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Mittwoch, 23. Oktober 2013

Die Schönheit des Ertrinkens

Ich war sechs, als ich das erste Mal von der zerstörerischen Magie der Musik in Stücke gerissen wurde. Meine Eltern hatten sich gerade getrennt und meine neuen Pflichten in der Schule überforderten mich. Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen.
Ich kam aus der Schule, niemand war zu Hause. Ich hatte bereits einen eigenen Schlüssel, obwohl ich gerade erst eingeschult worden war. Meine Mutter hielt mich für eine Art Wunderkind, das nicht nur seinen gleichaltrigen Mitschülern, sondern auch den meisten Erwachsenen überlegen war. Heute glaube ich, dass sie sich einfach nur die Kosten für eine Nachmittagsbetreuung sparen wollte.
Jedenfalls war da dieser graue Nachmittag, der Tag in der Schule war ein Alptraum gewesen und ich war froh, endlich von der Stille der menschenleeren Wohnung umgeben zu sein. All der Lärm, das Getue der Lehrerin, die Streitereien auf dem Schulhof waren weit entfernt und ich spürte, wie sich meine Kehle von dem Druck löste, der seit dem von Stress und Hektik geprägten Morgen auf ihr lastete.
Doch in mir tobte noch immer die Wut. Wut über die vergeudete Zeit in der Schule, Wut über das irrationale Verhalten meiner Klassenkameraden, Wut über die ungerechte Lehrerin, die ihren unverdauten Hass allen Männern gegenüber Luft machte, indem sie die Jungen aus ihrer Klasse wie Dreck behandelte, während die Mädchen von ihr auf Händen durchs Leben getragen wurden. Ich spürte Wut meinen Eltern gegenüber, weil sie nicht mehr an die Liebe glaubten und ich spürte Wut mir selbst gegenüber, weil ich nichts zu tun vermochte, um sie wieder zur Vernunft zu bringen. Durch meine Venen pulsierte dunkler, undefinierbarer Zorn und es schien kein Ventil zu geben, durch das ich mein Blut hätte reinwaschen können.
Doch an jenem Tag war etwas anders. Irgendwie, durch einen glücklichen Wink des Schicksals, hatte ich plötzlich eine Kassette meines Bruders in der Hand. "Hardcore" stand in hektisch hin gekritzelten Lettern auf dem schief aufgeklebten Etikett. Ich legte sie in die Anlage, die sich meine Eltern noch vor kurzem gemeinsam angeschafft hatten, drehte am Rad für die Lautstärke, drückte auf den kleinen grünen Pfeil für Play und wartete gespannt. Ein dumpfes Rauschen drang aus den Boxen, mein Herz schlug wild vor Erwartung und Angst.
Als mich der dunkle Bass wie ein brennender Panzer überrollte und die rhythmischen Schallwellen der Instrumente meine Brust in tausend Stücke sprengten, wusste ich, dass ich endlich etwas in der Welt gefunden hatte, das keine Lüge war. Ich fühlte mich plötzlich frei von all der Last meines jungen Lebens, von den Erwartungen, den Illusionen, dem falschen Lächeln der Maskierten. Ich schrie, wie ich noch nie in meinem Leben zuvor geschrieen hatte, ich tobte, warf Möbel um, Glas zerbarst und mit den tausend Scherben zersprang auch meine Angst vor der Zukunft. Die Nachbarn klopften wie wild an die Tür, doch ich war in meinem Rausch gefangen. Ich weinte, ich lachte, ich schrie und tobte durch die Wohnung wie ein Wirbelwind.
Das Leben hatte sich mir endlich in seiner wahren Gestalt offenbart. Es gab fortan kein Zurück mehr. Meine Seele war für alle Zeit an den unsichtbaren Dämon gebunden.

