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Donnerstag, 3. April 2014

Das Leben ist gut

Ich fühle nichts. Denke an nichts. Begehre nichts.
Es ist wunderbar.
Kein Schmerz, keine Traurigkeit, kein Verlangen nach Liebe, kein Verlangen nach Erfüllung.
Ich nehme die Welt wie durch Watte wahr. Ich bin umgeben von Watte, alles bleibt in ihr hängen, nichts erreicht mein Herz, meine Seele.
Wenn ich falle, spüre ich nichts.
Die Worte der Anderen sind Geräusche, nicht mehr. Die Gesten der Anderen sind simple Bewegungen, aus dem Augenwinkel betrachtet, unbedeutend, ohne tieferen Sinn.
Ich nehme die Welt wie durch Watte wahr.
Wie durch Watte.
Watte.
Ich bin glücklich...
...und spüre es nicht.

13 Uhr, Zeit für die Tabletten. Ich schlucke die blaue und dann die rote.
Sie steht vor mir und schaut mir dabei zu. Sie sieht traurig aus. Warum ist sie traurig? Das Leben ist so wunderbar. Warum ist sie traurig? Alles ist gut.
"Schau nicht so.", sage ich nüchtern. "Du weißt, dass ich das brauche."
Sie wendet ihren Blick ab, aus dem Fenster, in den Regen.
"Ich bin krank. Du weißt das, Marie." Meine Stimme klingt fremd, als gehöre sie jemand anderem. "Willst du, dass es wieder so wird wie früher? Vor der Therapie? Willst du das, Marie?"
Sie schüttelt den Kopf. Sie wird gleich weinen. Ich erkenne es an dem nervösen Zucken, das ihre Mundwinkel umspielt.
"Es geht mir besser durch die Tabletten." Ich folge ihrem Blick in das graue Nass draußen hinter der Glasscheibe. "Uns geht es besser..."
Sie nickt. Sie weint, ihre Augen glänzen. Ich sollte etwas tun, sollte sie umarmen, sollte sie trösten.
Ich tue nichts.
Sie wendet sich ab und geht ins Bad. Ich höre sie schluchzen, hinter der Tür, obwohl sie den Wasserhahn aufgedreht hat, um es zu übertönen. Ich sollte etwas tun, sollte sie beruhigen.
Ich tue nichts.

Später, am Abend. Wir sitzen vor dem Fernseher. Mir gefällt, was ich sehe, auch wenn es mich nicht interessiert. Farben, Menschen. Menschen die reden. Ununterbrochen. Menschen reden ununterbrochen. Ich lausche den Geräuschen, keine Worte, nur Laute. Mir gefällt was ich höre, auch wenn ich es nicht verstehe.
Marie schaltet um. Nächster Kanal, nächster Kanal, nächster und nächster und nächster.
Mir gefällt was ich sehe. Mir gefällt alles.
Ich spüre, dass sie mich anstarrt. Ich sollte ihren Blick erwidern, sollte sie küssen, ihr sagen, dass ich sie liebe.
Ich tue nichts.
Ich spüre, wie sie sich zu mir beugt, spüre ihren Atem auf meiner Wange, ganz sanft, wie durch Watte. Sie streichelt mein Gesicht, mein Haar. Wie durch Watte. Wie durch Watte. Mir gefällt was ich sehe. Was ist das da im Fernseher? Ein Elefant? Ein Mensch spricht. Er macht Geräusche. Der Elefant macht Geräusche. Ich nehme die Geräusche wahr, wie durch Watte. Marie küsst mich, sie streichelt meinen Körper. Wie durch Watte. Sie öffnet meine Hose. Wie durch Watte. Mir gefällt was ich sehe. Geräusche, Laute, Farben, Menschen, die sprechen und sprechen. Elefanten. Tiger. Wüste. Sonne. Marie weint wieder. Ich sollte sie trösten.
Ich tue nichts.

Wochen vergehen. Wir sprechen immer weniger miteinander, schließlich kaum noch, Schweigen immerzu, Schweigen immerfort. Wir sitzen vor dem Fernseher. Mir gefällt was ich sehe. Marie schaut hin, doch ihr Blick ist leer. Keine Küsse, keine Worte, ihre Hände bleiben bei ihr, ihre Gedanken sind weit fort im grauen Nirgendwo.
Mir gefällt was ich sehe.
Die Fernbedienung liegt auf dem Tisch. Niemand schaltet um, es spielt ohnehin keine Rolle. Das Programm ist beliebig, überall sind Farben, Geräusche, Menschen.
Mir gefällt was ich sehe.
Ich schließe die Augen, Zuckerwatte überall.
Zucker. Watte.
Das Leben ist gut.

Eines Tages ist sie fort. Kein Brief, kein Wort, nur Leere neben mir in unserem großen Bett. Ich schlucke die Pillen, erst die blaue, dann die rote. Ich sitze vor dem Fernseher, schwarzer Bildschirm, niemand da, der ihn anmacht, niemand da, der ihn bedient.
Mir gefällt was ich sehe. Jetzt, endlich, verstehe ich es.
Keine Menschen, keine Worte, keine Elefanten, nur Watte. Zuckerwatte überall, um mich herum, auf meiner Haut, meinem Haar, meinem Herzen.
Mir gefällt was ich sehe.
Später, am Abend, ich liege im Bett und starre an die Decke, die Risse in der Farbe, wie Adern, wie Äste, wie Flüsse durch ein farbloses Tal irgendwo im grauen Nirgendwo. Weiß wie Watte. Zucker. Watte.
Mir gefällt was ich sehe.
Ich schließe die Augen und denke an Marie. Kein Schmerz, keine Einsamkeit.
Ich vermisse sie nicht.
Das Leben ist gut.
Ich schlafe ein und träume von Elefanten.
Mir gefällt, was ich sehe.
Elefanten sind gut.
Das Leben ist gut. Endlich verstehe ich es. Der Fernseher ist aus für immer. Schwarz. Für immer. Leer für immer. Schweigen, für immer.
Schwarze Watte, irgendwo im grauen Nirgendwo.
Marie...
Das Leben ist gut.