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Donnerstag, 14. August 2014

Mord ist mein Hobby

Tagsüber verkaufe ich Versicherungen, in der Nacht töte ich Menschen.
Anfangs erschienen mir diese beiden Welten konträr und unvereinbar, doch mit der Zeit stellte ich fest, dass sich der Tag nicht besonders von der Nacht unterscheidet.
Das Leben besteht aus Handlungen, Aktionen. Wir gleiten durch den Kosmos, von einem Ort zum anderen, bringen Bewegung in die Stasis des Universums, ohne zu wissen, warum und was all dieses Handeln letztendlich bezwecken soll. Wir tun einfach, was wir für richtig, sinnvoll, bedeutend erachten, denn nichts zu tun, nichts zu sein, das erscheint uns widernatürlich, sinnlos und falsch.
Falsch, richtig...
Auf die Frage, warum ich Menschen töte muss ich mit einer Gegenfrage antworten. Warum verkaufe ich Versicherungen? Um zu leben, wird man mir entgegnen, denn Versicherungen bedeuten Geld und Geld ist Leben. Aber um Geld geht es hier nicht. Auch für das Morden bekäme ich Geld, wenn ich es innerhalb eines Gewerbes ausführen würde, aber ich morde nicht für Geld. Es ist vollkommen gleich, ob ich für das Verkaufen von Versicherungsverträgen oder für die Elimination von Individuen auf Provisionsbasis bezahlt werde. Ich könnte natürlich für beide Tätigkeiten Geld verlangen und doppelt absahnen, aber bedeutet mehr Geld auch gleichzeitig mehr Leben?
Ich brauche nicht mehr Geld. Ich habe Geld genug.
An dieser Stelle würde mir wohl spätestens das Argument der Moral begegnen. Versicherungen sind gut, das Morden ist schlecht; Leben ist gut, der Tod ist schlecht usw... Schön, befassen wir uns mit der Moral. Aber nur kurz, denn dies Thema ist mir höchst zuwider, weil es immer und jedes Mal ins Leere führt. Ich glaube nicht an die Theorie, dass jedem Menschen eine ihm angeborene Moralität inne ist. Moral ist ein Produkt. Sie wird von Menschen gemacht, nicht durch die Geburt erworben.
Eine Moral ist immer ein Abkommen, das gewisse Prämissen als gegeben annehmen muss, um Bestand zu haben. Wir leben in einem sozialen Gefüge, einer sogenannten Gesellschaft. Deshalb beschließen wir, dass alles, was jener Gesellschaft Vorteile oder Annehmlichkeiten verschafft, gut und alles, was der Gemeinschaft schadet, schlecht ist. Ich bin ein guter Mensch, wenn meine Handlungen nicht nur gut für mich selbst, sondern für alle anderen Mitglieder meiner Gesellschaft gut sind.
Das ist absurd.
Was bringt es meiner Gesellschaft, wenn ich imaginäre Sicherheit in Form von Verträgen verkaufe, um ein Unternehmen reich zu machen und Papier zu erhalten, mit dem ich meine Rechnungen bezahlen kann. Ist es da nicht viel sinnvoller, die Bevölkerungsdichte durch ein paar gut strukturierte Morde zu verkleinern und dadurch den Divisor, der all unseren wunderschönen Reichtum in kleine Fetzen aufteilt, zu minimieren? Wäre es moralisch nicht ratsamer, dass ein jeder Bürger hin und wieder zur Waffe greift und seinen Nächsten richtet?
Nicht, dass mir daran etwas gelegen wäre. Es ist mir gleich, was die Anderen tun.
Ich lebe, ich handle, ich werde vergehen und alles vergessen, so wie die Welt mich vergessen wird, das Universum die Welt, usw. und so fort.
Es gibt kein Gut oder Böse, Richtig oder Falsch.
Es gibt nur Handlungen, Aktionen. Materie, die auf Materie einwirkt. Materie, die vergeht; Materie, die neu entsteht.
Der Mensch unterliegt dem Drang, die Welt in seine Muster zu pressen. Dabei scheitert er immer wieder aufs Neue und merkt es nicht einmal. Stattdessen lebt er eine Lüge und fragt sich, warum er unglücklich ist.
 
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Nacht.
Es ist jetzt 23:49 Uhr. Zeit, ein Leben zu beenden. Ich ziehe meinen Mantel über und verlasse meine Wohnung. Ich lasse mich treiben, kein Ziel, keine Wünsche.
Ich bringe Bewegung in die Stasis des Universums.
Materie bewegt Materie bewegt Materie bewegt Materie.

Ich wähle meine Opfer ohne Bedacht. Es spielt keine Rolle, wen ich eliminiere. Es geht mir nicht um Motive, Persönlichkeiten oder dergleichen. Manchmal macht es mir sogar überhaupt keinen Spaß, dann stelle ich mir vor wie schön es wäre, einfach vor dem Fernseher auf der gemütlichen Couch zu liegen und mich vom flimmernden Nonsens in den Schlaf wiegen zu lassen. Und trotzdem: Irgendetwas zieht mich jede Nacht hinaus ins Dunkel, dem Tod entgegen, der nicht mein eigener ist.
Diese Nacht wird es den jungen Mann treffen, der mir gerade gegenübersitzt. Er starrt gedankenverloren aus dem zerkratzten Fenster der Straßenbahn, wir sind die einzigen Fahrgäste im vorderen Wagen. Als ich mich vor wenigen Minuten zu ihm gesetzt habe, haben sich unsere Blicke für den Bruchteil einer Sekunde getroffen. Seine müden Augen müssen das Blitzen in den meinen  gesehen haben, doch vermutlich erschien ihm dieses Detail nicht relevant; es ließ ihn weder in Sorge noch in Unruhe verfallen.
Ich starre ihn seitdem an, unmerklich lächelnd, präge mir jedes Detail seines Gesichts ein, um mich später an den Ausdruck der Angst erinnern zu können, den es unweigerlich annehmen wird, kurz bevor ich ihn über den Styx in die Unterwelt schicke.
Wie ich diesen Kontrast liebe! Diese geheuchelte Kontrolle, die all die müden Gesichter durchfließt, das in Stein gemeißelte Nichts, mit dem sich alle Menschen schmücken, sobald sie ihr Haus verlassen; die kalte, nichtssagende Maske, von der sie glauben, dass sie ihr Innerstes vor all den bösen Blicken schützt, vor jedem Angriff auf ihre ach so empfindliche Privatsphäre. Und dann, plötzlich, das absolute Grauen, die nackte Angst, wenn sie ihres letzten Atemzugs gewahr werden, die Panik, wenn das Unabwendbare sich über sie neigt, wie ein schwarzer, blutschwerer Schleier.
Kontrolle ist nur eine Illusion. Nicht mehr als eine durch Gewohnheit und Ignoranz geformte Lüge.
Der junge Mann bemerkt nun endlich mein Interesse. Wieder kreuzen sich unsere Blicke. Jetzt wird er doch ein wenig unruhig, er weicht aus und starrt wieder aus dem Fenster, aber diesmal spüre ich, dass er mich im Augenwinkel mustert. Er überlegt, ob er sich auf einen anderen Platz setzen soll, aber er verwirft diese Idee, das wäre zu auffällig, er würde die Konfrontation geradezu heraufbeschwören. Ich spüre, dass er noch eine gute Strecke zu fahren hat, aussteigen ist also auch keine Option, die nächste Bahn in diese Richtung kommt erst in einer Stunde und wir sind hier mitten im Nirgendwo.
Ein Ruck geht plötzlich durch seinen Körper, ich kann seinen Entschluss bereits Meilen weit im Voraus erkennen. Er holt tief Luft. All seine Muskeln spannen sich an, er ballt seine rechte Hand zur Faust. Dann, ganz langsam, wendet er sich zu mir und versucht sich an einem selbstbewussten Blick, doch das Flackern in den Tiefen seiner hellblauen Augen verrät ihn.
"Kann ich Ihnen irgendwie helfen?", fragt er mit fahler Bestimmtheit in seiner jungenhaften Stimme.
Mein Lächeln erstirbt augenblicklich und mit ihm auch die fragile Selbstsicherheit meines Gegenübers.
"Ich... Ich meine...", stottert das Männlein. "Sie starren mich die ganze Zeit an, als wollten Sie was von mir." Er weicht meinem Blick aus, dann zwingt er sich, mir in die Augen zu schauen. Seine Hände schwitzen, seine Stimme zittert. Er zupft an einem Knopf seines verwaschenen Hemdes. Der Knopf wird bald abfallen. Er hängt nur noch ein einem dünnen Faden. "Ich... ach, vergessen Sie´s." Er steht auf und setzt sich in eine Vierergruppe am anderen Ende des Wagens.
Ich schaue aus dem Fenster und blicke meinem fahlen Abbild in die Augen. Ich lächle wieder. Heute Nacht habe ich Spaß an meinem kleinen Hobby.
Materie bewegt Materie bewegt Materie...