Die Musik war seitdem stets mein unsichtbarer Begleiter durch die Höllenfeuer des Alltags. Mein Bruder ließ mich seine Kassetten hören, auch wenn er sich sonst nicht großartig um mich scherte. Ich lernte die verschiedenen Instrumente und Nuancen aus dem Chaos der Klänge herauszufiltern. Den treibenden, dumpf wimmernden Bass, der einem wie harte Schläge durch die Eingeweide rauschte, die klirrenden Becken, die um den brennenden Kern herum zirkulierten wie Motten um ein Feuer, das harte, unbarmherzige Rauschen und Dröhnen der verzerrten Gitarren, die Wut und Verzweiflung in einer bis an ihre Grenzen getriebenen menschlichen Stimme.
Manchmal hörte ich tagelang nur einen einzigen Song, spulte die Kassette immer wieder zurück und genoss von neuem das bekannte Chaos, und doch entdeckte ich bei jedem Durchlauf etwas Neues, eine versteckte Betonung, eine zuvor unbeachtete Nuance. Wenn ich ein Stück in und auswendig kannte, strömten unaufhaltsame Bilder auf mich ein, Bilder des Triumphes über das Leben, Bilder des Hasses und Bilder der Liebe. Ich erfand komplette Geschichten, die sich mit den Klängen der Musik verbanden und sich für immer in mein Herz brannten.
Mit elf Jahren bekam ich meine erste Gitarre, da mein Vater sich nach dreijähriger Abstinenz wieder gemeldet und ein schlechtes Gewissen seinen Söhnen gegenüber gehabt hatte. Es war berauschend, die Musik, die ich zuvor als etwas Festes, Vorgeschriebenes empfunden hatte, mit meinen Fingern und Gedanken steuern und lenken zu können. Jeden Tag nach der Schule warf ich meine Schulsachen in die Ecke und übte und spielte und experimentierte mit den mir so vertrauten Tönen. Meine Mutter war oft wütend darüber, dass ich nichts für die Schule tat und stattdessen ständig an der Gitarre saß. Aber sie hatte nicht den nötigen Willen, um mich dazu zu zwingen, meine Hausaufgaben zu machen, oder für die Prüfungen und Tests zu lernen.
Mit vierzehn spielte ich in meiner ersten Band. Es war eine Schülerband und wir spielten bescheuerte Songs für bescheuerte Menschen. Die Lehrer wollten, dass wir uns einen vernünftigen Bandnamen zulegten. Vernünftig hieß hier, dass er weder obszön noch in sonstiger Weise gegen die Werte einer friedlebenden, harmonischen Gesellschaft verstoßen durfte. Wir nannten uns schließlich "The Fuckfest", was für reichlich Furore nicht nur in der Lehrerschaft der Schule sorgte. Unser erstes Konzert spielten wir allerdings unter dem Namen "Happy Holidays" auf dem Sommerfest der Schule. Den Namen hatte sich meine Klassenlehrerin ausgedacht; eine untervögelte, einsame Frau mitte vierzig, die vom Leben enttäuscht und von sich selbst angewidert war.
Es folgten weitere belanglose Auftritte und die Songs, hauptsächlich seichte Coverstücke altbackener Oldies, hingen mir nach kurzer Zeit zum Hals raus. Beim alljährlichen Sommerfest, ich hatte zuvor ein Live-Video von Nirvana mit meinem Bruder zusammen gesehen, zerstörte ich mitten im Solopart von "House Of The Rising Sun" meine Gitarre, den von der Schule gestellten Verstärker sowie die Bassdrum des schuleigenen Schlagzeug-Sets. Ich wurde von dem Schülerband-Projekt der Schule supendiert und durfte eine Woche lang nicht zum Unterricht erscheinen, was ein Segen war.

In den folgenden Jahren lernte ich immer mehr Musiker kennen. Über eine Freundin aus der Klasse baute ich Kontakt zu einer Gruppe langhaariger Freaks auf, die schon über zwanzig waren und einen eigenen Proberaum zum jammen hatten. Wir hingen zusammen rum, tranken Bier und Schnaps und kifften einen Joint nach dem anderen. Gleich am ersten Abend war ich so stoned, dass ich über das Kabel meiner Gitarre fiel und das ohnehin schon malträtierte Teil mit voller Wucht in die Anlage flog. Die Jungs lachten nur und sagten, wenn ich das nochmal genau so hinbekomme und dabei ein fettes Solo spiele, würden sie mich in ihre Band aufnehmen. Ich spielte mein Solo, verzichtete aber auf die Showeinlage.
