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Dienstag, 8. September 2015

Vakuum


U-Bahn-Station. Ich stehe an den Gleisen und blicke in die endlose Schwärze des Tunnels. Es ist, als würde der Schacht meine Gedanken aufsaugen. Der Lärm um mich herum, das ewige Gezeter der Menschen, alles wird aufgesogen von der schwarzen Leere und zu Stille verarbeitet. Dort, im Dunkel, herrscht ein friedliches Vakuum.
Frieden. Vakuum. Stille. Vakuum.
Ich blicke hinunter zu meinen Füßen. Wie immer habe ich kurz vor der gelben Markierung Halt gemacht, der grelle Streifen, der sagt: „Pass auf!“. Der sagt: „Übertritt mich nicht, wenn dir dein Leben lieb ist!“
Mein Leben ist mir lieb. Lieb und teuer. Unbezahlbar teuer. Ich würde es niemals eintauschen. Für nichts. Für niemanden.
Was ist die Welt, wenn ich sie nicht erlebe? Nicht die Welt macht mich lebendig, sondern mein Lebendig-Sein ist es erst, das aus dem Nichts ein Etwas schafft. Galileo behauptet, die Erde drehe sich um die Sonne. Was für ein Irrsinn.
Die Erde dreht sich um mich herum. Ich bin die Sonne! Ohne mich herrscht Leere. Ohne mich...
Vakuum.
Der Gedanke an den Tod, das unweigerliche, unausweichliche Ende meiner Existenz hat mir schon immer Übelkeit bereitet. Und doch ist er da, ein ständiger Begleiter durch all die Augenblicke, die kommen und gehen. Ein Zug fährt ein, nicht meine Linie.
Es ist nur ein Schritt…
Nur ein Schritt. Warum beherrschen mich diese Gedanken so sehr?
Nur ein Schritt, das Quietschen der Notbremse, die Schreie der Zuschauer, der kurze Moment des Aufpralls – Gliedmaßen wie Papier durchschnitten, der Geschmack von Blut und… Leere. Das Ende der Welt. Die Sonne erlischt.
Nur ein Schritt, ein langer Fall, Schwerelosigkeit, das ungute Gefühl im Magen, keinen Boden mehr unter den Füßen zu spüren, dann – wieder der Aufprall, das Zerbersten von Knochen, der Geschmack von Blut, Schreie, dumpfes Entsetzen und… Leere. Nichts kreist mehr um Irgendetwas. Alles ist still.
Vakuum.


Aber so ist es nicht, nicht wahr? Niemand ist zugleich Mensch und Sonne, richtig? Wenn ich gehe, dreht sich alles wie gehabt um Irgendetwas. Alles dreht sich weiter, Erde um Sonne, Menschen um Gedanken, Gedanken um Augenblicke, kein luftleerer Raum. Alles atmet – und schreitet voran, jedes Geschöpf seinem unweigerlichen, unausweichlichen Ende entgegen.
So ist es doch, oder?
Du kennst die Antworten.


Jetzt, meine Bahn fährt ein. Durch den langen, schwarzen Tunnel wird sie mich sicher geleiten, nach Hause. Nach Hause.
Kein Schritt zu viel, kein Quietschen, kein Schreien, kein Geschmack von Blut, alle Knochen heil.
Es ist nur ein U-Bahn-Schacht, nicht mehr. Nur ein Tunnel, an dessen Ende Tageslicht auf uns wartet. Es ist nur ein Weg, einer von vielen, auf dem wir reisen, von Augenblick zu Augenblick. Kein Vakuum, solange wir atmen.
Alle Schritte - wohlbedacht.
So ist es doch, oder?
Du kennst die Antworten.