Natürlich folge ich dem Mann, als er aussteigt. Wir scheinen die einzigen Menschen zu sein in dieser eisigen Winternacht. Ich halte mühelos mit ihm Schritt, obwohl er sich größte Mühe gibt, mich abzuschütteln. Als wir in eine Seitenstraße einbiegen bleibt er plötzlich stehen, dreht sich um und starrt mich finster an. Ich bleibe ebenfalls stehen und inhaliere seine Angst.
"Was wollen Sie?", ruft er mir mit zitternder Stimme entgegen. "Ich werde die Polizei rufen, wenn Sie mich nicht auf der Stelle in Ruhe lassen!"
"Die Polizei?", erwidere ich freundlich.
"Ja, genau!", ruft der Mann. "Ich ruf die Bullen, wenn Sie nicht auf der Stelle..."
"Knackiger Salat.", sage ich ruhig, ohne ihn aussprechen zu lassen.
Der Mann starrt mich fragend an. "Wa... was?", murmelt er mehr zu sich selbst.
"Knackiger Salat.", wiederhole ich nüchtern und gehe einen Schritt auf ihn zu. "Knackiger Salat mit warmen Hähnchenstreifen."
Der Mann taumelt benommen zurück, sein Blick fällt auf meine linke Hand, die sich in meiner Manteltasche verbirgt und etwas zu umklammern scheint. "Was soll die Scheiße?" ruft er mit schriller Stimme. "Bleiben Sie weg, Sie Psychopath!"
Jetzt beginnt er zu rennen.
Zu spät. Er hat mich zu nah an sich rankommen lassen. Mit einem Sprung bin ich in seiner Reichweite. Während er sich noch umwendet, greife ich um seinen Nacken und schnüre ihm mit meinem Unterarm die Luft ab. Dann ramme ich ihm die Spritze in den Oberschenkel, ersticke seine Hilferufe, bis sich seine Muskeln entspannen und er langsam auf die Knie hinabsinkt.
"Was... warum...", murmelt er benommen. Sein Blick ist klar, nur sein Körper gehorcht ihm nicht mehr. "Wammmh..."
Mehr bringt er nicht mehr hervor, während er wie ein nasser Sandsack vornüber auf den schwarzen Asphalt klatscht. Ich setzte mich zu ihm - die Straße ist kalt wie Eis. Dann nehme ich seinen leblosen Kopf in den Arm, streichle ihm durch sein feines, blondes Haar und schaue dabei gedankenverloren in den wolkenverhangenen Nachthimmel.
"Zur Herstellung von Teewurst werden Schweinefleisch - oftmals auch Rindfleisch - und Speck grob oder fein im Fleischwolf gemahlen, Verhältnis eins zu zwei.", flüstere ich sanft, und genieße dabei das wilde Zucken seiner Pupillen, das mir verrät, dass er panisch ist.
"Daraufhin wird es mit Gewürzen verfeinert", fahre ich fort, "in Därme gestopft und meist über Buchenholz geräuchert." Ich küsse den jungen Fremden auf die heiße Stirn und halte ihn wie ein zu groß geratenes Baby in meinen Armen, wiege ihn sanft hin und her, als wäre er mein Sohn und ich ein junger Vater. Ich lächle ihn an, mein Blick sagt hab keine Angst.
"Anschließend muss die Wurst sieben bis zehn Tage durch Milchsäuregärung reifen, um ihren typischen Geschmack zu entwickeln. Teewurst hat einen Fettanteil von 30 bis 40 %, was sie besonders streichfähig macht."
Ich schaue mich noch einmal um, niemand zu sehen, keine Seele in Sicht. Alles ist still und friedlich.
Der Wald ist nicht weit, denke ich.
"Komm, mein Sohn.", sage ich feierlich, richte mich auf und schlage mir den Schmutz vom Mantel. "Wir machen jetzt einen kleinen Spaziergang."
Der Kerl ist so leicht wie er aussieht. Ich werfe seinen leblosen Körper über meine breite Schulter und marschiere auf die schwarzen Fichten zu, die den Waldrand markieren.
"Alles was du siehst, lebt in einem empfindlichen Gleichgewicht zusammen, Simba.", beruhige ich meinen neuen, fremden Freund. "Als König musst du ein Gespür dafür haben und alle Geschöpfe respektieren - von der winzigen Ameise, bis hin zur graziösen Antilope."
"Mmöm...", macht mein neuer, fremder Freund. "Mmöm, Mmöm."
"Ei, ei, mein kleiner Hosenmatz.", lache ich. "Hab keine Angst. Es regnet, es regnet und die Erde wird nass."
"Mmöm...", macht der Fremde traurig.
"Die Erde wird nass, verstehst du das?"
"Mmöm..."
"Komm, lass gut sein. Ich mach doch nur Spaß."
Der Wald atmet uns ein, wie ein gigantisches Ungeheuer aus längst vergessenen Zeiten. Die Schatten der Bäume umschließen uns und augenblicklich scheint die Zeit stillzustehen.
Einatmen, ausatmen...
Materie bewegt Materie...

Es dämmert bereits, als der Fremde endlich seine Sprache widerfindet. Lange haben wir im Schein des Feuers so da gesessen und uns schweigend in die Augen geblickt, das heißt viel mehr, ich habe auf einem umgestoßenen Baumstamm gesessen und er musste, seiner eingeschränkten Körperfunktionen geschuldet, leicht gekrümmt im feuchten Laub liegen, den Blick zu mir gewandt, mit der linken Gesichtshälfte in einem Ameisenhaufen.
"Waarump...", murmelt er plötzlich heiser, als hätte er seit Jahren nicht mehr gesprochen. "B... Bittee..."
"Warum...", wiederhole ich tonlos. "Warum, warum, warum, warum..."
"Bitte...", sagt der Fremde noch einmal.
"Bitte, bitte, bitte, bitte." antworte ich und zucke die Achseln. Ich zünde mir eine Zigarette an. "Warum und Bitte. Zwei Worte, die das Wesen des Menschen unglaublich treffend beschreiben, findest du nicht?" Ich nehme einen tiefen Zug, der Rauch brennt unangenehm in meiner Lunge und erinnert mich an traurige Zeiten voller Leere und Unzufriedenheit.
Das war einmal denke ich. Dann fahre ich mit ruhiger Stimme fort:
"Fangen wir mit dem "Warum" an. Was soll dieses ewige Gefrage, das ständige Verstehen-Wollen? Der Mensch erlernt das Sprechen und schon fragt er Warum?, Wieso?, Weshalb?. Und das Beste ist, dass er tatsächlich eine Antwort erwartet. Eine Antwort von Gott, von der Natur, von der Vernunft, von der Liebe, et cetera, und so weiter, wie auch immer..."
Ich lächle dem Fremden zu, der mich mit glasigen Augen und gelähmtem Gesicht flehend durch die Flammen anstarrt.
"Ich kann dir sagen, warum das Leben kein Geschenk, sondern eine Last für den Menschen ist, mein lieber, fremder Freund." Ein Zug, erneuter Schmerz - und Erinnerung, Verdrängung, Angst.
"Das Leben ist eine Last, weil es keine Antworten gibt."
Ein Uhu in der Ferne beginnt sein nächtliches Konzert, das Holz im Feuer knackt und bricht.
Der Fremde schweigt und wartet.
Noch ein Zug. Ich schließe die Augen und genieße den Moment der Stille.
Einatmen, ausatmen...
"Dinge geschehen", fahre ich schließlich fort. "Materie bewegt Materie, Menschen leben, lieben und vergehen. Das ist der Kosmos des Seins. Es gibt keine Gründe, keinen Sinn. Es gibt nur Geschehendes. Keine Vergangenheit, keine Zukunft - nur Geschehendes. Kein Gut, kein Böse, kein Ich, kein Du. Alles was ist, ist. Verstehst du das?"
Der Fremde gurgelt etwas vor sich hin. Ein Zucken geht durch seinen leblosen Körper. Er versucht womöglich, sich aufzurichten.
"Es ist vollkommen gleich, was ich sage, ob ich überhaupt etwas sage. Warum rede ich eigentlich, warum redet überhaupt irgendwer? Glauben wir tatsächlich, dass wir miteinander sprechen? Dass das, was wir sagen, von irgendwem verstanden wird? Wir machen nur Geräusche, weiter nichts! Wir grunzen vor uns hin, ein Leben lang und merken nicht, dass wir alleine sind, umgeben von undurchdringlichen Mauern."
"B...Bitte...", bringt der Fremde endlich hervor. "Hilfee..."
Wie er das sagt, amüsiert mich. Ich muss Lachen, nicht aus vollem Herzen, aber dennoch herzhaft.
"Warum, Bitte, Hilfe... alles nur Laute, nur Geräusche ohne Sinn und Bedeutung. Bitte... Ständig bitten wir um etwas. Bitte, lass mich lange leben! Bitte, lass mich reich und glücklich sein! Bitte, lass mich berühmt sein, ich will geliebt werden! Bitte, bitte, bitte!"
Ich rauche die Zigarette auf und schmeiße sie in die knisternde Glut des Feuers.
"Worum bittest du, mein lieber, fremder Freund?" Ich stehe auf, gehe zu dem leblosen Fleischsack im feuchten Laub hinüber und beuge mich über sein Gesicht, dass er das meine kopfüber sieht. "Worum bittest du?"
Er röchelt, er grunzt. Dann sagt er wieder bitte, bitte und noch etwas anderes, das ich nicht verstehe.
"Möchtest du leben? Ist es das was du willst?"
Er versucht zu nicken, doch er schafft es nicht seinen Kopf wieder aufzurichten. Ich helfe ihm dabei, damit er mir weiter in die Augen sehen kann.
"Egal, was du möchtest, was du mir sagen, vermitteln willst... Ich werde es nicht hören, geschweige denn verstehen können. Du bist allein, ich bin allein, Dinge geschehen, Materie bewegt Materie bewegt Materie... Teewurst hat einen Fettanteil von 30 bis 40%, die Angst vor dem öffentlichen Urinieren heißt Paruresis... es ist vollkommen gleich, was wir sagen! Nichts ist von Bedeutung, hast du das immer noch nicht verstanden?"
Paruresis... das erinnert mich an etwas.
Ich öffne meine Hose und pisse dem Fremden ins Gesicht. Ein warmer, dunkelgelber Strahl, der in der Kälte der Nacht zu fahlem Dunst kondensiert.
"Mmmöö...", macht der Fremde. Und: "Mmmuuargh...". Es gefällt ihm nicht, was da gerade mit ihm passiert. Es gefällt ihm ganz und gar nicht.
Nachdem ich mein Geschäft verrichtet habe, setze ich mich wieder auf den umgestürzten Baumstamm und lächle meinem bepissten, fremden Freund freundlich zu.
"Woher der Ekel, mein Bester?", frage ich. "Es ist doch nur Materie, die da in deinem Gesicht klebt. Warum ekelst du dich vor meiner Pisse und nicht vor deiner eigenen? Warum vor meiner Pisse und nicht vor den ganzen Menschen um dich herum, die ständig "Bitte, bitte" sagen und "Warum, wieso, weshalb?" und denen du ständig etwas schuldig bist?"
"Bitteee...", stöhnt der Fremde noch einmal, diesmal mit etwas mehr Nachdruck in seiner erwachenden Stimme.
"Nichts gelernt...", seufze ich müde. "Als spräche man mit einer Wand..."
Ich lade die Halbautomatik, mit der ich schon so viele Fremde über den Abgrund geschickt habe, ziele auf die Stirn meines wimmernden, gelähmten Freundes und lege meinen Kopf schief, sodass unsere Augen auf einer parallelen Linie liegen, als stünden wir uns gegenüber.
"Nicht...!" Die Pupillen des Fremden sind geweitet vor Angst. "Bitte nicht..."
"Wir sind alle gleich.", sage ich müde. "Ein Haufen Sternenstaub, verteilt auf acht Millionen Körper. Materie überall. Überall Materie. Es gibt keine Antworten, es gibt keine Fragen. Materie bewegt Materie bewegt Materie..."
"Bitteee...", grunzt der Fremde noch einmal.
Dann drücke ich ab.
Der Knall ist laut, Vögel schrecken aufgeregt aus den Baumkronen in den Himmel, aber mein selbstgebauter Schalldämpfer verhindert, dass das Geräusch aus dem Wald heraus zu den Häusern dringt, in denen Menschen wohnen, die vermutlich gerade bitte, bitte oder warum, warum, wieso vor sich her plappern. Ein blutiges Rinnsal fließt dem Fremden aus seinem Schädel über das bleiche, ausdruckslose Gesicht.
"Staub zu Staub...", flüstere ich leise und lasse mich wieder auf den Baumstamm sinken.
Noch eine Weile sitze ich so da und lausche dem Erwachen des Waldes. Dann stehe ich auf und lösche das Feuer, dabei starre ich den schwarzen Schatten an, der einmal der Fremde war. Ich habe das Gefühl, dass ich noch ein paar Worte sagen sollte, bevor ich mich auf den Weg mache. Ich räuspere mich und verabschiede mich feierlich von meinem fremden, toten Freund:
"Der Blasebalg-Satz besagt, dass es nicht möglich ist, einen Blasebalg durch einen verformbaren Polyeder darzustellen. Für die Herstellung eines polyedrischen Blasebalgs ist daher immer ein verformbares Material notwendig. Zwar gibt es verformbare Polyeder, diese haben jedoch konstantes Volumen."
Der Morgen graut.
Die Arbeit wartet.
Ich verlasse den Tatort und pfeife ein melancholisches Lied, dass ich irgendwann in irgendeinem Film gehört habe. Ich erinnere mich nicht mehr, welcher Film das war, aber die Melodie geht mir seither nicht mehr aus dem Kopf. Warum das wohl so ist?, denke ich.
Zwei Kunden, dann hab ich Feierabend, denke ich weiter, während ich auf die Straßenbahn Richtung Innenstadt warte. Zwei Kunden. Bitte lass den Tag schnell vorüber gehen.
Bitte, bitte, bitte...
Die Straßenbahn kommt und ich steige ein.
 