Wir jammten die halbe Nacht und ich stellte fest, dass meine neuen Freunde zwar alle vollkommen verdreht, aber dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, verdammt gute Musiker waren. Es war berauschend, wie sich die Ideen überschlugen, wie sich Songs entwickelten ohne über eine gemeinsame Richtung zu sprechen. Wir lachten viel in dieser Nacht und ich musste kotzen vom vielen Alkohol und dem Gras und Tom, der Bassist fuhr mich nach Hause und klopfte mir auf die Schulter und sagte mir, dass ich mir schon mal Gedanken über einen Bandnamen machen solle.
Meine Mutter schimpfte mit mir, weil ich mitten in der Nacht nach Hause kam und nach Bier, Zigaretten, Gras und Kotze stank. Aber sie hatte wie gewohnt nicht die Energie und Willensstärke, um meiner Gleichgültigkeit irgendetwas entgegen zu setzen.
Mein Vorschlag, die Band "The Fuckfest" zu nennen, wurde mit tobendem Applaus angenommen und wir probten daraufhin wie verrückt und schrieben Songs, die wir aus den besten Parts unserer Jam-Sessions zusammen bastelten. Eines Tages kam Rush - unser Drummer der eigentlich Rainer hieß und dem sein Name so unfassbar peinlich war, dass er jedesmal etwas in Stücke schlug, wenn ihn jemand so nannte - in den Proberaum, er hatte ein ganz rotes Gesicht, weil es draußen so kalt war und er war ganz aufgeregt und schrie uns an, dass er für The Fuckfest einen Gig klar gemacht hätte. Wir sollten im Death & Dance als Vorband von "The Illuminados" spielen, was eine Ehre war, denn die Erleuchteten waren eine sehr bekannte lokale Rockband, die uns einige Zuschauer einbringen würde.
An das Konzert selbst erinnere ich mich nur noch schwach, nicht weil ich unter Drogeneinfluss gestanden hätte, nein, ganz im Gegenteil, ich war viel zu nüchtern, weil ich Angst hatte, die komplexen Arrangements zu vergessen. Es war einfach ein berauschendes Erlebnis, vor so vielen betrunkenen Leuten zu spielen, die jeden Takt unserer Musik abfeierten, als wären sie Jahrzehnte lang auf einem fremden Planeten gestrandet gewesen.
Es folgten noch einige Konzerte, unter anderem eines, bei dem es nur einen einzigen Zuschauer gegeben hatte, weil niemand Werbung gemacht hatte. Der Typ war nur zufällig an dem Laden vorbeigekommen, weil er eigentlich ´ne Nutte ficken wollte, aber auf dem Parkplatz waren dann keine gewesen und dann hatte er sich gedacht, was soll´s, schau ich mir halt The Fuckfest an. Er war auf jeden Fall zufrieden, was man von uns nicht behaupten konnte, obwohl es reichlich Bier gegeben hatte, das als Gage fungieren sollte.

Das Ende von The Fuckfest kam ganz plötzlich, als Rush eines Tages nicht mehr zu den Proben auftauchte. Er sei ausgerissen, hieß es. Habe genug von der Scheiße gehabt und sei nach Amerika geflogen, um auf einer Farm zu arbeiten. Die Band brauchte im Grunde nur einen neuen Drummer, aber Rushs Fortgang hatte ein Lauffeuer in Gang gesetzt. Tom verließ ebenfalls die Band, weil er sich auf den Job und seine Freundin konzentrieren wolle, die ihm den Floh ins Ohr gesetzt hatte, dass wir ihn zu einem schlechten Menschen machen würden, weil wir kiffende, saufende, rüpelnde Versager seien, die niemals einen Job oder ein Haus oder eine Familie haben würden und ob er auch so ein Versager sein wolle und was er denn von der Musik erwarte, wie er mit Bassspielen seine zukünftigen Kinder ernähren wolle und bla, bla.
