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Donnerstag, 21. April 2016

Sollen die Bomben nur fallen


Ich muss Leistung bringen. Leistung bringen. Leisten.
Wer nichts leistet, ist nichts wert.
Nichts.

18:49 Uhr. Das Zeiterfassungssystem verbucht meine Zeit. Das schrille Piepsen läutet den Feierabend ein. Ich bin frei, denke ich. Die Fesseln lösen sich. Das Leben gehört wieder mir. Mein Körper gehört wieder mir. Meine Seele.
Für ein paar Stunden zumindest. Ein paar Augenblicke ohne jemand anderem zu gehören. Die freie Zeit ist rar, denke ich. Die Augenblicke sind kostbar, denke ich. Ich muss sie nutzen; sie ausquetschen, allen Saft. Nichts darf daneben gehen, dass Glas muss voll werden. Ich will nicht auf ein Leben zurückblicken, das nur aus Fesseln und halb gefüllten Gläsern bestanden hat.

Also los! Auf in die Freiheit!

Doch zunächst heißt es: Warten.
Warten auf den Aufzug, der auf jeder Etage hält. Es steigen graue Gesichter ein, alle frei und doch so müde. Leere überall, doch der Drang nach Leben ist noch nicht erloschen.
Warten auf den Bus, in dem die glasigen Blicke aneinander vorbeiziehen. Geister auf dem Weg ins Vakuum, dem luftleeren Raum zwischen den Ketten.
Warten auf die Bahn, die sich verspätet, wie jeden Tag. Wohin mit der Zeit?, denke ich. Sie rinnt mir zwischen den Fingern fort, entgleitet mir wie Sand im Wind. Die Haltestelle füllt sich mit meinesgleichen: getriebene Gespenster, rastlose Untote, die alles gegeben, alles geleistet haben.
Es dauert zu lang, denke ich. Ich muss etwas tun! Ich muss leben, muss etwas spüren, sonst ist es um mich geschehen. Die Reklame lockt. Die Farben, die mir versprechen: Es gibt das wahre Leben, es gibt all das, wonach du suchst! Komm und nimm es dir! Dafür die tägliche Schinderei, lass es dir gut gehen, belohne dich für deine Opferbereitschaft.

Ich folge den Farben, wähle meine Ware, genieße, wie sie mir kühl und prickelnd die Kehle hinab rinnt, mich erfüllt mit Leben. Das Grau verschwindet, das Übel der Welt ist weit, weit fort. Sollen die Bomben doch fallen, ich sehe sie nicht, höre sie nicht. Die Schreie des Elends, wo sind sie jetzt? Die Welt ist in Ordnung, hier und jetzt. Alles ist gut, hier und jetzt. Gespenster um mich herum, komm, lacht mit mir. Lebt eure Freiheit, haltet ihn fest, den Sand im Wind, denn er gehört euch, euch allein!
Die Bahn kommt endlich und bringt mich näher an mein Ziel. Ich folge dem Pfad der Farben, es ist nicht schwer, verloren zu gehen. Ich schließe die Augen, träume vor mich hin. Von Liebe, vom Lachen, von Musik und Leidenschaft.

Zu Hause angekommen schalte ich den Fernseher ein. Tod hier, Zerstörung da; man muss nur gewillt sein, sich Sekundenbruchteile der Wirklichkeit anzutun, bis man endlich einen Platz gefunden hat, an dem die Farben wieder zu leuchten beginnen. Ich bin der König und die Fernbedienung ist mein Zepter. Mein Wille geschehe.
Doch dann zerreißt etwas Unvorhergesehenes meinen Traum. Das Telefon, ein Jemand bittet den König um Audienz. Der König ist guter Dinge, er gewährt Einlass und hört zu.
Ach, das Leben sei so traurig und die Welt so schlecht, heißt es am anderen Ende der Leitung. Menschen sterben und der Tod sei ohne Sinn. Man trete auf der Stelle, sei unzufrieden mit diesem und jenem, zweifele an allem und jedem und vor allem an sich selbst. Man sei nicht gut genug für dies und nicht gut genug für das. Aber die anderen seien auch nicht besser. Und hinzukommen wieder die Bomben, die fallen, Tag für Tag. Wie soll man nur in einer solchen Welt sein Glück finden, wird gefragt.
Doch der König mimt nur den gewissenhaften Zuhörer. Seine Aufmerksamkeit ist längst entrückt im Tanz der Farben. Was kümmern ihn die Bomben, die fallen, Tag für Tag. Sie fallen nicht hier, nicht jetzt. Vielleicht fallen sie auch niemals und nirgendwo. Vielleicht sind sie nur eine Lüge, wie so vieles Lüge ist in dieser Welt.
Die Stimme wird leiser; der König ruhiger. Er lächelt, das digitale Flimmern entzückt seine schläfrigen Augen, die Farben erhellen seine geschundene Seele.
„Mach`s gut.“, höre ich mich sagen, lege den Hörer weg und lasse das Flimmern und Gleißen über mich ergehen.

Am Abend im Bett kann ich nicht schlafen. Das dumpfe Gefühl, sie nicht genutzt zu haben, die Zeit, die Freiheit, hält mich erneut wach, wie jede Nacht. Das Leben ist so traurig, denke ich, und die Welt so schlecht. Und ich meine, die Bomben wieder fallen zu hören, weit entfernt, doch ja, die dumpfen Einschläge sind nicht zu überhören.
Die Farben sind nur noch ein Glimmen, eine schwache Glut eines nie in Gänze entfachten Feuers.
Ich muss schlafen, muss leisten, muss bereit sein für die Ketten morgen. Muss schlafen, muss leisten, die Ketten morgen, die Ketten.
Ich schlafe ein und träume von Terror. Jetzt kann ich sie sehen, die Bomben, die fallen und alles vernichten. Und es hat etwas Tröstliches. Ich breite die Arme aus und starre in den von roten Wolken zerrissenen Himmel. Dann schließe ich die Augen und warte.
Warte darauf, dass mich die Bomben treffen und meine Ketten in Fetzen sprengen.