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Montag, 18. November 2013

Weißabgleich

Feierabend. Ich sitze in der Bahn und starre auf mein Smartphone. Seite wird geladen... ich weiß gar nicht mehr, was ich eben in das Google-Suchfeld eingegeben hab. Ist ja auch egal, geht ja nur darum, die Zeit zu überbrücken. Die Langeweile, das graue Nichts zwischen Arbeit und Zuhause. Draußen ist es schon dunkel. Es regnet. Es ist kalt.
Die Seite öffnet sich, ah ja, genau, die Sitzgarnitur, die meine Freundin haben wollte. Ich scrolle runter und fange an, die Amazon-Bewertungen zu lesen:

Mein Mann und ich sind total zufrieden mit der Sitzgarnitur. Wir hatten uns schon seit längerem für das Duo-Set entschieden, wollten aber noch bis nach unserem Teneriffa-Urlaub warten, falls es zu Lieferengpässen kommen sollte. Der Versand über Amazon verlief jedoch wie gewohnt reibungslos und...

Ich scrolle weiter. Der Kunde Ludwig S. schreibt:

Die Polster sind zwar nicht aus hochwertigem Material, aber durchaus bequem und nicht zu weich. Die Rückenlehne ähnelt sehr dem Härnösand-Modell von Ikea, das wir auch in der engeren Auswahl hatten. Es passt sich ergonomisch an die Wirbelsäule an und ist im Vergleich zum Härnösand etwas härter, was dem Sitzkomfort allerdings eher zu Gute kommt als...

Ich scrolle weiter, schaue kurz aus dem Fenster, sehe nichtssagende Gesichter, die im grellen Licht der U-Bahn-Haltestelle farblosen Masken ähneln, dann schaue ich wieder auf mein Handy. Die Seite kotzt mich an und ich gehe zurück zu Google. Ich überlege kurz, dann gebe ich "Sinn des Lebens" ein. Ich öffne den ersten Link, Wikipedia, der Bildschirm wird weiß, die Seite wird geladen.
Hinter mir fängt plötzlich ein Mann an zu telefonieren. Ich starre auf das weiße Display meines Handys bin aber mental bereits in der Welt des Fremden, den ich nicht sehen, sondern nur hören kann. Er scheint mit einem Freund zu telefonieren. Er klingt irgendwie traurig, nein, eher entrückt und lethargisch. Obwohl er so langsam und monoton spricht, zieht mich seine Stimme in den Bann. Ich werde den Eindruck nicht los, dass er zu mir spricht, zu allen in der Bahn, dass er uns auf eine seltsam ironische Weise etwas sagen will. Interessant..., denke ich. Ich höre zu und vergesse das Handy.