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Tag.
Es ist jetzt 9:31 Uhr. Zeit, ein paar Versicherungen zu verkaufen. Ich drücke auf den Knopf neben dem Klingelschild auf dem "Fam. Lackmeier" steht, richte meine Krawatte und versuche, nicht an die letzte Nacht zu denken. Ich kann mich nicht treiben lassen, denn ich habe ein Ziel.
Ich bringe Bewegung in die Stasis des Universums.
Materie bewegt Materie bewegt Materie bewegt Materie.
 
"Ich rate Ihnen dringend zu einer Zahnzusatzversicherung, Herr Lackmeier."
Kontrollierte Stimme, kameradschaftlicher Blick. Die Wohnung der Lackmeiers ist ein Monument der Geschmacklosigkeit. Ich hole die Akte mit den Anträgen aus meiner Tasche, selektiere mit geübten Fingern den teuersten Tarif aus der Masse an Unterlagen und schiebe Herrn Lackmeier den Fragebogen lässig über den Tisch entgegen.
"Ich habe hier ein Angebot, das Sie interessieren könnte.", sage ich feierlich.
Herr Lackmeier schaut sich die Unterlagen mit gespielter Souveränität an und tut so, als würde er die Paragraphen lesen. Selbst ein Psychologie-Student im ersten Semester könnte auf den ersten Blick feststellen, dass der fette Metzger keine Ahnung hat, worum es geht und dass es ihm im Grunde auch vollkommen gleich ist. Der Mann vertraut mir. Der Mann lässt mich machen.
Gut für seine Nerven, gut für meine Provision.
Er lobt mich für meine sensationelle Arbeit bei der Versicherung seines Wurst- und Fleischwaren-Geschäftes vor zwei Jahren und sagt mir, ich solle einfach mal machen. Dann bittet er seine Frau, eine Flasche Sekt und ein paar Schnittchen mit hauseigener Wurst zu kredenzen. Die Frau macht, während die Männer im Wohnzimmer Verträge abschließen.
Herr Lackmeier hat gerade die letzte Unterschrift gesetzt, als seine hässliche, ebenfalls fettleibige Frau aus der Küche kommt, mit zwei Gläsern Sekt und einem Teller Schnittchen in den wurstigen Händen.
Wir trinken zufrieden und lassen uns die Wurstschnittchen schmecken.
"Feinste Teewurs´ nach Pommerscher Art!" preist der Metzger die gepressten Fleischabfälle mit vollen Backen an, als wären sie das reinste Ambrosia. "Kommen se ruhisch mal vorbei bei uns, alles nur Top-Qualität!"
Ich nicke lächelnd und "genieße" die "Top-Qualität", während ich mir vorstelle, wie der Schlachtungsprozess wohl ausgesehen haben muss.
Zwanzig Minuten später sitze ich zufrieden in meinem Firmenwagen und pule mir die Fettreste aus den Zähnen.
Materie..., denke ich nüchtern und dabei fällt mir plötzlich ein, aus welchem Film die melancholische Melodie von heute morgen stammt. Ich beschließe, einen Umweg zur Videothek zu fahren und mir den Streifen auszuleihen.
Der Fremde von letzter Nacht erinnerte mich irgendwie an Edward Norton.
Sachen gibt´s.

Dienstag, 22. Juli 2014

Der glückliche Mensch

Wie schwer es doch ist, einen Moment festzuhalten. Kaum wird man gewahr, dass man glücklich ist, schon ist das Glück bereits wieder fort, weitergezogen zum Nächsten, um auch von dort aus wie ein unsichtbarer Geist durch die sich stetig wandelnden Welten zu reisen.
Menschen verändern sich, kaum einer bleibt stehen auf seinem langen, bunten Weg ins Dunkel. Sie sehen sich um, sie streben, sie haben Sehnsucht. Sehnsucht nach dem unsichtbaren Geist, der nur einem einzigen Grundprinzip folgt; einem Prinzip, das der Mensch - und darunter leidet er am meisten - nicht zu steuern vermag.
 
Das Glück folgt dem Prinzip der Willkür.
 
Ich bin ein Mensch, ein Mensch unter vielen. Und doch sind wir alle anders, jeder für sich ein Einzelstück. Wie kann es da Verbindungen geben, eine "Wirklichkeit", eine wahrhafte Welt, ein tatsächliches Jetzt, das wir alle teilen?
Was nützt mir das Erreichen eines Ziels, wenn es stets durch ein neues, noch schwerer zu erreichendes Ziel ersetzt wird?
Warum streben, wenn man leben kann.
Warum Sehnsucht, wenn man doch das Absolute in sich trägt?
 
Leben ist das einzig Absolute, mit Ausnahme vom Tod.
 
Ich lebe.
Das ist alles, was ich brauche, um glücklich zu sein. Ich brauche keinen unsichtbaren Geist, kein Streben, keine Sehnsucht. Alles Glück der Welt fließt durch meine Adern, Tag für Tag, bis das Dunkel mich einholt, erlöst und bestraft zugleich. Warum enttäuscht sein über mein Schicksal? Das Leben ist bereits Geschenk genug. Sehnsucht führt nur zu noch mehr Sehnsucht.
 
Wer fordert, schafft Leere in seinem Herzen.
 
Ich bin ein glücklicher Mensch.
Ich atme.
Ich lebe.
Alles ist gut.