Zurück blieben Ben und ich, Gesang und Gitarre. Ich erinnere mich noch genau an den Abend, als Tom uns all den Scheiß von seiner Freundin und den zukünftigen Kindern erzählt hatte und dann wie ein getretener Hund abgerauscht war und ich allein mit Ben im Proberaum saß, das Rauschen meines Verstärkers vertrieb glücklicherweise die trostlose Stille, die uns sonst eingehüllt und um den Verstand gebracht hätte.
Wir suchten daraufhin nach geeigneten Musikern, um The Fuckfest fortzuführen, aber die einzigen Typen, die sich auf unsere Anfragen meldeten, waren entweder vollkommene Dilettanten oder gemeingefährliche Psychopathen, denen wir einen nach dem anderen eine Absage erteilen mussten. Und so kam es, wie es kommen musste: Tom erschien eines Tages ebenfalls nicht zur Probe und ich saß allein im wabernden Rauschen meines Verstärkers und klimperte vor mich hin, in Gedanken an die großartigen Momente der letzten Jahre.
Ich beschloss, mich ebenfalls um mein Leben zu kümmern, dass während der letzten Jahre vollkommen aus dem Ruder gelaufen war. Ich hatte die Schule geschmissen und hielt mich mit unterbezahlten Nebenjobs über Wasser. Meine Mutter ließ mich noch zu Hause wohnen, aber sie sprach nicht mehr mit mir, ignorierte mich gar vollkommen, um mir zu zeigen, wie enttäuscht sie von mir war. Zumindest sparte ich mir die Miete und hatte ein Dach über dem Kopf, aber all das bedeutete mir wenig, denn mir fehlten die Musik und die Euphorie eines Gigs. Wenn man einmal dieses berauschende Gefühl erlebt hat, auf einer Bühne zu stehen, den Geist der Musik mit anderen Menschen zu teilen und eins zu sein, mit dem Klang der Welt, dann kann einen nichts anderes mehr begeistern.
Ich bewarb mich schließlich um eine Ausbildungsstelle und fing eine Lehre zum Industriemechaniker an. Die Laune meiner Mutter besserte sich, was das Zusammenleben mit ihr enorm erleichterte. Ich arbeitete hart und fiel jeden Abend müde und ausgelaugt ins Bett, nur um am nächsten Morgen in einen ähnlich zermürbenden Tag zu starten. Die Tage glichen tatsächlich einer dem anderen, nur das Wochenende spendete den Trost der Variation, doch variierten sie nur scheinbar, denn im Endeffekt gestaltete sich jedes Wochenende wie das andere. Freitags zog ich mit Freunden um die Häuser, versuchte Mädchen aufzureißen und betrank mich maßlos. Für den Samstag nahm ich mir stets vor, zu Hause zu bleiben und an neuen Songs zu arbeiten, aber ich hielt es nie lange in meinem vernachlässigten Zimmer aus und widmete mich stattdessen den gleichen sinnlosen Anstrengungen, das Leben zu vergessen, wie am Tage zuvor. Die Variation war letztendlich wie so vieles im Leben nur eine bloße Illusion und ich wusste, dass es so nicht weitergehen konnte, doch ich ließ mich treiben im eiskalten Strom der Belanglosigkeit, ich wollte nicht mehr auf Sinnsuche gehen, wollte nur noch leben und meine Pflichten erfüllen, die mich zu einem Menschen von Vielen machten.

Es war ein grauer, nichtssagender Mittwoch gewesen, als ich meinem Chef sagte, dass er sich selbst ficken und sich dann eine Kugel in seinen fetten hässlichen Schädel schießen solle, was ohne Umschweife dazu führte, dass ich meine Ausbildung an den Nagel hängen konnte.
Ich weiß nicht mehr, was mich dazu getrieben hatte, aber ich erinnere mich noch sehr genau an den Augenblick, als ich aus der großen Maschinenhalle ins milchige Tageslicht trat und mich die so lang entbehrte Freiheit und ein unbeschreiblicher Drang zu leben wie ein Feuer durchflutete. Ich hatte noch Tage danach dies Grinsen im Gesicht, wie es nur einen Menschen zieren kann, der nach langer Zeit der Selbstleugnung plötzlich wieder Sinn und Struktur in der Welt entdeckt und dem augenblicklich alle Möglichkeiten und Träume offen zu stehen scheinen.
