Ich
war sechs, als ich das erste Mal von der zerstörerischen Magie der Musik in
Stücke gerissen wurde. Meine Eltern hatten sich gerade getrennt und meine neuen
Pflichten in der Schule überforderten mich. Ich erinnere mich, als sei es
gestern gewesen.
Ich
kam aus der Schule, niemand war zu Hause. Ich hatte bereits einen eigenen
Schlüssel, obwohl ich gerade erst eingeschult worden war. Meine Mutter hielt
mich für eine Art Wunderkind, das nicht nur seinen gleichaltrigen Mitschülern,
sondern auch den meisten Erwachsenen überlegen war. Heute glaube ich, dass sie
sich einfach nur die Kosten für eine Nachmittagsbetreuung sparen wollte.
Jedenfalls
war da dieser graue Nachmittag, der Tag in der Schule war ein Alptraum gewesen
und ich war froh, endlich von der Stille der menschenleeren Wohnung umgeben zu
sein. All der Lärm, das Getue der Lehrerin, die Streitereien auf dem Schulhof
waren weit entfernt und ich spürte, wie sich meine Kehle von dem Druck löste,
der seit dem von Stress und Hektik geprägten Morgen auf ihr lastete.
Doch
in mir tobte noch immer die Wut. Wut über die vergeudete Zeit in der Schule,
Wut über das irrationale Verhalten meiner Klassenkameraden, Wut über die
ungerechte Lehrerin, die ihren unverdauten Hass allen Männern gegenüber Luft
machte, indem sie die Jungen aus ihrer Klasse wie Dreck behandelte, während die
Mädchen von ihr auf Händen durchs Leben getragen wurden. Ich spürte Wut meinen
Eltern gegenüber, weil sie nicht mehr an die Liebe glaubten und ich spürte Wut
mir selbst gegenüber, weil ich nichts zu tun vermochte, um sie wieder zur
Vernunft zu bringen. Durch meine Venen pulsierte dunkler, undefinierbarer Zorn
und es schien kein Ventil zu geben, durch das ich mein Blut hätte reinwaschen
können.
Doch
an jenem Tag war etwas anders. Irgendwie, durch einen glücklichen Wink des
Schicksals, hatte ich plötzlich eine Kassette meines Bruders in der Hand.
"Hardcore" stand in hektisch hin gekritzelten Lettern auf dem schief
aufgeklebten Etikett. Ich legte sie in die Anlage, die sich meine Eltern noch
vor kurzem gemeinsam angeschafft hatten, drehte am Rad für die Lautstärke,
drückte auf den kleinen grünen Pfeil für Play und wartete gespannt. Ein dumpfes
Rauschen drang aus den Boxen, mein Herz schlug wild vor Erwartung und Angst.
Als
mich der dunkle Bass wie ein brennender Panzer überrollte und die rhythmischen
Schallwellen der Instrumente meine Brust in tausend Stücke sprengten, wusste
ich, dass ich endlich etwas in der Welt gefunden hatte, das keine Lüge war. Ich
fühlte mich plötzlich frei von all der Last meines jungen Lebens, von den
Erwartungen, den Illusionen, dem falschen Lächeln der Maskierten. Ich schrie,
wie ich noch nie in meinem Leben zuvor geschrieen hatte, ich tobte, warf Möbel um,
Glas zerbarst und mit den tausend Scherben zersprang auch meine Angst vor der
Zukunft. Die Nachbarn klopften wie wild an die Tür, doch ich war in meinem
Rausch gefangen. Ich weinte, ich lachte, ich schrie und tobte durch die Wohnung
wie ein Wirbelwind.
Das
Leben hatte sich mir endlich in seiner wahren Gestalt offenbart. Es gab fortan
kein Zurück mehr. Meine Seele war für alle Zeit an den unsichtbaren Dämon
gebunden.