Sonntag, 1. Juni 2014

Misanthropie - Wenn Menschen Menschen hassen

Ich sitze in der Bahn und starre aus dem Fenster. Ich denke nach, wie immer. Ich kann einfach nicht aufhören damit. Ja, ja, ich weiß, dass ich das sein lassen sollte, einfach aufhören sollte mit der Scheiße, loslassen und der ganze Fuck, I know. Aber es geht nicht. Die Maschine läuft unaufhaltsam, ich habe auf den roten Knopf gedrückt und seitdem läuft sie. Oder war es jemand anderes? Ich weiß es nicht mehr...
Heute morgen bin ich aufgewacht und habe ans Sterben gedacht. Das verfickte Sterben, wie so oft. Wie wird es wohl sein? Kurz und schmerzlos? Oder eher das Gegenteil? Warum tun wir jeden Tag die gleichen Dinge, wenn doch jeder Tag etwas Besonderes ist?
Ich schaue mich um im Abteil.
Menschen. Überall Menschen. Jeden Tag Menschen. Immer andere. Immer neue. Oder sind es immer die Gleichen und ich erinnere mich nicht an die Gesichter? Weil sie mir egal sind? Weil sie mir doch nicht nahe sein können? Weil mir niemand wirklich nahe sein kann?
Ich denke ans Sterben, jeden Tag, denke an den Tod, meinen eigenen, den der Anderen, denke an all Diejenigen, die das Schauspiel des Daseins bereits hinter sich gebracht haben; nicht mehr sind - Nichts mehr sind. Denke, denke an dies, denke an jenes. Schaue mir die Gesichter an, die leeren, immer gleichen, immer fremden Gesichter.
Die Frau da, direkt im Abteil gegenüber. Diese Frau... was mag sie wohl denken?

Die Frau denkt:
Was hab ich mich abgemüht! Was hab ich mich abgemüht bisher und nichts! Niemand dankt mir für meine Leistungen! Schau sie dir doch an, alle denken nur an sich! Dabei hab ich doch so viel getan für die Gesellschaft! So viel Einsatz und so wenig Lohn! Manchmal würde ich am liebsten losschreien, sie alle anschreien, diese undankbaren Einzelgänger, würde sie schlagen und beißen, in Stücke reißen, ja das wäre schön, das wäre befreiend... Wegen ihnen mach ich doch das alles, jeden Tag aufs Neue, wegen Euch! Aber ich sitze hier, fahre zur Arbeit, bekomme mein Geld am Ende des Monats... wie eine Maschine, bekomme mein Geld und weiß nicht wohin damit...
Meine Kinder? Sind auch schon zu Maschinen geworden. Jeden morgen aufstehen, anziehen, zur Schule gehen...
Mein Mann? Schaut lieber Pornos im Internet als mich auch nur einmal mit Begehren anzuschauen. Begehren... hat er mich jemals geliebt? Wenn, dann muss es damals gewesen sein... In Italien, am Strand von Cesenatico. Ja, da hat er mich so angesehen. Begehren, Liebe... Ein tatsächliches Gefühl! Doch jetzt... ist da garnichts mehr. Kein Gefühl, nur Leere. Schau dir die Leute hier doch an. Überall Leere! Ich hasse mein Leben, hasse es, hasse es... Ich hasse meine Kinder, hasse meinen Mann und am meisten hasse ich mich... weil ich jeden Morgen aufstehe und das gleiche tue, aufstehe und zur Arbeit fahre; eine Arbeit, die mir nichts bedeutet, eine Arbeit, die ausbeutet, eine Arbeit, die nur von einer Maschine bewältigt werden kann. Ich bin eine Maschine und ich hasse mich dafür. Am Liebsten würde ich einfach aufhören mit diesem Maschinendasein. Wieder leben, frei sein... frei... wie der junge Mann da drüben. Man spürt gerade zu, wie sorglos er ist! Wie ich ihn dafür beneide, wie ich ihn dafür hasse! Ich hasse ihn, weil er frei ist und ich in Ketten vor mich hinvegetiere! Ich hasse diese Welt, die mich zu dem Menschen gemacht hat, der ich bin! ... Was er wohl denkt, der junge Mann da hinten mit den ruhigen Augen, dem entrückten Blick? Was mag er wohl denken? ...

Der Mann denkt:
Fuck, das Leben ist so seltsam. Warum bin ich hier und nicht jemand anderes? Warum musste gerade ich das Rennen gewinnen, warum nicht jemand anderes? Was solls, Mann, was solls, ich bin da, ich atme, ich schaue mir die Straßen Kölns an, hier durch das Straßenbahnfenster. Ich bin da und jetzt muss ich das Beste daraus machen...
Ich muss endlich mal mit den Bewerbungen anfangen, verdammt... Meine Eltern sind echt so saucool, jeden Monat neue Kohle, scheiße, mein schlechtes Gewissen bringt mich noch um, eigentlich ist das viel zu viel Kohle jeden Monat und ich tu garnichts dafür, nichts, null, nada, fuck... und dann das Gras, jeden Tag das verdammte Gras... aber ohne geht es einfach nicht mehr, ich kann dieses ewige Gedankenkarussell einfach nicht ohne Rausch ertragen. Diese Verpflichtungen und das alles... immer dieses ekelhafte Gefühl, einem anderen Menschen etwas zu schulden! Dabei hab ich es mir doch nicht ausgesucht, hier zu sein! Ich will garnicht hier sein, verfickt nochmal! Aber vorm Sterben hab ich zuviel Angst, tolle Scheiße. Einfach gehen kann ich außerdem auch nicht. Was soll aus meinen Eltern werden? Die würden das nicht verkraften, no way... oder Daria... was soll aus Daria werden, wenn ich nicht mehr bin? Ich kann nicht einfach gehen... ich muss diese Schuld abarbeiten. Alles abarbeiten... Morgen fange ich an mit den Bewerbungen, auf jeden Fall! Morgen fange ich mit den Bewerbungen an...
Mann, ich hasse das alles so sehr, warum kann ich nicht einfach so sein, wie ich bin? Warum muss ich mich immer verstellen, etwas darstellen, jemand sein, den Andere sehen wollen? Andere... Immer geht es um die Anderen! Ich hasse die Anderen, sie schreiben Dinge vor, die sie selbst nicht verstehen! Ich hasse euch! Ja, glotzt ruhig weiter blöd aus dem Fenster, ja, glotzt mich ruhig weiter blöd an, ja dich meine ich du alte hässliche Hure da drüben! Glotz mich an und schüttel mit dem Kopf wie es alle tun, sei enttäuscht von mir, sei angewidert, ja! Aber weißt du was? Du widerst mich genauso an! Die ganze Welt widert mich an! Fuck... morgen kümmer ich mich um die Bewerbungen. Morgen schick ich sie raus, echt jetzt...
Morgen... heut hab ich keinen Kopf dazu, bin echt daneben heute, das wird heut nix.
Morgen. Ich steh dann früh auf und...

Plötzlich klingelt irgendwo hinter mir ein Handy. Klingelton: Ebru Gündeş - Dön Ne Olur. Jemand geht ran:
"Alda, was rufs du am um diese Zait? ... Tchüsch, Junge, ich geh McFit, jedem Dienstag ich geh McFit, sei froh dassisch noch nisch am tränierem bin, Oldüm. ... Ya... ... Ya, Man... ...
Brus... Heute nur Brus, Donnestag Bein un Booch un Sanstag Bisseps, Junge... ... Nee, schab umgestellt ya... umgestellt, dem Treningsplahm... ya ya... Alda... du Huuuuuuuremsohn, Otto, schfikkdainmutta ya! ... Schwöre, kom mit am Sanstag Abent Daimönds ya, of de Ringe ya, schwöre schgeh vorher pumpem ya un dann Bitsches klarmachem ya, mit Dick Arm ya, frisch ofgepump ya, schwöre das am geilstem, klapp jedesmal, hab immer eine klargemach, manschesmal sogar suai! ..."

Ich denke jetzt nicht mehr an den Tod. Ich versuche, mir vorzustellen, was der Kerl am Telefon vom Leben hält. Ich stelle mir vor, ich sei der Typ. Ich stelle es mir ganz fest vor... Was denke ich?... Was denke ich...

Der Typ am Handy denkt:
Der Lebem is gut, Alda. Der Leben is gail. Der Leben is so gail. Gleisch Trening, dann gut essem bei Babane, am Wochemende Bitsches klar machem, dann bisschen Arbait, dann wieder Trening, dann Essem bei Babane, dann wieder Bitsches, boah, Lebem is so gail Oldüm, ya, so gail, isch liebe meim Lebem ya, gaile welt, ya...
Wemm dem ganzem doitschem Maserfackers nisch wärem ya, immer schlesch gelaumt ya, immer trorig, isch hasse dem voll ya, dem schais Doitschem ya, isch hasse dem foll ya, boah wie isch dem hasse ya! An Sanstag am bestem wir gehen hinterher noch paar Doitsche klatschem, habem dem verdiemt ya, immer schaise droof dem Bastards ya, Huremsöhne, habem escht paar of dem Fresse verdiemt ya... tchüsch... aber sons alles gud ya...

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Ok, Schluss, Cut!
Worauf will diese Drecksgeschichte hier jetzt eigentlich hinaus, fragst du dich bestimmt gerade - ja genau du! Du, der du bis hierher gelesen hast, und die ganze Zeit versucht warst, dir wie gewohnt deinen Youtube-Mist, Kinderpornos oder sonst irgendeinen Schrott, den deine angeblichen Freunde bei Facebook gepostet haben, reinzuziehen?
Du kommst selbst nicht drauf? Echt jetzt?
Also gut, du selten dämlicher Motherfucker, dann sei dir die Moral von der Geschicht´ an dieser Stelle aufs Brot geschmiert. Achtung, hier kommt sie, die Essenz des soeben Gelesenen, das Salz in der virtuellen Darkness-Suppe:

"Denk nicht nach, mach was dir gut tut, hasse alles oder lass es bleiben... Interessiert keine Sau! Ich für meinen Teil muss jetzt los, Brust, Bein und Bauch trainieren (Bizeps nur am Wochenende) und dann ab in den Club, hübsche Frauen mit meinen Muskeln betören."