Meiner Mutter erzählte ich zunächst nichts von meiner Kündigung, ich behauptete ich sei krank und sie beließ es dabei. In ihrer Welt gab es andere Sorgen und sie vertraute mir immer noch wie einem Heiligen, obwohl sie genau wusste, dass ich alles andere war als das.
Ich hatte einiges an Kohle angesammelt und beschloss, mein kleines Vermögen bis auf den letzten Pfennig in Alkohol und Drogen zu investieren. An einem dieser verkorksten Abende traf ich auf Trent, einen jungen Amerikaner, der von zu Hause ausgerissen war, um das dunkle Europa kennenzulernen, wie er es nannte und um Inspiration für seine Musik zu finden. Er spielte Bass, war unglaublich hässlich und sprach kaum Deutsch, aber wir hatten eine Menge Spaß an diesem Abend, ich spendierte ihm und mir selbst zahlreiche Drinks und wir quatschten jede Frau an, die in unsere Nähe kam, egal ob sie hübsch war oder nicht. Natürlich bekamen wir eine Abfuhr nach der anderen, was nicht nur daran lag, dass Trent so ein hässlicher Fucker war, aber wir lachten nur, wenn uns wieder eine abblitzen ließ und bestellten Tequila, Rum und Wodka, bis wir nicht mehr stehen konnten.
Wir trafen uns am nächsten Abend im Proberaum, um zu jammen, ich glaube ich sah nicht besser aus als der dürre Trent, denn ich hatte den Kater meines Lebens, aber ich freute mich dennoch auf die Session und hoffte sehr, dass Trent so spielen konnte, wie er trank. Wir hatten uns schnell gefunden, er spielte sehr groovelastig und akzentuiert, was mir sehr gefiel, da es meinem eher unsauberen, dynamischen Spiel eine feste Grundlage gab. Wir sprachen kaum miteinander, ließen vielmehr die Instrumente sprechen und ich freute mich sehr, dass Trent ähnlich wie ich den Hang zu traurigen Melodien und melancholischen Flächen hatte, die sehr an die glorreichen Siebziger erinnerten. Wir beschlossen, uns regelmäßig zu treffen und nach weiteren Musikern Ausschau zu halten, damit wir eine Band gründen konnten. Mein Herz hörte nicht auf, wild gegen meine Brust zu schlagen, als ich abends in meinem heruntergekommenen Zimmer saß und an die Zukunft dachte.

Eines Tages brachte Trent einen schüchternen, kränklich aussehenden Rotschopf mit in den Proberaum, der aussah, als wäre er jahrelang von einem Perversen in einem dunklen Keller gefangen gehalten worden und erst seit ein paar Wochen wieder in Freiheit. Er sprach sehr leise und sah einem dabei nicht in die Augen, aber ich mochte ihn, da er mich an einen Freund erinnerte, den ich in der Grundschule gehabt hatte. Der Junge hieß Gabriel und war ein sehr talentierter Drummer. Gleich bei der ersten Session mit ihm hatten wir bereits ein paar grobe Songs zusammen, deren dunkle Schwermütigkeit und destruktive Melancholie uns selbst überraschte. Mir fiel auf, dass Gabriel selten bis überhaupt nicht lächelte, aber wenn er am Schlagzeug saß, leuchteten seine Augen auf eine unheimliche Weise und verrieten seinen Zorn und seinen Willen, der Welt ihre Ungerechtigkeit und Grausamkeit für alle Zeiten heimzuzahlen. Wir probten daraufhin so oft wir konnten und da wir alle drei arbeitslos waren, kamen wir ziemlich oft dazu, an neuen Songs zu arbeiten. Wir verzichteten irgendwann sogar darauf, uns für die nächste Session zu verabreden, denn irgendeiner von uns war immer im Proberaum und es war eine Frage der Zeit, wann der Rest letztlich eintrudelte.