Die
Musik war seitdem stets mein unsichtbarer Begleiter durch die Höllenfeuer des
Alltags. Mein Bruder ließ mich seine Kassetten hören, auch wenn er sich sonst
nicht großartig um mich scherte. Ich lernte die verschiedenen Instrumente und
Nuancen aus dem Chaos der Klänge herauszufiltern. Den treibenden, dumpf
wimmernden Bass, der einem wie harte Schläge durch die Eingeweide rauschte, die
klirrenden Becken, die um den brennenden Kern herum zirkulierten wie Motten um
ein Feuer, das harte, unbarmherzige Rauschen und Dröhnen der verzerrten
Gitarren, die Wut und Verzweiflung in einer bis an ihre Grenzen getriebenen
menschlichen Stimme.
Manchmal
hörte ich tagelang nur einen einzigen Song, spulte die Kassette immer wieder
zurück und genoss von neuem das bekannte Chaos, und doch entdeckte ich bei
jedem Durchlauf etwas Neues, eine versteckte Betonung, eine zuvor unbeachtete
Nuance. Wenn ich ein Stück in und auswendig kannte, strömten unaufhaltsame
Bilder auf mich ein, Bilder des Triumphes über das Leben, Bilder des Hasses und
Bilder der Liebe. Ich erfand komplette Geschichten, die sich mit den Klängen der
Musik verbanden und sich für immer in mein Herz brannten.
Mit
elf Jahren bekam ich meine erste Gitarre, da mein Vater sich nach dreijähriger
Abstinenz wieder gemeldet und ein schlechtes Gewissen seinen Söhnen gegenüber
gehabt hatte. Es war berauschend, die Musik, die ich zuvor als etwas Festes,
Vorgeschriebenes empfunden hatte, mit meinen Fingern und Gedanken steuern und
lenken zu können. Jeden Tag nach der Schule warf ich meine Schulsachen in die
Ecke und übte und spielte und experimentierte mit den mir so vertrauten Tönen.
Meine Mutter war oft wütend darüber, dass ich nichts für die Schule tat und
stattdessen ständig an der Gitarre saß. Aber sie hatte nicht den nötigen
Willen, um mich dazu zu zwingen, meine Hausaufgaben zu machen, oder für die
Prüfungen und Tests zu lernen.
Mit
vierzehn spielte ich in meiner ersten Band. Es war eine Schülerband und wir
spielten bescheuerte Songs für bescheuerte Menschen. Die Lehrer wollten, dass
wir uns einen vernünftigen Bandnamen zulegten. Vernünftig hieß hier, dass er weder
obszön noch in sonstiger Weise gegen die Werte einer friedlebenden,
harmonischen Gesellschaft verstoßen durfte. Wir nannten uns schließlich
"The Fuckfest", was für reichlich Furore nicht nur in der
Lehrerschaft der Schule sorgte. Unser erstes Konzert spielten wir allerdings
unter dem Namen "Happy Holidays" auf dem Sommerfest der Schule. Den
Namen hatte sich meine Klassenlehrerin ausgedacht; eine untervögelte, einsame
Frau mitte vierzig, die vom Leben enttäuscht und von sich selbst angewidert
war.
Es
folgten weitere belanglose Auftritte und die Songs, hauptsächlich seichte
Coverstücke altbackener Oldies, hingen mir nach kurzer Zeit zum Hals raus. Beim
alljährlichen Sommerfest, ich hatte zuvor ein Live-Video von Nirvana mit meinem
Bruder zusammen gesehen, zerstörte ich mitten im Solopart von "House Of
The Rising Sun" meine Gitarre, den von der Schule gestellten Verstärker
sowie die Bassdrum des schuleigenen Schlagzeug-Sets. Ich wurde von dem
Schülerband-Projekt der Schule supendiert und durfte eine Woche lang nicht zum
Unterricht erscheinen, was ein Segen war.
In
den folgenden Jahren lernte ich immer mehr Musiker kennen. Über eine Freundin
aus der Klasse baute ich Kontakt zu einer Gruppe langhaariger Freaks auf, die
schon über zwanzig waren und einen eigenen Proberaum zum jammen hatten. Wir
hingen zusammen rum, tranken Bier und Schnaps und kifften einen Joint nach dem
anderen. Gleich am ersten Abend war ich so stoned, dass ich über das Kabel
meiner Gitarre fiel und das ohnehin schon malträtierte Teil mit voller Wucht in
die Anlage flog. Die Jungs lachten nur und sagten, wenn ich das nochmal genau
so hinbekomme und dabei ein fettes Solo spiele, würden sie mich in ihre Band
aufnehmen. Ich spielte mein Solo, verzichtete aber auf die Showeinlage.