Du denkst ans Sterben jeden Tag?
Dann verreck doch, wen kümmert´s, gibt haufenweise Leute, die nur darauf warten, deinen Platz einzunehmen.
Du sehnst dich nach Anerkennung, Liebe, Leidenschaft und Trost? 
Träum weiter, mach deinen Scheiß oder bleib auf der Strecke. Es gibt zu viele Menschen und zu wenig Platz auf diesem Planeten, wer braucht dich, Träumer, der du all diese Dinge verlangst? Mach Platz oder geh mit, aber heul nicht rum, man lebt nur einmal, also mach was draus! Trainiere deine Muskeln, sei eine Maschine, Herz aus Plastik, that´s the way. Wenn dir das missfällt, dann fahr zur Hölle, du wertloses Stück Menschenscheiße.
Du glaubst, das Wettrennen endet mit dem Eindringen in die Gebärmutter? Falsch! Der Wettkampf dauert ewig, bis dein kümmerliches Herz aufhört zu schlagen. Renne oder bleibe liegen im Gras und schau den wahren Läufern beim Marathon zu.
Was, auch das macht dich traurig?
Dann schließ die Augen und halt´ die Luft an, bis alles schwarz wird, bis der Schleier dich einhüllt. Mach Platz für die wahren Läufer.
Oder lauf mit und beweise dir selbst, dass du das Dasein, die Existenz, das Alles verdient hast. Beweise dir selbst, dass du ein Mensch bist.
 
"I... Am I the next? Self inflicted overload.
Thoughts returning to think me away.
I... Will I be reprieved,
or am I just awaiting the sentence of my exquisite,
internal machinery of torture"
(Meshuggah, 1998)

Donnerstag, 3. April 2014

Das Leben ist gut

Ich fühle nichts. Denke an nichts. Begehre nichts.
Es ist wunderbar.
Kein Schmerz, keine Traurigkeit, kein Verlangen nach Liebe, kein Verlangen nach Erfüllung.
Ich nehme die Welt wie durch Watte wahr. Ich bin umgeben von Watte, alles bleibt in ihr hängen, nichts erreicht mein Herz, meine Seele.
Wenn ich falle, spüre ich nichts.
Die Worte der Anderen sind Geräusche, nicht mehr. Die Gesten der Anderen sind simple Bewegungen, aus dem Augenwinkel betrachtet, unbedeutend, ohne tieferen Sinn.
Ich nehme die Welt wie durch Watte wahr.
Wie durch Watte.
Watte.
Ich bin glücklich...
...und spüre es nicht.

13 Uhr, Zeit für die Tabletten. Ich schlucke die blaue und dann die rote.
Sie steht vor mir und schaut mir dabei zu. Sie sieht traurig aus. Warum ist sie traurig? Das Leben ist so wunderbar. Warum ist sie traurig? Alles ist gut.
"Schau nicht so.", sage ich nüchtern. "Du weißt, dass ich das brauche."
Sie wendet ihren Blick ab, aus dem Fenster, in den Regen.
"Ich bin krank. Du weißt das, Marie." Meine Stimme klingt fremd, als gehöre sie jemand anderem. "Willst du, dass es wieder so wird wie früher? Vor der Therapie? Willst du das, Marie?"
Sie schüttelt den Kopf. Sie wird gleich weinen. Ich erkenne es an dem nervösen Zucken, das ihre Mundwinkel umspielt.
"Es geht mir besser durch die Tabletten." Ich folge ihrem Blick in das graue Nass draußen hinter der Glasscheibe. "Uns geht es besser..."
Sie nickt. Sie weint, ihre Augen glänzen. Ich sollte etwas tun, sollte sie umarmen, sollte sie trösten.
Ich tue nichts.
Sie wendet sich ab und geht ins Bad. Ich höre sie schluchzen, hinter der Tür, obwohl sie den Wasserhahn aufgedreht hat, um es zu übertönen. Ich sollte etwas tun, sollte sie beruhigen.
Ich tue nichts.

Später, am Abend. Wir sitzen vor dem Fernseher. Mir gefällt, was ich sehe, auch wenn es mich nicht interessiert. Farben, Menschen. Menschen die reden. Ununterbrochen. Menschen reden ununterbrochen. Ich lausche den Geräuschen, keine Worte, nur Laute. Mir gefällt was ich höre, auch wenn ich es nicht verstehe.
Marie schaltet um. Nächster Kanal, nächster Kanal, nächster und nächster und nächster.
Mir gefällt was ich sehe. Mir gefällt alles.
Ich spüre, dass sie mich anstarrt. Ich sollte ihren Blick erwidern, sollte sie küssen, ihr sagen, dass ich sie liebe.
Ich tue nichts.
Ich spüre, wie sie sich zu mir beugt, spüre ihren Atem auf meiner Wange, ganz sanft, wie durch Watte. Sie streichelt mein Gesicht, mein Haar. Wie durch Watte. Wie durch Watte. Mir gefällt was ich sehe. Was ist das da im Fernseher? Ein Elefant? Ein Mensch spricht. Er macht Geräusche. Der Elefant macht Geräusche. Ich nehme die Geräusche wahr, wie durch Watte. Marie küsst mich, sie streichelt meinen Körper. Wie durch Watte. Sie öffnet meine Hose. Wie durch Watte. Mir gefällt was ich sehe. Geräusche, Laute, Farben, Menschen, die sprechen und sprechen. Elefanten. Tiger. Wüste. Sonne. Marie weint wieder. Ich sollte sie trösten.
Ich tue nichts.

Wochen vergehen. Wir sprechen immer weniger miteinander, schließlich kaum noch, Schweigen immerzu, Schweigen immerfort. Wir sitzen vor dem Fernseher. Mir gefällt was ich sehe. Marie schaut hin, doch ihr Blick ist leer. Keine Küsse, keine Worte, ihre Hände bleiben bei ihr, ihre Gedanken sind weit fort im grauen Nirgendwo.
Mir gefällt was ich sehe.
Die Fernbedienung liegt auf dem Tisch. Niemand schaltet um, es spielt ohnehin keine Rolle. Das Programm ist beliebig, überall sind Farben, Geräusche, Menschen.
Mir gefällt was ich sehe.
Ich schließe die Augen, Zuckerwatte überall.
Zucker. Watte.
Das Leben ist gut.

Eines Tages ist sie fort. Kein Brief, kein Wort, nur Leere neben mir in unserem großen Bett. Ich schlucke die Pillen, erst die blaue, dann die rote. Ich sitze vor dem Fernseher, schwarzer Bildschirm, niemand da, der ihn anmacht, niemand da, der ihn bedient.
Mir gefällt was ich sehe. Jetzt, endlich, verstehe ich es.
Keine Menschen, keine Worte, keine Elefanten, nur Watte. Zuckerwatte überall, um mich herum, auf meiner Haut, meinem Haar, meinem Herzen.
Mir gefällt was ich sehe.
Später, am Abend, ich liege im Bett und starre an die Decke, die Risse in der Farbe, wie Adern, wie Äste, wie Flüsse durch ein farbloses Tal irgendwo im grauen Nirgendwo. Weiß wie Watte. Zucker. Watte.
Mir gefällt was ich sehe.
Ich schließe die Augen und denke an Marie. Kein Schmerz, keine Einsamkeit.
Ich vermisse sie nicht.
Das Leben ist gut.
Ich schlafe ein und träume von Elefanten.
Mir gefällt, was ich sehe.
Elefanten sind gut.
Das Leben ist gut. Endlich verstehe ich es. Der Fernseher ist aus für immer. Schwarz. Für immer. Leer für immer. Schweigen, für immer.
Schwarze Watte, irgendwo im grauen Nirgendwo.
Marie...
Das Leben ist gut.

