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Mittwoch, 12. März 2014

Ego

"Ich habe den größten Teil meines Lebens damit zugebracht, jemand zu sein, der ich nie sein wollte." Der alte Mann nippt an der Kaffeetasse, aber der Kaffee scheint ihm nicht zu schmecken. "Immer musste ich jemand darstellen, musste eine Rolle spielen. Für meine Eltern, meine Freunde, meine Frau, meine Kinder, meinen Chef, meine Nachbarn... für mich selbst."
Ich betrachte sein von tiefen Falten zerfurchtes Gesicht. Er sieht aus wie ein grauer Fels, kalt und roh. Und doch wirkt er wie ein verlorenes Kind, einsam und verstört. Er blickt mich mit seinen leeren Augen an, ich nehme ein Lächeln wahr, auch wenn es unsichtbar ist.
"Du bist noch jung.", sagt er und nickt dabei wissend. "Du hast noch Hoffnung. Für mich ist das Schauspiel bald vorbei. Keine Texte mehr, keine leeren Gesten. Mein Herz wird bald aufhören zu schlagen... und das Seltsame daran ist, dass es mir wie das Herz eines Fremden vorkommt."
Ich blicke auf seine ledrigen Finger hinab, die die Kaffeetasse umklammern, stelle mir vor, was diese alten Hände alles erlebt haben, die Dinge, die sie verrichtet, die Zärtlichkeit, die sie gespendet, den Schmerz, den sie verursacht haben in all den Jahren ihres Daseins.
"Höre nicht auf die Stimme in dir, Junge.", fährt der Alte fort. "Das Ego ist eine schwere Last und ein großer Lügner noch dazu. Es blendet dich, verlangt Dinge von dir, die du gar nicht willst, verlangt Dinge von den Menschen, die du liebst. Es fordert ein, dabei gibt es im Leben gar nichts einzufordern. Das Leben ist ein Geschenk, es ist mehr wert als aller Besitz, den wir zu Lebzeiten erreichen können. Wer sind wir, von anderen zu fordern? Von uns selbst? Wer bin ich, dass ich immer behauptet habe, mir selbst treu zu sein, "Ich selbst" zu sein, ein "Ich" zu sein?" Der alte Mann schließt die Augen und schüttelt unmerklich den Kopf. "Wir werden zu Staub, zerfallen in winzige Atome, werden Teil von etwas Neuem. Da ist kein Ich mehr, kein Ego, dass uns sagt, was wir brauchen, was wir wollen, wer wir sind und was die Anderen zu tun haben. Es wird auch keine Anderen mehr geben, wenn wir einmal zerfallen sind. Wir werden alle eins, werden zu Materie im All, sind es jetzt schon; Materie... nicht mehr als Materie in einer sich wandelnden Form."
Der Alte trinkt seinen Kaffee und starrt durch das Fenster in die verregnete Welt. Ich folge seinem Blick. Der Regen beruhigt mich.
Wir schweigen eine Weile, atmen, lauschen den Gesprächen der Menschen um uns herum. Ich warte darauf, dass der Alte erneut zu sprechen beginnt, aber er schweigt. Vielleicht hat er nichts mehr zu sagen, vielleicht ist er auch einfach nur müde. Seine Augen sind glasig und leer. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass er in Gedanken weit fort ist, vermutlich in seiner Vergangenheit, einer nie verarbeiteten Erinnerung hinterher stolpernd, im klebrigen Netz der Reue gefangen, wie eine Fliege in den Fäden einer Spinne.
Ich beobachte ihn neugierig, den kalten, grauen Fels. Dann, plötzlich, beginnt er zu lächeln und Tränen glitzern in seinen Augen. Erinnerung an glücklichere Zeiten?