Wir
jammten die halbe Nacht und ich stellte fest, dass meine neuen Freunde zwar
alle vollkommen verdreht, aber dennoch, oder vielleicht gerade deswegen,
verdammt gute Musiker waren. Es war berauschend, wie sich die Ideen
überschlugen, wie sich Songs entwickelten ohne über eine gemeinsame Richtung zu
sprechen. Wir lachten viel in dieser Nacht und ich musste kotzen vom vielen
Alkohol und dem Gras und Tom, der Bassist fuhr mich nach Hause und klopfte mir
auf die Schulter und sagte mir, dass ich mir schon mal Gedanken über einen
Bandnamen machen solle.
Meine
Mutter schimpfte mit mir, weil ich mitten in der Nacht nach Hause kam und nach
Bier, Zigaretten, Gras und Kotze stank. Aber sie hatte wie gewohnt nicht die
Energie und Willensstärke, um meiner Gleichgültigkeit irgendetwas entgegen zu
setzen.
Mein
Vorschlag, die Band "The Fuckfest" zu nennen, wurde mit tobendem
Applaus angenommen und wir probten daraufhin wie verrückt und schrieben Songs,
die wir aus den besten Parts unserer Jam-Sessions zusammen bastelten. Eines
Tages kam Rush - unser Drummer der eigentlich Rainer hieß und dem sein Name so
unfassbar peinlich war, dass er jedesmal etwas in Stücke schlug, wenn ihn
jemand so nannte - in den Proberaum, er hatte ein ganz rotes Gesicht, weil es
draußen so kalt war und er war ganz aufgeregt und schrie uns an, dass er für
The Fuckfest einen Gig klar gemacht hätte. Wir sollten im Death & Dance als
Vorband von "The Illuminados" spielen, was eine Ehre war, denn die
Erleuchteten waren eine sehr bekannte lokale Rockband, die uns einige Zuschauer
einbringen würde.
An
das Konzert selbst erinnere ich mich nur noch schwach, nicht weil ich unter
Drogeneinfluss gestanden hätte, nein, ganz im Gegenteil, ich war viel zu
nüchtern, weil ich Angst hatte, die komplexen Arrangements zu vergessen. Es war
einfach ein berauschendes Erlebnis, vor so vielen betrunkenen Leuten zu
spielen, die jeden Takt unserer Musik abfeierten, als wären sie Jahrzehnte lang
auf einem fremden Planeten gestrandet gewesen.
Es
folgten noch einige Konzerte, unter anderem eines, bei dem es nur einen
einzigen Zuschauer gegeben hatte, weil niemand Werbung gemacht hatte. Der Typ
war nur zufällig an dem Laden vorbeigekommen, weil er eigentlich ´ne Nutte
ficken wollte, aber auf dem Parkplatz waren dann keine gewesen und dann hatte er
sich gedacht, was soll´s, schau ich mir halt The Fuckfest an. Er war auf jeden
Fall zufrieden, was man von uns nicht behaupten konnte, obwohl es reichlich
Bier gegeben hatte, das als Gage fungieren sollte.
Das
Ende von The Fuckfest kam ganz plötzlich, als Rush eines Tages nicht mehr zu
den Proben auftauchte. Er sei ausgerissen, hieß es. Habe genug von der Scheiße
gehabt und sei nach Amerika geflogen, um auf einer Farm zu arbeiten. Die Band
brauchte im Grunde nur einen neuen Drummer, aber Rushs Fortgang hatte ein
Lauffeuer in Gang gesetzt. Tom verließ ebenfalls die Band, weil er sich auf den
Job und seine Freundin konzentrieren wolle, die ihm den Floh ins Ohr gesetzt
hatte, dass wir ihn zu einem schlechten Menschen machen würden, weil wir
kiffende, saufende, rüpelnde Versager seien, die niemals einen Job oder ein
Haus oder eine Familie haben würden und ob er auch so ein Versager sein wolle
und was er denn von der Musik erwarte, wie er mit Bassspielen seine zukünftigen
Kinder ernähren wolle und bla, bla.