Mittwoch, 12. März 2014

Ego

"Ich habe den größten Teil meines Lebens damit zugebracht, jemand zu sein, der ich nie sein wollte." Der alte Mann nippt an der Kaffeetasse, aber der Kaffee scheint ihm nicht zu schmecken. "Immer musste ich jemand darstellen, musste eine Rolle spielen. Für meine Eltern, meine Freunde, meine Frau, meine Kinder, meinen Chef, meine Nachbarn... für mich selbst."
Ich betrachte sein von tiefen Falten zerfurchtes Gesicht. Er sieht aus wie ein grauer Fels, kalt und roh. Und doch wirkt er wie ein verlorenes Kind, einsam und verstört. Er blickt mich mit seinen leeren Augen an, ich nehme ein Lächeln wahr, auch wenn es unsichtbar ist.
"Du bist noch jung.", sagt er und nickt dabei wissend. "Du hast noch Hoffnung. Für mich ist das Schauspiel bald vorbei. Keine Texte mehr, keine leeren Gesten. Mein Herz wird bald aufhören zu schlagen... und das Seltsame daran ist, dass es mir wie das Herz eines Fremden vorkommt."
Ich blicke auf seine ledrigen Finger hinab, die die Kaffeetasse umklammern, stelle mir vor, was diese alten Hände alles erlebt haben, die Dinge, die sie verrichtet, die Zärtlichkeit, die sie gespendet, den Schmerz, den sie verursacht haben in all den Jahren ihres Daseins.
"Höre nicht auf die Stimme in dir, Junge.", fährt der Alte fort. "Das Ego ist eine schwere Last und ein großer Lügner noch dazu. Es blendet dich, verlangt Dinge von dir, die du gar nicht willst, verlangt Dinge von den Menschen, die du liebst. Es fordert ein, dabei gibt es im Leben gar nichts einzufordern. Das Leben ist ein Geschenk, es ist mehr wert als aller Besitz, den wir zu Lebzeiten erreichen können. Wer sind wir, von anderen zu fordern? Von uns selbst? Wer bin ich, dass ich immer behauptet habe, mir selbst treu zu sein, "Ich selbst" zu sein, ein "Ich" zu sein?" Der alte Mann schließt die Augen und schüttelt unmerklich den Kopf. "Wir werden zu Staub, zerfallen in winzige Atome, werden Teil von etwas Neuem. Da ist kein Ich mehr, kein Ego, dass uns sagt, was wir brauchen, was wir wollen, wer wir sind und was die Anderen zu tun haben. Es wird auch keine Anderen mehr geben, wenn wir einmal zerfallen sind. Wir werden alle eins, werden zu Materie im All, sind es jetzt schon; Materie... nicht mehr als Materie in einer sich wandelnden Form."
Der Alte trinkt seinen Kaffee und starrt durch das Fenster in die verregnete Welt. Ich folge seinem Blick. Der Regen beruhigt mich.
Wir schweigen eine Weile, atmen, lauschen den Gesprächen der Menschen um uns herum. Ich warte darauf, dass der Alte erneut zu sprechen beginnt, aber er schweigt. Vielleicht hat er nichts mehr zu sagen, vielleicht ist er auch einfach nur müde. Seine Augen sind glasig und leer. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass er in Gedanken weit fort ist, vermutlich in seiner Vergangenheit, einer nie verarbeiteten Erinnerung hinterher stolpernd, im klebrigen Netz der Reue gefangen, wie eine Fliege in den Fäden einer Spinne.
Ich beobachte ihn neugierig, den kalten, grauen Fels. Dann, plötzlich, beginnt er zu lächeln und Tränen glitzern in seinen Augen. Erinnerung an glücklichere Zeiten?

Die letzten Stunden, sie atmet schwach, sie schaut mich an - ich liebe sie so sehr! - der erste Kuss, die erste Nacht, Geburt, Geburt - ich bin Vater! - das Baby in meinen Armen, ihr Lächeln, so wunderschön...
Jahre später, ich schlage den Jungen, bin wütend, so wütend! Er soll tun, was ich sage, soll tun was ich tue! Soll werden wie ich, soll sein wie ich, damit die Leute sagen: "Ganz wie der Vater!"...
Der erste Freund, die Tochter fleht, ich sage Nein, sage Nein, sage immer wieder Nein, doch sie tut es trotzdem, heimlich, Verrat! Verrat! Ich schmiede Pläne, sie kommt heim, Ich hab´ euch gesehen! Lüg´ mich nicht an! Ich schüttle sie fest, sie weint, sie schreit, dann Schmerz, der Junge, er beschützt seine Schwester... Vor mir! Vor mir... ich sinke in den Sessel, starre meine Hände an, meine Hände, meine Werkzeuge, sie tun was ich sage, sie tun was ich will. ICH!
Der Köter bellt, ich kann nicht fernsehen, der Köter, der Köter, immer der Köter. Ich gehe hinaus und binde ihn fester an, er kläfft, er knurrt - Nicht mit mir! - Ich zeige ihm, wer der Herr ist, zeige ihm, wer über ihm steht, trete, schlage, ja, Schmerzen sollst du spüren!
Ich sitze im Sessel, starre den Fernseher an, höre den Köter winseln, schlecht, schlecht - Ich bin so schlecht! - ich gehe hinaus, der Köter bellt, er knurrt, er sabbert, ich hasse ihn, HASSE IHN!
Das Trinken, das Trinken, der Alkohol beruhigt, der Alkohol stellt ruhig. Wo ist die Frau? Warum ist sie nicht daheim? Ständig außer Haus, wo bleibt die Hure, bleibt das Miststück? Lässt sich´s besorgen von Peter, Peter, wie er in ihren gierigen Leib stößt, mit höhnischem Grinsen im Gesicht, ich stehe auf, fahre los, werde sie finden, sie finden, sie und Peter, eng umschlungen, werde sie auf frischer Tat...
Blut an meinen Händen, ich schlage sein Gesicht, schlage zu wie auf einen Sandsack, Polizei, Peter im Krankenhaus, nie wieder laufen, wird nie wieder laufen... geschieht ihm recht! - Es tut mir so leid, ich bin schlecht, schlecht, SCHLECHT! - warum bin ich so, wie ich bin? Wer bin ich, warum bin ich nicht anders? Ich hasse mich, hasse mich. Immer Ich, warum kann ich nicht vergessen. Immer Ich, immer Ich, immer Ich, Ich...
Sie stirbt in meinen Armen - ich liebe dich so sehr! - der erste Kuss, die erste Nacht, Geburt... und Tod, sie ist tot - Ich muss die Familie informieren, Beerdigung organisieren, die Kinder! Wie sage ich es den Kindern... keine Zeit, muss Beerdigung organisieren...
Ihr Grab, die Kinder haben keine Zeit, Arbeit, Arbeit, sind immer beschäftigt. Ich komme jeden Tag, bringe Blumen, küsse, küsse, küsse dich, ach wenn ich dich doch nur noch einmal küssen könnte, du fehlst mir so sehr, ich schäme mich für alles, was ich dir angetan habe, ich schäme mich... schäme mich... Ich... Ich!
Die Tochter, sie weint, sie schreit "Ich hasse dich!", sie schlägt mich, sie weint, sie weint, sie schreit. Der Junge, ganz anders, ist nicht wie ich, ganz anders, so fremd. Auch er hasst mich, sagt nichts, sagt nichts. Der Junge, mein Junge, ist so anders als ich, ganz anders als ich... ich... Ich!
Er sitzt hier vor mir, schaut mich an, mein faltiges Gesicht, mein Gesicht, mein Ich.
Er sitzt vor mir und lächelt mich an, mein faltiges Gesicht, mein Ich.
Ich liebe ihn so sehr... liebe ihn so sehr. Ich... liebe... lebe... sterbe...
Ich schaue aus dem Fenster, in den Regen, den immer währenden Regen. Schaue hinaus und lächle. Bald bin ich fort. Bald bin ich... ich... ich... kein Ich, kein Ich mehr. Bald bin ich endlich frei. Kein Ich mehr. Kein Ich. Bald bin ich endlich frei. Ich... Ich...

Wir schweigen eine Weile, atmen, lauschen den Gesprächen der Menschen um uns herum. Ich warte darauf, dass der Alte erneut zu sprechen beginnt, aber er schweigt. Vielleicht hat er nichts mehr zu sagen, vielleicht ist er auch einfach nur müde. Seine Augen sind glasig und leer. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass er in Gedanken weit fort ist, vermutlich in seiner Vergangenheit, einer nie verarbeiteten Erinnerung hinterher stolpernd, im klebrigen Netz der Reue gefangen, wie eine Fliege in den Fäden einer Spinne.
Ich beobachte ihn neugierig, den kalten, grauen Fels. Dann, plötzlich, beginnt er zu lächeln und Tränen glitzern in seinen Augen. Erinnerung an glücklichere Zeiten?
Nein, denke ich. Das sind keine Tränen des Glücks.
Ich sehe nur salziges Wasser.
Atome, in einem Meer von Atomen, in einem unendlichen Kosmos von Atomen.
Materie, wie sie vergeht und in etwas anderem neu entsteht.
Kein Vater, nur Fleisch. Keine Reue, nur Wasser.
Wer bin ich, dass ich mehr fordere?
Wer bin ich?
Ich?

Mittwoch, 26. Februar 2014

Marketing

Er sitzt im kalten Halblicht seines Laptops und grinst.
Speichern, Ok, das Album wurde erstellt.
Immer wieder was Neues bringen, hatte der Marketing-Experte im Seminar gesagt. Die Leute auf Trab halten, schocken, zum Lachen, Nachdenken, Weinen bringen.
"Unser Jetzt befindet sich in stetigem Wandel, meine Damen und Herren! Was vor fünf Minuten noch interessant war, ist jetzt schon wieder vergessen. Wer "Likes" absahnen will, muss im Jetzt posten, denn nur was jetzt rockt, gefällt mir!"
Er öffnet einen neuen Tab, das Google-Eingabefeld empfängt ihn freundlich wie immer. Erst mal abwarten, denkt er nüchtern, die PR wirken lassen. Dann, im richtigen Augenblick zuschlagen und die Aufmerksamkeit in Interesse umwandeln. Er denkt weiter: Die Menschen sind wie kleine Kinder, wie gelangweilte Haustiere. Man klatscht in die Hände und schon sind sie aufnahmebereit, doch sie verlieren sofort das Interesse, wenn nach dem Klatschen nichts mehr kommt. Das ist der Moment, in dem man nachliefern muss, das Stöckchen schmeißen, eine Grimasse ziehen. Hinterher gibt's noch ein Leckerli, die Belohnung ist wichtig, das sorgt für Bestätigung und Bestätigung ist allen wichtig, denn was wären wir ohne die Anderen, die uns sagen, wer wir sind, wie wir sein sollen, was zu uns passt. In den Augen der Anderen entdecken wir uns selbst.
Du musst der Andere sein, wenn du verkaufen willst!
"Sorge für Dynamik! Bring´ nicht immer den gleichen Kram, das langweilt und vergrault die Leser! Unterhalte, sei bunt wie ein Chamäleon ohne dabei zu blenden und wenn du schon blenden musst, dann blende mit der Wahrheit; der Wahrheit nämlich, die alle hören wollen! Wahrheit ist relativ. Erkenntnis steht immer in Relation zur Nachfrage!"
Er klickt sich durchs Netz, ein wenig hierhin, ein wenig dorthin. Schon wieder ein Politiker, der auf Kinderpornos steht, erfährt er. Politik und Kinderpornos, das passt wie der Topf auf den Deckel, nee andersrum, die Faust aufs Auge, der Phallus tief in den Rachen einer illegalen 15-Euro-Thai-Nutte.
"Und hört dir niemand zu, dann schockiere die Massen. Der Schock, meine Damen und Herren, ist das beste Mittel, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen! Schocke, dann besänftige und die Menschen werden auf ewig in dir den Heiland sehen!"
Er schaut auf die Uhr: Fünf Minuten seit der Freigabe des Fotoalbums. Zurück zu Facebook und die Seite aktualisieren. Da ist sie, wie erwartet: Die kleine rote Zahl oben rechts springt ihm wie eine Glasscherbe ins Auge. Die Zahl steht für Aufmerksamkeit. Die kleinen Kinder haben auf das Klatschen reagiert.
Er klickt auf die Zahl und beginnt genüsslich, die Kommentare zu lesen.