Ich versuchte mich als Sänger, aber mehr als wütendes Gebrüll brachte ich nicht zustande. Ich wollte es schon aufgeben und auf einen vernünftigen Sänger warten, aber Trent bestand darauf, dass ich wenigstens in den harten Passagen meinen Hass in die Welt hinausschrie. Er war der Meinung, dass durch das Gebrüll etwas mehr Menschlichkeit in unsere Klangwelten gebracht würde und dass es den Zuhörer dazu brächte, die Songs nicht mehr nur als Songs, sondern als Fragmente ihres eigenen verworrenen Lebens wahrzunehmen. Mir war es gleich, aber ich bemühte mich, meine Gesangs- oder besser Geschrei-Passagen auf ein Minimum zu beschränken, auch weil es mich zu sehr von der Intensität der Harmonien ablenkte.
Gabriel erwies sich als wahres Genie, was die lyrische Komposition von Worten und Metaphern anging. Mir war bereits aufgefallen, dass er zwar wenig sprach, doch wenn er etwas sagte, er sich immer Zeit ließ, die richtige Ausdrucksweise zu finden, um seine komplexen Gedankenbilder zu vermitteln. Ich fragte ihn, ob er nicht einen Text für einen Song schreiben wolle, an dem wir gerade arbeiteten und er willigte ein. Er ließ sich Zeit mit der Schreiberei und stellte plötzlich Trent und mir Fragen über Fragen, was wir empfänden, wenn wir den Song spielten, welche Bilder die Melodien in uns hervorrufen würden und dergleichen. Es war ein schwermütiger Song von knapp neun Minuten, er war recht einfach gestrickt, entwickelte aber eine kaum spürbare Dynamik, die gegen Ende in einem alles zerfetzenden Chaos aus Störgeräuschen, Geschrei und wilden, unaufhaltsamen Bassrhythmen mündete. Der ruhige Einstieg erinnerte mich jedoch immer an den Ozean, die schwarze Stille tief unten im Meer, in der kein Mensch überleben, es keinen Raum für Neid, Hass und Gier geben kann. Gabriel gefiel diese Vorstellung, auch wenn er seltsam entrückt vor sich her starrte, während ich ihm meine Bilder beschrieb.
Als ich den Text das erste Mal las, wurde mir schwer ums Herz und ich wusste, dass es genau das war, wonach der Song geschrien hatte. Es war ein kryptisches Gedicht ohne Titel und entwarf Bilder eines kleinen Mädchens, dass immer tiefer in die Dunkelheit des Ozeans hinabgezogen wurde und mit jedem Meter, den es in die unendliche Tiefe sank, mehr und mehr Erinnerungen an ihr vorheriges Leben als Mensch, als Schwester, als Tochter und als Freundin von sich abwarf. Die Einsamkeit und Stille der Tiefe ließ sie zu etwas Höherem werden, ein Mensch, der all sein Menschsein abgeworfen und jegliche Schwäche und Angst verloren hatte. Ich stellte sie mir als das schönste Geschöpf vor, dass sich ein menschlicher Geist würde vorstellen können.
Ich fragte Gabriel, wie er auf dieses Bild mit dem ertrinkenden Mädchen gekommen sei und er antwortete, dass das Mädchen seine Schwester symbolisiere, die vor vielen Jahren ertrunken war, nachdem sie beim Schlittschuhfahren auf dem See ins Eis eingebrochen war. Er sagte das sehr anteilslos, als wäre es die Erinnerung an einen Film, den er als Kind gesehen hatte, aber wie beim Musizieren verrieten seine Augen, was wirklich in ihm vorging und ich stellte keine weiteren Fragen mehr, jetzt nicht und auch nicht in Zukunft, was es mit den Metaphern in seinen Texten auf sich hatte. Ich ließ sie einfach wirken und freute mich jedesmal aufs Neue, dass sie stets wie das letzte fehlende Teil eines Puzzles zur Musik passten.