Zurück
blieben Ben und ich, Gesang und Gitarre. Ich erinnere mich noch genau an den
Abend, als Tom uns all den Scheiß von seiner Freundin und den zukünftigen
Kindern erzählt hatte und dann wie ein getretener Hund abgerauscht war und ich
allein mit Ben im Proberaum saß, das Rauschen meines Verstärkers vertrieb
glücklicherweise die trostlose Stille, die uns sonst eingehüllt und um den
Verstand gebracht hätte.
Wir
suchten daraufhin nach geeigneten Musikern, um The Fuckfest fortzuführen, aber
die einzigen Typen, die sich auf unsere Anfragen meldeten, waren entweder
vollkommene Dilettanten oder gemeingefährliche Psychopathen, denen wir einen
nach dem anderen eine Absage erteilen mussten. Und so kam es, wie es kommen
musste: Tom erschien eines Tages ebenfalls nicht zur Probe und ich saß allein
im wabernden Rauschen meines Verstärkers und klimperte vor mich hin, in
Gedanken an die großartigen Momente der letzten Jahre.
Ich
beschloss, mich ebenfalls um mein Leben zu kümmern, dass während der letzten
Jahre vollkommen aus dem Ruder gelaufen war. Ich hatte die Schule geschmissen
und hielt mich mit unterbezahlten Nebenjobs über Wasser. Meine Mutter ließ mich
noch zu Hause wohnen, aber sie sprach nicht mehr mit mir, ignorierte mich gar
vollkommen, um mir zu zeigen, wie enttäuscht sie von mir war. Zumindest sparte
ich mir die Miete und hatte ein Dach über dem Kopf, aber all das bedeutete mir
wenig, denn mir fehlten die Musik und die Euphorie eines Gigs. Wenn man einmal
dieses berauschende Gefühl erlebt hat, auf einer Bühne zu stehen, den Geist der
Musik mit anderen Menschen zu teilen und eins zu sein, mit dem Klang der Welt,
dann kann einen nichts anderes mehr begeistern.
Ich
bewarb mich schließlich um eine Ausbildungsstelle und fing eine Lehre zum
Industriemechaniker an. Die Laune meiner Mutter besserte sich, was das
Zusammenleben mit ihr enorm erleichterte. Ich arbeitete hart und fiel jeden
Abend müde und ausgelaugt ins Bett, nur um am nächsten Morgen in einen ähnlich
zermürbenden Tag zu starten. Die Tage glichen tatsächlich einer dem anderen,
nur das Wochenende spendete den Trost der Variation, doch variierten sie nur
scheinbar, denn im Endeffekt gestaltete sich jedes Wochenende wie das andere.
Freitags zog ich mit Freunden um die Häuser, versuchte Mädchen aufzureißen und
betrank mich maßlos. Für den Samstag nahm ich mir stets vor, zu Hause zu
bleiben und an neuen Songs zu arbeiten, aber ich hielt es nie lange in meinem
vernachlässigten Zimmer aus und widmete mich stattdessen den gleichen sinnlosen
Anstrengungen, das Leben zu vergessen, wie am Tage zuvor. Die Variation war
letztendlich wie so vieles im Leben nur eine bloße Illusion und ich wusste,
dass es so nicht weitergehen konnte, doch ich ließ mich treiben im eiskalten
Strom der Belanglosigkeit, ich wollte nicht mehr auf Sinnsuche gehen, wollte
nur noch leben und meine Pflichten erfüllen, die mich zu einem Menschen von
Vielen machten.
Es
war ein grauer, nichtssagender Mittwoch gewesen, als ich meinem Chef sagte,
dass er sich selbst ficken und sich dann eine Kugel in seinen fetten hässlichen
Schädel schießen solle, was ohne Umschweife dazu führte, dass ich meine
Ausbildung an den Nagel hängen konnte.
Ich
weiß nicht mehr, was mich dazu getrieben hatte, aber ich erinnere mich noch
sehr genau an den Augenblick, als ich aus der großen Maschinenhalle ins
milchige Tageslicht trat und mich die so lang entbehrte Freiheit und ein
unbeschreiblicher Drang zu leben wie ein Feuer durchflutete. Ich hatte noch
Tage danach dies Grinsen im Gesicht, wie es nur einen Menschen zieren kann, der
nach langer Zeit der Selbstleugnung plötzlich wieder Sinn und Struktur in der
Welt entdeckt und dem augenblicklich alle Möglichkeiten und Träume offen zu stehen
scheinen.
