noch viele Jahre länger, als es ihre Prognosen vorhergesehen haben. So wie ich das verstanden habe, ist CMML bei guter Behandlung eigentlich eine harmlose Variante der Leukämie. Alles in allem hätte es mich schlimmer treffen können.“
Lisa sammelte sich. Das Karussell in ihrem Kopf drehte sich so schnell im Kreis, dass sie die einzelnen Fahrzeuge nicht mehr erkennen konnte. Es war ein rauschender Kreisel aus farbigen Blitzen, die sich durch ihren Körper schnitten und ihr Herz in Flammen aufgehen ließen.
„Es tut mir so leid, dass ich dir erst jetzt von meiner Krankheit erzähle. Ich wollte dich nicht belasten, vor allem, weil die Testergebnisse ja noch ausstanden und ich nicht mit Gewissheit sagen konnte, ob es was Ernstes ist.“
Sandro griff nach Lisas Hand, doch sie entzog sie ihm. In ihren Augen sammelten sich Tränen.
„Du kamst mir so glücklich vor in den letzten Monaten, Lisa.“ Sandro lächelte unsicher. „Ich wollte dich nicht verstören. Es tut mir leid, dass das alles jetzt so plötzlich gekommen ist.“
„Ach, Sandro…“ Lisa spürte, dass sie die Situation nicht mehr lange ertragen konnte. Tränen liefen ihr durchs Gesicht. Ihre Stimme zitterte. Sandro reichte ihr ein Taschentuch.
„Wir schaffen das schon.“, fuhr er fort. „Du wirst sehen, alles ist halb so wild.“
Lisa schüttelte den Kopf. Für einen Moment erschien ihr die Möglichkeit, einfach aufzustehen und wegzurennen als eine vernünftige Entscheidung, doch sie blieb, wo sie war. Sie atmete tief ein und wieder aus. Dann blickte sie ihrem Mann tief in die Augen. Sie wusste, dass es vorbei war, vorbei sein musste. Sie wusste, dass es nur eine Lösung gab. Das Leben, das Schicksal, der Zufall hatte ein Spiel mit ihr gespielt und sie hatte verloren. Das Karussell wurde langsamer, immer langsamer, bis es schließlich still stand und die bunten Lichter erloschen, alle Farben verblassten und endlich Ruhe herrschte. Frieden.
Sie lächelte.
„So viel zu mir.“, schloss Sandro und erwiderte ihr Lächeln. „Aber was wolltest du mir denn eigentlich sagen? Du klangst so traurig am Telefon.“
Jetzt war es Lisa, die Sandros Hand ergriff. Ihre Augen glänzten vor Tränen, doch das Lächeln leuchtete noch immer aus ihrem Gesicht.
Sie wusste, dass es nur diese eine Lösung gab.
Das Leben ist so kurz und schmerzvoll, die Menschen rauschen wie Fernsehbilder an einem vorüber, Liebe verblasst und erblüht erneut. Wir sind alle nur kleine Kinder, die niemals wirklich erwachsen werden.
„Ich liebe dich.“, sagte sie und ihr Herz wurde leicht. „Ich liebe dich und ich will bei dir sein, egal wohin du gehst.“

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