Wir gaben dem Song den Titel "The Beauty Of Drowning" und es wurde uns zum Ritual, jede unserer Proben und späteren Konzerte mit ihm zu beginnen.

Artjom komplettierte schließlich unsere Band. Er war ein sehr fähiger und kreativer Gitarrist, der mir in technischer Sicht um einiges voraus war. Er war gebürtiger Russe und hatte von Natur aus Freude an melancholischen Harmonien. Wir ergänzten uns sehr. Wenn ich ein Riff oder eine Melodie spielte, dauerte es keine zwei Minuten und Artjom hatte ein entsprechendes Gegenstück aus den Fingern geschüttelt, welches das Gitarrenspiel um milliarden Welten erweiterte, ohne ihm die ursprüngliche Intension zu nehmen. Nicht nur unser Vorzeigestück "The Beauty Of Drowning" gewann durch ihn an Klangfülle und Intensität, sondern unser gesamter Sound wurde breiter, offener und lebendiger. Wir klangen nicht mehr so roh und hart wie in unseren Anfangstagen, unsere Songs fühlten sich an wie schwarzes Wasser, dass jedesmal aufs Neue in einem immer wieder variierenden Strom in die Zukunft floss. Wir entschlossen uns kurzerhand, auch unsere Band "The Beauty of Drowning" zu nennen und das Ertrinken sowie den Ozean als leitendes Motiv in all unseren Songs zu etablieren.
Die ersten Konzerte kamen und wir spielten wie gewohnt vor kleinen Gruppen von Zuhörern. Seltsam war, dass die Leute anders als damals bei den Fuckfest-Auftritten weder ausrasteten, noch sonst große emotionale Regungen zeigten, sondern vielmehr wie paralysiert vor der Bühne standen und uns mit unergründlichen Augen anstarrten, als kämen wir aus einer anderen Welt. Heute vermute ich, dass sie uns einfach nicht einordnen konnten, nicht verstanden, wie man so traurige Musik machen konnte. Ich stellte fest, dass die meisten Menschen Musik als etwas erachteten, dass sie von der Sinnlosig- und Traurigkeit des Lebens ablenken sollte und sie nicht mit der Nase direkt hineinstoßen durfte. Aber genau das taten wir und sprachen damit nicht jedermann auf Anhieb an.
Aber es war uns egal, was die Leute von uns hielten, denn wir wussten, dass wir nichts anderes machen wollten, das The Beauty Of Drowning genau das war, was unsere Verbindung, was jeden einzelnen von uns ausmachte. Und so spielten wir weiter, mal vor hundert, mal vor zehn Zuhörern und immer war da die kleine Zahl an Gästen, deren Nerv wir trafen, die dankbar waren für das, was wir zu geben hatten und das war für uns wichtiger, als die Massen zu begeistern.
Doch das Geld wurde knapp und da wir an den Konzerten eher schlecht als recht verdienten, war es uns bald nicht mehr möglich, die Miete für unseren Proberaum zu bezahlen. Trent flog aus seiner Wohngemeinschaft und lebte von da an im Proberaum. Artjom wohnte in einem Wohnwagen und Gabriel und ich teilten uns mein Zimmer in der Wohnung meiner Mutter, was seltsam gut funktionierte, denn Gabriel war ein angenehmer Mitbewohner, der mit wenig zufrieden war.
Wir gingen also wieder auf Jobsuche, um unsere Musik zu finanzieren. Ich arbeitete als Kommissionierer für ein Maschinenbauunternehmen, Gabriel fand eine Stelle als Briefträger. Artjom lebte weiterhin von den Tantiemen seines Großvaters, der vor vielen Jahren ein russisches Weihnachtslied komponiert hatte. Es war ein Hungerlohn, aber Artjom war bescheiden und sein Wohnwagen ersparte ihm hohe Mietkosten. Trent verdingte sich zunächst als Straßenmusiker, konnte allerdings kaum Gewinne erzielen, weil er erstens sehr uninspiert Gitarre spielte und zweitens durch seine drahtige Hässlichkeit die Leute vergraulte. Er ließ eines Tages dann einfach seine schäbige Klampfe im Proberaum und setzte als Bettler auf das Mitleid der Leute, was um einiges besser funktionierte.