Meiner
Mutter erzählte ich zunächst nichts von meiner Kündigung, ich behauptete ich
sei krank und sie beließ es dabei. In ihrer Welt gab es andere Sorgen und sie
vertraute mir immer noch wie einem Heiligen, obwohl sie genau wusste, dass ich
alles andere war als das.
Ich
hatte einiges an Kohle angesammelt und beschloss, mein kleines Vermögen bis auf
den letzten Pfennig in Alkohol und Drogen zu investieren. An einem dieser
verkorksten Abende traf ich auf Trent, einen jungen Amerikaner, der von zu Hause
ausgerissen war, um das dunkle Europa kennenzulernen, wie er es nannte und um
Inspiration für seine Musik zu finden. Er spielte Bass, war unglaublich
hässlich und sprach kaum Deutsch, aber wir hatten eine Menge Spaß an diesem
Abend, ich spendierte ihm und mir selbst zahlreiche Drinks und wir quatschten
jede Frau an, die in unsere Nähe kam, egal ob sie hübsch war oder nicht.
Natürlich bekamen wir eine Abfuhr nach der anderen, was nicht nur daran lag,
dass Trent so ein hässlicher Fucker war, aber wir lachten nur, wenn uns wieder
eine abblitzen ließ und bestellten Tequila, Rum und Wodka, bis wir nicht mehr
stehen konnten.
Wir
trafen uns am nächsten Abend im Proberaum, um zu jammen, ich glaube ich sah
nicht besser aus als der dürre Trent, denn ich hatte den Kater meines Lebens,
aber ich freute mich dennoch auf die Session und hoffte sehr, dass Trent so
spielen konnte, wie er trank. Wir hatten uns schnell gefunden, er spielte sehr
groovelastig und akzentuiert, was mir sehr gefiel, da es meinem eher unsauberen,
dynamischen Spiel eine feste Grundlage gab. Wir sprachen kaum miteinander,
ließen vielmehr die Instrumente sprechen und ich freute mich sehr, dass Trent
ähnlich wie ich den Hang zu traurigen Melodien und melancholischen Flächen
hatte, die sehr an die glorreichen Siebziger erinnerten. Wir beschlossen, uns
regelmäßig zu treffen und nach weiteren Musikern Ausschau zu halten, damit wir
eine Band gründen konnten. Mein Herz hörte nicht auf, wild gegen meine Brust zu
schlagen, als ich abends in meinem heruntergekommenen Zimmer saß und an die
Zukunft dachte.
Eines
Tages brachte Trent einen schüchternen, kränklich aussehenden Rotschopf mit in
den Proberaum, der aussah, als wäre er jahrelang von einem Perversen in einem
dunklen Keller gefangen gehalten worden und erst seit ein paar Wochen wieder in
Freiheit. Er sprach sehr leise und sah einem dabei nicht in die Augen, aber ich
mochte ihn, da er mich an einen Freund erinnerte, den ich in der Grundschule
gehabt hatte. Der Junge hieß Gabriel und war ein sehr talentierter Drummer.
Gleich bei der ersten Session mit ihm hatten wir bereits ein paar grobe Songs
zusammen, deren dunkle Schwermütigkeit und destruktive Melancholie uns selbst
überraschte. Mir fiel auf, dass Gabriel selten bis überhaupt nicht lächelte,
aber wenn er am Schlagzeug saß, leuchteten seine Augen auf eine unheimliche
Weise und verrieten seinen Zorn und seinen Willen, der Welt ihre
Ungerechtigkeit und Grausamkeit für alle Zeiten heimzuzahlen. Wir probten
daraufhin so oft wir konnten und da wir alle drei arbeitslos waren, kamen wir
ziemlich oft dazu, an neuen Songs zu arbeiten. Wir verzichteten irgendwann
sogar darauf, uns für die nächste Session zu verabreden, denn irgendeiner von
uns war immer im Proberaum und es war eine Frage der Zeit, wann der Rest letztlich
eintrudelte.