Die letzten Stunden, sie atmet schwach, sie schaut mich an - ich liebe sie so sehr! - der erste Kuss, die erste Nacht, Geburt, Geburt - ich bin Vater! - das Baby in meinen Armen, ihr Lächeln, so wunderschön...
Jahre später, ich schlage den Jungen, bin wütend, so wütend! Er soll tun, was ich sage, soll tun was ich tue! Soll werden wie ich, soll sein wie ich, damit die Leute sagen: "Ganz wie der Vater!"...
Der erste Freund, die Tochter fleht, ich sage Nein, sage Nein, sage immer wieder Nein, doch sie tut es trotzdem, heimlich, Verrat! Verrat! Ich schmiede Pläne, sie kommt heim, Ich hab´ euch gesehen! Lüg´ mich nicht an! Ich schüttle sie fest, sie weint, sie schreit, dann Schmerz, der Junge, er beschützt seine Schwester... Vor mir! Vor mir... ich sinke in den Sessel, starre meine Hände an, meine Hände, meine Werkzeuge, sie tun was ich sage, sie tun was ich will. ICH!
Der Köter bellt, ich kann nicht fernsehen, der Köter, der Köter, immer der Köter. Ich gehe hinaus und binde ihn fester an, er kläfft, er knurrt - Nicht mit mir! - Ich zeige ihm, wer der Herr ist, zeige ihm, wer über ihm steht, trete, schlage, ja, Schmerzen sollst du spüren!
Ich sitze im Sessel, starre den Fernseher an, höre den Köter winseln, schlecht, schlecht - Ich bin so schlecht! - ich gehe hinaus, der Köter bellt, er knurrt, er sabbert, ich hasse ihn, HASSE IHN!
Das Trinken, das Trinken, der Alkohol beruhigt, der Alkohol stellt ruhig. Wo ist die Frau? Warum ist sie nicht daheim? Ständig außer Haus, wo bleibt die Hure, bleibt das Miststück? Lässt sich´s besorgen von Peter, Peter, wie er in ihren gierigen Leib stößt, mit höhnischem Grinsen im Gesicht, ich stehe auf, fahre los, werde sie finden, sie finden, sie und Peter, eng umschlungen, werde sie auf frischer Tat...
Blut an meinen Händen, ich schlage sein Gesicht, schlage zu wie auf einen Sandsack, Polizei, Peter im Krankenhaus, nie wieder laufen, wird nie wieder laufen... geschieht ihm recht! - Es tut mir so leid, ich bin schlecht, schlecht, SCHLECHT! - warum bin ich so, wie ich bin? Wer bin ich, warum bin ich nicht anders? Ich hasse mich, hasse mich. Immer Ich, warum kann ich nicht vergessen. Immer Ich, immer Ich, immer Ich, Ich...
Sie stirbt in meinen Armen - ich liebe dich so sehr! - der erste Kuss, die erste Nacht, Geburt... und Tod, sie ist tot - Ich muss die Familie informieren, Beerdigung organisieren, die Kinder! Wie sage ich es den Kindern... keine Zeit, muss Beerdigung organisieren...
Ihr Grab, die Kinder haben keine Zeit, Arbeit, Arbeit, sind immer beschäftigt. Ich komme jeden Tag, bringe Blumen, küsse, küsse, küsse dich, ach wenn ich dich doch nur noch einmal küssen könnte, du fehlst mir so sehr, ich schäme mich für alles, was ich dir angetan habe, ich schäme mich... schäme mich... Ich... Ich!
Die Tochter, sie weint, sie schreit "Ich hasse dich!", sie schlägt mich, sie weint, sie weint, sie schreit. Der Junge, ganz anders, ist nicht wie ich, ganz anders, so fremd. Auch er hasst mich, sagt nichts, sagt nichts. Der Junge, mein Junge, ist so anders als ich, ganz anders als ich... ich... Ich!
Er sitzt hier vor mir, schaut mich an, mein faltiges Gesicht, mein Gesicht, mein Ich.
Er sitzt vor mir und lächelt mich an, mein faltiges Gesicht, mein Ich.
Ich liebe ihn so sehr... liebe ihn so sehr. Ich... liebe... lebe... sterbe...
Ich schaue aus dem Fenster, in den Regen, den immer währenden Regen. Schaue hinaus und lächle. Bald bin ich fort. Bald bin ich... ich... ich... kein Ich, kein Ich mehr. Bald bin ich endlich frei. Kein Ich mehr. Kein Ich. Bald bin ich endlich frei. Ich... Ich...

Wir schweigen eine Weile, atmen, lauschen den Gesprächen der Menschen um uns herum. Ich warte darauf, dass der Alte erneut zu sprechen beginnt, aber er schweigt. Vielleicht hat er nichts mehr zu sagen, vielleicht ist er auch einfach nur müde. Seine Augen sind glasig und leer. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass er in Gedanken weit fort ist, vermutlich in seiner Vergangenheit, einer nie verarbeiteten Erinnerung hinterher stolpernd, im klebrigen Netz der Reue gefangen, wie eine Fliege in den Fäden einer Spinne.
Ich beobachte ihn neugierig, den kalten, grauen Fels. Dann, plötzlich, beginnt er zu lächeln und Tränen glitzern in seinen Augen. Erinnerung an glücklichere Zeiten?
Nein, denke ich. Das sind keine Tränen des Glücks.
Ich sehe nur salziges Wasser.
Atome, in einem Meer von Atomen, in einem unendlichen Kosmos von Atomen.
Materie, wie sie vergeht und in etwas anderem neu entsteht.
Kein Vater, nur Fleisch. Keine Reue, nur Wasser.
Wer bin ich, dass ich mehr fordere?
Wer bin ich?
Ich?