"Alter, das darf doch nicht...", murmelt Carsten Baumgertner, der mit runtergelassenen Hosen am Rechner sitzt. Runtergelassene Hosen, da er sich gerade einen Porno reingezogen hat, in dem zwei muskulöse maximalpigmentierte Afroamerikaner mit ihren gigantischen maximalpigmentierten Kanonenrohren eine gefesselte minimalpigmentierte Nordeuropäerin vergewaltigen durften, mussten, wollten, wie auch immer... (Randnotiz: Für die, die es interessiert, einfach "Men With Black Dicks: The Torture of Ella Sandberg" bei YouPorn eingeben). "Alter, das darf doch nicht...", weil Carsten gerade gesehen hat, was dieser Dan TheHeartless da für ein Bild bei Facebook hochgeladen hat. Dan TheHeartless, Dan TheHeartless... Er erinnert sich noch vage an die Freundschaftseinladung, an uninteressante Posts und Links zu irgend so einem Blog, auf dem nur Scheiße stand.
Er vergrößert das Bild und augenblicklich stockt ihm der Atem.
Carstens Gehirn befindet sich in absolutem Ausnahmezustand. Es weiß nicht, welche Signale es an den Körper weiterleiten soll, deshalb haut es einfach mal alles raus was es zu bieten hat, was - wie sollte es auch anders sein - zu vollkommener Panik führt. Carsten bekommt keine Luft, sein Herz rast, seine Hände fangen unweigerlich zu schwitzen an, er keucht, er schnaubt, die recht ansehnliche Latte, die er vor wenigen Minuten noch schwungvoll gemolken hat, ist zu einem mickrigen Würstchen zusammengeschrumpft. Ganz anders als auf dem Foto, das ihm, für die ganze Welt sichtbar im Datennetzwerk von Facebook gerade entgegenflimmert.
Es dauert eine Weile, bis Carsten wieder einigermaßen klar denken kann. Er sagt so Sachen wie "Wie hat der das gemacht!?" und "Das kann doch einfach nicht wahr sein!?" usw., während er sich die Hosen hochzieht und seine noch vom Sperma glänzende Nudel verstaut.
Dann, seine Hände zittern noch immer, nimmt er sich die Zeit und schaut sich die anderen Bilder an, die der Unbekannte da ins Netz gestellt hat.

21 Kilometer entfernt sitzt Mechthild Röbner am Laptop ihres Mannes und surft durch die grenzenlosen Weiten von Facebook. Anfangs war sie ja noch skeptisch, hatte Angst vor diesem Internet und sah überall Gefahren. Doch durch ihre Tochter Sandra, die ihre Mutter behutsam mit den Möglichkeiten des sozialen Netzwerks vertraut gemacht hatte, hatte sie schließlich ihre Ängste verloren. Heute vergeht kaum ein Tag, an dem sie nicht noch schnell ihre Nachrichten checkt, mit ihren Arbeitskollegen ein lustiges Video teilt und dicke Daumen für gelungene Urlaubsfotos verteilt. Facebook fördert die Kommunikation, sagt sie immer, wenn die Familie zusammen am Esstisch sitzt. Zitat Mutter Röbner: "Fehsbuck hat mich mit Menschen zusammengebracht, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie kenne!" Zitat Ende.
Genau so ein Mensch scheint jetzt dieser Dan TheHeartless zu sein, der ihre Tochter auf einem Bild verlinkt hat, dass sich vor zwei Sekunden auf ihrem Bildschirm geöffnet hat. Ein durchaus verstörendes Bild, jedenfalls für Mutti Röbner. Zu sehen ist ihre Tochter, nackt wie Gott sie schuf über dem Gesicht von Olliver, ihrem Verlobten - der "Strahlemann", wie Mechthild ihren Schwiegersohn immer so gerne nennt. Der Strahlemann strahlt auf dem Foto allerdings auf eine ganz andere Weise. Vielmehr wird er diesmal "be"strahlt und zwar von seiner zukünftigen Braut, der BWL-Studentin Sandra, die ihm mit drohendem Gesichtsausdruck in den Rachen strullert.
"Sandra-Schatz?", ruft Mutti Röbner mit zitternder Stimme, nachdem sie wieder einigermaßen zur Fassung gekommen ist. "Sandra-Maus, komm doch mal bitte..."
Sandra-Maus kommt gehorsam, in der Hand ein Hanuta, ihre Brille reflektiert das blauweiße Licht des Computerbildschirms.
"Was gibt´s", fragt sie mit vollem Mund. "Dann entdeckt sie das ihr wohl bekannte Foto im Großformat auf dem Bildschirm und lässt augenblicklich das angebissene Hanuta fallen.
"Bist du das?", fragt Mutti Röbner, in der Hoffnung, dass es sich um eine Verwechslung handelt. "Das bist doch du und der Strahlemann, oder nicht?"
Eine Antwort auf ihre Frage erhält sie jedoch nicht. Sandra bricht auf der Stelle in Tränen aus und beginnt zu hyperventilieren...

Insgesamt 25 Fotos dieser Art wurden online gestellt. Die Kommentare haben nach 8 Minuten allerdings die vierfache Anzahl erreicht. Da stehen so Sachen wie:
"Das ist alles Fake! Perverse Sau, dafür kommst du in den Knast!"
"Das sieht man doch, ist mit Photo-Shop bearbeitet, oder? Krass, sieht voll echt aus. ^^"
"Geil, endlich mal ein brauchbares Foto, Sandra! Mehr davon!"
"An Alle: Das ist ein Cyber-Mobbing-Versuch von Dan TheHeartless. Ich habe und werde auch niemals Sex mit einem Stoff-Elefanten haben! Ich habe den Verstoß bereits an Facebook weitergeleitet. Das wird ein Nachspiel haben!"
Er ist glücklich, das lief besser als erwartet. Er weiß, dass nun der Augenblick gekommen ist, um nachzuliefern.
"Was vor fünf Minuten noch interessant war, ist jetzt schon wieder vergessen. Wer "Likes" absahnen will, muss im Jetzt posten, denn nur was jetzt rockt, gefällt mir!"
Er löscht das Album mit samt den Kommentaren und bereitet einen Post vor. Dem Post hängt er eine Datei an. Es ist das neugestaltete Werbebanner für seinen Blog.
Speichern, Ok, der Post geht raus.
Er lehnt sich zurück und lächelt zufrieden.
"Die Wahrheit kann schmerzen, aber meist trifft sie nur wenige, manchmal sogar nur einen Einzigen. Was ist ein kleines Opfer, gegen eine Hundertschaft von neuen potentiellen Lesern? Manchmal muss man Opfer bringen, um anderen zum Erfolg zu verhelfen. Wichtigste Regel hierbei: Sei stets der Andere und nie das Opfer!"

DAN THE HEARTLESS - Nichts als die Wahrheit
Er blickt tief in dein Herz - oder in den internen Speicher deines Smartphones!
Er ist der große Bruder, der BIG BROTHER DER HERZEN!
Vergiss deine Rauschmittel, die einzige Droge die du wirklich brauchst ist die Wahrheit!

"Dan TheHeartless Stories haben mein Leben verändert!" - Dieter Bohlen
"Es vergeht kein Tag, an dem ich ihn nicht lese." - Angela Merkel
"Ein Leben ohne Dan TheHeartless? Das wäre kein Leben..." - Kim Jong-un

VERÄNDERE AUCH DU DEIN LEBEN! WERDE TEIL EINER GROßEN COMMUNITY! ERLEBE DIE WAHRHEIT UND TEILE SIE MIT DEINEN FREUNDEN!
BESUCHE DAN THE HEARTLESS AUF

[Diese Kurzgeschichte wurde Ihnen präsentiert von Grillmeister´s POMMI POMMES, der Kartoffel mit Biss! Grillmeister´s POMMI POMMES ist ein Produkt der REVE-Group Deutschland. REVE - Gut leben zu fairen Preisen! Mehr Infos auf www.reve-group.de!]