Ich
versuchte mich als Sänger, aber mehr als wütendes Gebrüll brachte ich nicht
zustande. Ich wollte es schon aufgeben und auf einen vernünftigen Sänger
warten, aber Trent bestand darauf, dass ich wenigstens in den harten Passagen
meinen Hass in die Welt hinausschrie. Er war der Meinung, dass durch das
Gebrüll etwas mehr Menschlichkeit in unsere Klangwelten gebracht würde und dass
es den Zuhörer dazu brächte, die Songs nicht mehr nur als Songs, sondern als
Fragmente ihres eigenen verworrenen Lebens wahrzunehmen. Mir war es gleich,
aber ich bemühte mich, meine Gesangs- oder besser Geschrei-Passagen auf ein
Minimum zu beschränken, auch weil es mich zu sehr von der Intensität der
Harmonien ablenkte.
Gabriel
erwies sich als wahres Genie, was die lyrische Komposition von Worten und
Metaphern anging. Mir war bereits aufgefallen, dass er zwar wenig sprach, doch
wenn er etwas sagte, er sich immer Zeit ließ, die richtige Ausdrucksweise zu
finden, um seine komplexen Gedankenbilder zu vermitteln. Ich fragte ihn, ob er
nicht einen Text für einen Song schreiben wolle, an dem wir gerade arbeiteten
und er willigte ein. Er ließ sich Zeit mit der Schreiberei und stellte
plötzlich Trent und mir Fragen über Fragen, was wir empfänden, wenn wir den
Song spielten, welche Bilder die Melodien in uns hervorrufen würden und
dergleichen. Es war ein schwermütiger Song von knapp neun Minuten, er war recht
einfach gestrickt, entwickelte aber eine kaum spürbare Dynamik, die gegen Ende
in einem alles zerfetzenden Chaos aus Störgeräuschen, Geschrei und wilden,
unaufhaltsamen Bassrhythmen mündete. Der ruhige Einstieg erinnerte mich jedoch
immer an den Ozean, die schwarze Stille tief unten im Meer, in der kein Mensch
überleben, es keinen Raum für Neid, Hass und Gier geben kann. Gabriel gefiel
diese Vorstellung, auch wenn er seltsam entrückt vor sich her starrte, während
ich ihm meine Bilder beschrieb.
Als
ich den Text das erste Mal las, wurde mir schwer ums Herz und ich wusste, dass
es genau das war, wonach der Song geschrien hatte. Es war ein kryptisches
Gedicht ohne Titel und entwarf Bilder eines kleinen Mädchens, dass immer tiefer
in die Dunkelheit des Ozeans hinabgezogen wurde und mit jedem Meter, den es in
die unendliche Tiefe sank, mehr und mehr Erinnerungen an ihr vorheriges Leben
als Mensch, als Schwester, als Tochter und als Freundin von sich abwarf. Die
Einsamkeit und Stille der Tiefe ließ sie zu etwas Höherem werden, ein Mensch,
der all sein Menschsein abgeworfen und jegliche Schwäche und Angst verloren
hatte. Ich stellte sie mir als das schönste Geschöpf vor, dass sich ein
menschlicher Geist würde vorstellen können.
Ich
fragte Gabriel, wie er auf dieses Bild mit dem ertrinkenden Mädchen gekommen
sei und er antwortete, dass das Mädchen seine Schwester symbolisiere, die vor
vielen Jahren ertrunken war, nachdem sie beim Schlittschuhfahren auf dem See
ins Eis eingebrochen war. Er sagte das sehr anteilslos, als wäre es die
Erinnerung an einen Film, den er als Kind gesehen hatte, aber wie beim
Musizieren verrieten seine Augen, was wirklich in ihm vorging und ich stellte
keine weiteren Fragen mehr, jetzt nicht und auch nicht in Zukunft, was es mit
den Metaphern in seinen Texten auf sich hatte. Ich ließ sie einfach wirken und
freute mich jedesmal aufs Neue, dass sie stets wie das letzte fehlende Teil
eines Puzzles zur Musik passten.