 "... Ich war eben da. Sie sieht aus wie immer. Sie hat gelächelt, als ich in das Zimmer kam. Ihre Augen waren ganz rot. Wir haben eine Weile über Belangloses geredet, dann fing sie mit dem Thema an. Das es ungerecht ist, warum es ausgerechnet sie treffen musste, warum Gott so etwas zulässt und warum alle einfach weiter machen, obwohl sie wissen, dass es keine Ordnung, keine Gerechtigkeit, keinen Sinn im Leben gibt und so weiter. ... Ja. ... Nein, das hat sie nicht gesagt. ... Ich weiß es nicht... Nein, ich werde nicht mehr zu ihr fahren.
Hör zu, ich hatte den ganzen Tag dieses Gefühl, diesen Druck, verstehst du, dass ich etwas leisten muss, dass ich mich öffnen muss, dass ich nicht länger verdrängen kann. Auf der Fahrt zum Krankenhaus habe ich mir vorgestellt, wie ich sie in meine Arme nehme, wie ich anfange zu weinen, mich nicht mehr halten kann und alles vergesse. Wie damals, du weißt schon... Aber da war nichts dergleichen. Ich bin nicht traurig, ich bin nicht unsicher, ich halte das Leben nicht für ungerecht. Das Leben ist mir egal, der Tod ist mir auch egal. Was passiert, passiert eben, was kann ich dafür? Warum soll ich von allem ein Teil sein? Niemand ist ein Teil von irgendetwas.
Als sie da eben vor mir saß und geheult hat und die Welt und alles verteufelt hat, weißt du, woran ich da gedacht hab? An meinen Fernseher hab ich gedacht. Das ich dringend mal einen Weißabgleich machen sollte, weil mir letztens bei Game of Thrones aufgefallen ist, dass meine Einstellung einen leichten Rotstich hat. Ich musste während der ganzen Folge darauf achten, konnte mich kaum auf die Handlung konzentrieren, hab überall dieses Rot gesehen. Bin fast verrückt geworden. Ich hab mir dann vorgenommen, mir die Tage mal Zeit für die Einstellung zu nehmen und dann passiert sowas und ich muss ins verdammte Krankenhaus fahren und mir das dämliche Geleier anhören, das Menschen nun mal von sich geben, wenn sie in ihren illusionären Grundfesten erschüttert werden, weil wieder mal jemand gestorben ist oder sonst was und so weiter. Verstehst du, ich war genervt, statt traurig, hab meine Rolle gespielt und war innerlich weit, weit weg. Das, das... ja... nein, so ist das nicht...
Es geht mir nicht darum, mich selbst zu schützen. Ich brauche keinen Schutz. Ich kenne die Existenz, ich weiß, dass ich nichts weiß, ich weiß, dass der Tod sinnlos ist und dass es keine Ordnung in den Dingen gibt. Wovor soll ich also noch Angst haben? Dass mich ein Auto erfasst, dass ich ausgeraubt und totgeprügelt werde, dass mein Haus abbrennt, meine Tochter stirbt, die Erde von einem Meteoriten in Stücke gesprengt wird? Nein, ich hab keine Angst. Das Leben ist mir gleich, ich mache einfach weiter, Tag für Tag, immer wieder gibt es neue Aufgaben zu erledigen, warum soll ich mir Gedanken um den Tod machen? ... Jetzt fahre ich nach Hause, mach mir was zu Essen und nehm´ mir dann Zeit für den Weißabgleich. Morgen ist ein neuer Tag und übermorgen auch und immer gibt es was zu tun. Dinge tun, da sein... Das ist der einzige Sinn den wir Menschen brauchen. ... Was? ... Natürlich nicht. Ich hab ihr gesagt, dass das alles wieder wird und sie nach vorne schauen soll und so. ... Klar, hab ich das... Nein, das wäre mir zu anstrengend gewesen, soll sich ein Psychologe darum kümmern...
Als mein Sohn damals gestorben ist, hab ich genauso einen Scheiß von mir gegeben. Alle wollten mir helfen, aber es gibt keine Hilfe für so was. Menschen tun nur so, als wollten sie helfen, aber im Grunde können sie es nicht, nie. Man muss akzeptieren, dass das Leben ein Mysterium ist, das mit unseren beschränkten Mitteln nicht erfasst werden kann. Liebe, Wut, Trauer, das sind doch alles nur hormonelle Vergänglichkeiten. Was zählt, ist die Gegenwart, immer die Gegenwart, was du tust, was du sagst, genau in diesem Moment. Der Rest ist Nonsens, Ballast, der uns davon abhält, so zu sein, wie wir sind. ... ... Das ist mir auch egal, dann halt mich doch für pessimistisch, nihilistisch, wie auch immer... wen kümmert das? ... Häh? ... Ja, genau... Ja... Ha, ha, du Witzbold... Hehe... Hehehaha, du bist so ein Komiker, hehe... Ja, Rotstich, genau. Ist mir erst letztens aufgefallen, wie gesagt, bei Game of... ja, klar, mit maximaler Auflösung. Nee, 3D guck ich ja gar nicht mehr, daran liegt das nicht. ... Cool, wie heißt die Seite? ... Ja, alles klar, mach das... ... mach das... Ok, ok. ... Ja, ich bin in zwanzig Minuten zu Hause, dann ruf ich nochmal an wegen der Einstellung, am besten schickst du sie mir auf meine gmail-Adresse, dann hab ich sie direkt auf dem Handy. Alles takko mein Freund, danke dir. Ich meld´ mich später. Jup, bis dann, ciao..."

Ich höre wie der Mann aufsteht, ich kann ihn schemenhaft im Fenster der Fahrerkabine erkennen. Grauer Mantel, kurze Haare, Mitte vierzig vielleicht. Nichtssagend, wie die Masken da draußen. Er verlässt die Bahn an der nächsten Haltestelle. Ich widme mich wieder meinem Smart-Phone. Was hatte ich eben nochmal bei Google eingegeben? Ah ja, richtig, der Sinn des Lebens.
Die Seite kotzt mich an.
Ich gehe zurück zu Google und gebe Samsung UE46F6470 Weißabgleich in das Suchfenster ein...