So vergingen die Jahre, wir spielten einige Konzerte und gewannen eine kleine Fanbase, die uns von Gig zu Gig folgte und uns das Gefühl gab, eine kleine gemeinsame Familie zu sein. Trent hingegen widmete sich mehr und mehr dem Alkohol, was für uns zunehmend zum Problem wurde. Musikalisch lieferte er weiterhin Qualität, es war unglaublich, wie besoffen er bei manchem Auftritt gewesen war und trotzdem sauber und mit Gefühl Bass gespielt hatte. Doch sein körperlicher Zustand verschlechterte sich von Monat zu Monat und es war eine Frage der Zeit, wann er komplett abrutschen und sich um den Verstand saufen würde. Wir redeten stundenlang mit ihm, meldeten ihn für eine Entziehungskur an, doch er ließ nicht ab vom Trinken. Eines Tages war er fort; da, wo vorher sein Bass und seine Schlafecke gewesen war, lag ein Zettel auf dem in kaum lesbaren Lettern geschrieben stand, dass er nach Indien reisen und sich selbst finden wolle.
Trents Verschwinden warf die Band in einen dunklen Abgrund und es war wieder wie damals mit The Fuckfest, dass dieser eine Schlag das komplette Gleichgewicht der Gruppe zerstörte. Artjom hatte schon lange mit dem Gedanken gerungen, nach Russland zurückzukehren, um eine Familie zu gründen, hatte sich aber wegen der Band und der Musik nie überwinden können. Jetzt taumelte die Band und er sah seine Chance gekommen. Alles reden half nichts, so verloren wir auch ihn an die große weite Welt.
Gabriel und ich blieben zurück und suchten noch eine Weile nach geeignetem Ersatz, doch wir wurden mit keinem der Bewerber so richtig warm. Die Band war wie eine Familie für uns gewesen. Einen Bruder oder einen Vater kann man schließlich auch nicht einfach durch jemanden ersetzen. Und so verzichteten wir auf das Vorhaben, The Beauty Of Drowning fortzusetzen und beschlossen, erstmal eine Pause zu machen und unsere Leben in den Griff zu bekommen.
Gabriel fand einen Job bei einem Verlag und er zog nach Berlin. Es war ein trauriger Abschied gewesen und ich hatte Tränen in den Augen, als ich ihn gehen ließ.
Ich habe sie alle bis heute nicht wieder gesehen. Was aus Trent und Artjom geworden ist, weiß ich nicht. Gabriel schrieb mir Jahre später eine Email und wir tauschten unsere Nummern aus, aber es kam nie zu einem Wiedersehen.
Heute arbeite ich als Verkäufer in dem Plattengeschäft meines Bruders. Seit The Beauty Of Drowning habe ich nie wieder in einer Band gespielt und vermisse es auch nicht. Ich habe eine wunderschöne Tochter und eine biestige Ex-Frau, die ich trotz all dem Ärger, den wir die letzten Jahre hatten, über alles liebe. Ich habe eine kleine gemütliche Wohnung am Stadtrand, bin gesund und freue mich auf die Zukunft mit meiner kleinen Familie, doch ich weiß auch, dass mich bis ans Ende meiner Tage die Zweifel foltern werden. Was wäre wenn...? Diese Frage stellen wir uns alle nicht nur einmal in unserem Leben. Doch was bleibt ist stets die Gegenwart, das was tatsächlich geworden ist. Alles andere sind Erinnerungen, Wünsche, Träume die eines Tages verblassen, wenn wir in die Tiefen des Ozeans hinabsinken und alles Meschliche von uns abwerfen.
Am Ende aller Tage sind wir alle schön. Frei von Elend und Angst, Hunger und Traurigkeit. Im Ertrinken liegt der Glanz der Ewigkeit. Dieses Geschenk gebührt uns allen.
Dem einen früher, dem anderen später.

- Alle Personen und Begebenheiten sind frei erfunden. Dies ist keine Bandbiografie. -