Wir
gaben dem Song den Titel "The Beauty Of Drowning" und es wurde uns
zum Ritual, jede unserer Proben und späteren Konzerte mit ihm zu beginnen.
Artjom
komplettierte schließlich unsere Band. Er war ein sehr fähiger und kreativer
Gitarrist, der mir in technischer Sicht um einiges voraus war. Er war
gebürtiger Russe und hatte von Natur aus Freude an melancholischen Harmonien.
Wir ergänzten uns sehr. Wenn ich ein Riff oder eine Melodie spielte, dauerte es
keine zwei Minuten und Artjom hatte ein entsprechendes Gegenstück aus den
Fingern geschüttelt, welches das Gitarrenspiel um milliarden Welten erweiterte,
ohne ihm die ursprüngliche Intension zu nehmen. Nicht nur unser Vorzeigestück
"The Beauty Of Drowning" gewann durch ihn an Klangfülle und
Intensität, sondern unser gesamter Sound wurde breiter, offener und lebendiger.
Wir klangen nicht mehr so roh und hart wie in unseren Anfangstagen, unsere
Songs fühlten sich an wie schwarzes Wasser, dass jedesmal aufs Neue in einem
immer wieder variierenden Strom in die Zukunft floss. Wir entschlossen uns
kurzerhand, auch unsere Band "The Beauty of Drowning" zu nennen und
das Ertrinken sowie den Ozean als leitendes Motiv in all unseren Songs zu
etablieren.
Die
ersten Konzerte kamen und wir spielten wie gewohnt vor kleinen Gruppen von
Zuhörern. Seltsam war, dass die Leute anders als damals bei den
Fuckfest-Auftritten weder ausrasteten, noch sonst große emotionale Regungen
zeigten, sondern vielmehr wie paralysiert vor der Bühne standen und uns mit
unergründlichen Augen anstarrten, als kämen wir aus einer anderen Welt. Heute
vermute ich, dass sie uns einfach nicht einordnen konnten, nicht verstanden,
wie man so traurige Musik machen konnte. Ich stellte fest, dass die meisten
Menschen Musik als etwas erachteten, dass sie von der Sinnlosig- und
Traurigkeit des Lebens ablenken sollte und sie nicht mit der Nase direkt
hineinstoßen durfte. Aber genau das taten wir und sprachen damit nicht
jedermann auf Anhieb an.
Aber
es war uns egal, was die Leute von uns hielten, denn wir wussten, dass wir
nichts anderes machen wollten, das The Beauty Of Drowning genau das war, was
unsere Verbindung, was jeden einzelnen von uns ausmachte. Und so spielten wir
weiter, mal vor hundert, mal vor zehn Zuhörern und immer war da die kleine Zahl
an Gästen, deren Nerv wir trafen, die dankbar waren für das, was wir zu geben
hatten und das war für uns wichtiger, als die Massen zu begeistern.
Doch
das Geld wurde knapp und da wir an den Konzerten eher schlecht als recht
verdienten, war es uns bald nicht mehr möglich, die Miete für unseren Proberaum
zu bezahlen. Trent flog aus seiner Wohngemeinschaft und lebte von da an im
Proberaum. Artjom wohnte in einem Wohnwagen und Gabriel und ich teilten uns
mein Zimmer in der Wohnung meiner Mutter, was seltsam gut funktionierte, denn
Gabriel war ein angenehmer Mitbewohner, der mit wenig zufrieden war.
Wir
gingen also wieder auf Jobsuche, um unsere Musik zu finanzieren. Ich arbeitete
als Kommissionierer für ein Maschinenbauunternehmen, Gabriel fand eine Stelle
als Briefträger. Artjom lebte weiterhin von den Tantiemen seines Großvaters,
der vor vielen Jahren ein russisches Weihnachtslied komponiert hatte. Es war
ein Hungerlohn, aber Artjom war bescheiden und sein Wohnwagen ersparte ihm hohe
Mietkosten. Trent verdingte sich zunächst als Straßenmusiker, konnte allerdings
kaum Gewinne erzielen, weil er erstens sehr uninspiert Gitarre spielte und
zweitens durch seine drahtige Hässlichkeit die Leute vergraulte. Er ließ eines
Tages dann einfach seine schäbige Klampfe im Proberaum und setzte als Bettler
auf das Mitleid der Leute, was um einiges besser funktionierte.
So
vergingen die Jahre, wir spielten einige Konzerte und gewannen eine kleine
Fanbase, die uns von Gig zu Gig folgte und uns das Gefühl gab, eine kleine
gemeinsame Familie zu sein. Trent hingegen widmete sich mehr und mehr dem
Alkohol, was für uns zunehmend zum Problem wurde. Musikalisch lieferte er
weiterhin Qualität, es war unglaublich, wie besoffen er bei manchem Auftritt
gewesen war und trotzdem sauber und mit Gefühl Bass gespielt hatte. Doch sein
körperlicher Zustand verschlechterte sich von Monat zu Monat und es war eine
Frage der Zeit, wann er komplett abrutschen und sich um den Verstand saufen
würde. Wir redeten stundenlang mit ihm, meldeten ihn für eine Entziehungskur
an, doch er ließ nicht ab vom Trinken. Eines Tages war er fort; da, wo vorher
sein Bass und seine Schlafecke gewesen war, lag ein Zettel auf dem in kaum
lesbaren Lettern geschrieben stand, dass er nach Indien reisen und sich selbst
finden wolle.
Trents
Verschwinden warf die Band in einen dunklen Abgrund und es war wieder wie
damals mit The Fuckfest, dass dieser eine Schlag das komplette Gleichgewicht
der Gruppe zerstörte. Artjom hatte schon lange mit dem Gedanken gerungen, nach
Russland zurückzukehren, um eine Familie zu gründen, hatte sich aber wegen der
Band und der Musik nie überwinden können. Jetzt taumelte die Band und er sah
seine Chance gekommen. Alles reden half nichts, so verloren wir auch ihn an die
große weite Welt.
Gabriel
und ich blieben zurück und suchten noch eine Weile nach geeignetem Ersatz, doch
wir wurden mit keinem der Bewerber so richtig warm. Die Band war wie eine
Familie für uns gewesen. Einen Bruder oder einen Vater kann man schließlich
auch nicht einfach durch jemanden ersetzen. Und so verzichteten wir auf das
Vorhaben, The Beauty Of Drowning fortzusetzen und beschlossen, erstmal eine
Pause zu machen und unsere Leben in den Griff zu bekommen.
Gabriel
fand einen Job bei einem Verlag und er zog nach Berlin. Es war ein trauriger
Abschied gewesen und ich hatte Tränen in den Augen, als ich ihn gehen ließ.
Ich
habe sie alle bis heute nicht wieder gesehen. Was aus Trent und Artjom geworden
ist, weiß ich nicht. Gabriel schrieb mir Jahre später eine Email und wir
tauschten unsere Nummern aus, aber es kam nie zu einem Wiedersehen.
Heute
arbeite ich als Verkäufer in dem Plattengeschäft meines Bruders. Seit The
Beauty Of Drowning habe ich nie wieder in einer Band gespielt und vermisse es
auch nicht. Ich habe eine wunderschöne Tochter und eine biestige Ex-Frau, die
ich trotz all dem Ärger, den wir die letzten Jahre hatten, über alles liebe.
Ich habe eine kleine gemütliche Wohnung am Stadtrand, bin gesund und freue mich
auf die Zukunft mit meiner kleinen Familie, doch ich weiß auch, dass mich bis
ans Ende meiner Tage die Zweifel foltern werden. Was wäre wenn...? Diese Frage
stellen wir uns alle nicht nur einmal in unserem Leben. Doch was bleibt ist
stets die Gegenwart, das was tatsächlich geworden ist. Alles andere sind
Erinnerungen, Wünsche, Träume die eines Tages verblassen, wenn wir in die
Tiefen des Ozeans hinabsinken und alles Meschliche von uns abwerfen.
Am
Ende aller Tage sind wir alle schön. Frei von Elend und Angst, Hunger und
Traurigkeit. Im Ertrinken liegt der Glanz der Ewigkeit. Dieses Geschenk gebührt
uns allen.
Dem
einen früher, dem anderen später.
-
Alle Personen und Begebenheiten sind frei erfunden. Dies ist keine
Bandbiografie. -