Donnerstag, 20. Februar 2014

Geld

"Geld.", schlage ich vor.
"Geld...", wiederholt Rebecca.
"Genau.", sage ich.
Rebecca fasst zusammen: "Geld steht für alles und es ist was Handfestes und jeder kann sich was darunter vorstellen, obwohl es für jeden einzelnen etwas Persönliches und doch für alle etwas Einheitliches ist."
Ich nicke und sage: "Ja, das stimmt."
"Hmm...", macht Rebecca.
"Hmm...", mache ich.
Zwei Menschen, ein Dialog und das Ergebnis ist ein Wort.

Vier Tage zuvor. Ich warte auf einen Rückruf. Endlich, das Telefon klingelt, ich gehe ran.
"Herr Darkness?"
"Ja, das bin ich."
"Sehr schön. Marita Sönke hier am Apparat, vom Corona-Magazin. Wir haben Ihre Bewerbung erhalten, ich habe sie soeben gesichtet."
"Vielen Dank."
"Ja, Herr Darkness, Ihre Arbeitsproben gefallen mir doch sehr, muss ich sagen. Sie passen zwar nicht ganz ins Profil unseres Magazins, aber doch... sehr kreativ das alles."
"Vielen Dank."
"Eine Frage hab ich aber doch, wenn Sie mir gestatten, äh, ich meine..."
"Gern, worum geht´s?"
"Diese Geschichte mit der jungen Frau, ich meine... mit dieser Prostituierten aus äh, Russland?"
"Polen. Sie meinen das minderjährige Fickluder aus Polen..."
"Ach ja, genau, Polen, ganz recht. Also, tja, wirklich eine interessante Geschichte muss ich sagen, sehr unterhaltsam und... naja, versaut, Sie verstehen schon, he, he."
"Ja, ich verstehe."
"Tja, ich möchte Ihnen hier nicht zu nahetreten, Herr Darkness, nein ganz bestimmt nicht! Aber das ist doch schon ein sehr heikles Thema, finden Sie nicht? Also wie Sie das beschreiben, diese Sache mit der jungen Frau, ich meine... das ist ganz und gar nicht gentleman-like, wenn Sie verstehen was ich meine, he, he. Ganz und gar nicht gentleman-like..."
"Ich verstehe..."
"Also, da könnte man als Leser - nicht, dass Sie mich falsch verstehen, Herr Darkness! - also, ich meine, da könnte man als Leser eventuell vermuten, dass Sie... also, ach Gottchen, wie sich das anhört, ich entschuldige mich wirklich sehr für diese Behauptung, aber ich muss das nun mal ansprechen, wissen Sie, das ist mein Job. Es ist mein Job, unangenehme Fragen zu stellen, dafür werde ich bezahlt, verstehen Sie? Mit irgendwas muss man ja schließlich seine Brötchen bezahlen, nicht wahr? Also glauben Sie mir, ich mache das wirklich nicht gern, ich hoffe Sie nehmen das jetzt nicht allzu persönlich, ich meine..."
"Ich verstehe schon. Alles ist gut."
"Also gut. Sie wissen sicherlich, worauf ich hinaus möchte, nicht wahr?"
"Ja, ich denke schon."
"Diese Geschichte... und auch ein paar von den anderen - ich hatte es mir notiert, wo sind nur meine Notizen - ... ah, da sind sie ja! "Gib mit den Rest" z.B. oder auch diese hier, "Der alte Mann und das Geld" - im Übrigen, ist das eine Anspielung auf Ernest Hemmingway? - na, ist ja auch ganz gleich, jedenfalls, was ich sagen will ist Folgendes: Wir können das unmöglich so abdrucken, verstehen Sie? Das ist einfach zu... ja, wie soll ich sagen..."
"Versaut?"
"Nicht dass es nicht unterhaltsam wäre, Herr Darkness, verstehen Sie mich nicht falsch, ich meine, unterhaltsam sind sie schon, ihre Geschichtchen, ganz große Unterhaltungskunst, jawohl, ich meine..."
"Hören Sie, ich verstehe, was Sie mir sagen wollen, gute Frau. Das ist doch alles kein Problem, da finden wir sicher eine Lösung."
"Das freut mich, dass Sie so darüber denken, da fällt mir ein Stein vom Herzen, ein ganz, ganz schwerer Brocken, he, he. Ihre Tante hat ja in ganz großen Tönen von Ihnen gesprochen und ich wäre wirklich untröstlich gewesen, wenn ich ihr hätte mitteilen müssen, dass wir ihre Geschichtchen nicht abdrucken werden, weil sie... nun, weil sie..."
"Zu versaut sind."
"Ganz recht, Herr Darkness. Das wäre wirklich zu schade gewesen."
"Ok, also wie verbleiben wir denn jetzt, Frau..."
"Sönke... aber nennen Sie mich ruhig Marita. Wir gehen hier ganz locker und offen miteinander um, das ist unser Trademark sozusagen."
"Alles klar, Marita."
"Ja, schon viel besser, he, he. Also, Herr... oder soll ich Sie lieber beim Vornamen anreden? Wie ist denn..."
"Dan... mein Name ist Dan TheDarkness. Das steht auch so im Blog."
"Ach richtig, richtig, ja stimmt, sie haben ja auch diesen Blog, ganz recht. Nun Herr Dan, ich meine Dan, einfach nur Dan, he, he, ist das die Kurzform von Daniel? Ein schöner Name, nein ganz im Ernst! Gott sei mein Richter. Es geht doch nichts über die alten biblischen Namen, nicht wahr?"
"Ja, kann sein."
"Also gut, Herr... ich meine Daniel, äh, Dan, Herr... Wir würden erst mal nur eine Ihrer, also Deiner Geschichtchen abdrucken, probeweise, nur um zu schauen, wie sie ankommt bei unseren Lesern."
"Ja, ist doch super."
"Haben Sie eine Präferenz?"
"Och, ist..."
"Ich meine Du, sorry!"
"Ja, schon ok. Ja, mir ist´s gleich welche von denen ihr abdrucken wollt, Hauptsache, eine von ihnen kommt ins nächste Heft."
"Fein, ja das ist wirklich großartig! Also mir persönlich gefällt ja die mit dem... mit der polnischen Einwanderin über die wir uns eingangs unterhalten haben... also, mir gefällt die Geschichte ganz gut. Wir müssten da nur ein paar kleine Änderungen vornehmen, dann würde das schon durchgehen. Wir müssen auch mal was wagen, immer auf Nummer Sicher gehen führt ja auch zu nichts, nicht wahr, Herr..."
"Ja, meinetwegen. Was soll ich denn genau ändern?"
"Zu erst mal müssen alle Fäkalausdrücke da hinaus, so was können wir unserer Leserschaft nun wirklich nicht zumuten. Und das Mädchen darf nicht aus Polen kommen, ich sehe sonst schon die verärgerten Leserbriefe vor mir. Wissen Sie was? Lassen Sie... also Du... Mensch, das fällt mir aber auch immer schwer, he, he... Lass doch einfach das Mädchen ganz raus aus der Geschichte, das stiftet doch nur Verwirrung und ist unnötiger Aufwand für das Lektorat."
"Also gut, ich lass das imaginäre Mädchen weg."
"Ja, schon viel besser. Und dieser... wie heißt die Figur noch gleich? Karl? Wo wir gerade bei Kürzungen sind, lassen Sie doch bitte auch den Beinamen von Karl weg, das ist ohnehin etwas geschmacklos wie ich finde und auch nicht relevant für den weiteren Verlauf des Geschichtchens..."
"Karl der Ficker wird zu Karl... notiert. Was noch?"
"Drogen. Die Drogen sollten Sie auch aus dem Spiel lassen, dass verleitet doch nur zu illegalen Aktivitäten. Hinterher steht bei uns noch die Polizei auf der Matte, das wollen wir doch nicht!"
"Keine Drogen. Sonst noch was?"
"Ich glaube, das wäre es vorerst... Ach, da fällt mir ein, könnten Sie vielleicht einen dezenten Hinweis auf die hohe Qualität von Nivea-Creme-Produkten einbauen? Das würde unsere Partner wirklich sehr freuen, wenn wir..."
"Schon klar, Nivea Werbung einbauen... Ich könnte Karl dem Ficker einen Handcreme-Fetisch aufdrücken, was hältst du davon, Marita? So nach dem Motto: "Hey, gestern hab ich wieder Liebe mit einer deutschen, vom Ordnungsamt überprüften Prostituierten gemacht und rate mal, was wir als Gleitmittel benutzt haben?" So auf diese Art."
"Lassen Sie die Prostituierte weg und wir haben einen Deal!"
"Ok. Karl der Ficker... oh pardon, einfach nur Karl, der sich zu Hause mit Nivea-Creme-Lotion für Mischhaut die Lunte schrubbt... notiert."
"Sehen Sie, das meine ich, daran müssen wir dringend arbeiten. So geht das nicht, das können wir unmöglich abdrucken."
"Ja, schon klar, ich lass mir was einfallen. Hauptsache der Scheiß wird gelesen und ich bekomm mein Honorar. Wie viel Knete war das noch gleich?"
"Die erste Geschichte ist ja nur ein Test, daher gibt es dafür leider noch kein Honorar, aber für jede weitere abgedruckte Geschichte überweisen wir Ihnen 100 Euro und senden Ihnen zusätzlich ein kostenloses Belegexemplar zu. Sie sehen, es lohnt sich also für das Corona zu schreiben!"
"Ja, Wahnsinn. Wirklich geil."
"Das ist die richtige Einstellung Herr Dan, he, he."
"Wie auch immer. Ich melde mich, sobald ich die Geschichte umgeschrieben habe. Vielen Dank für den Anruf, Marita."
"Schön, ich bin gespannt auf das Ergebnis. Viel Erfolg!"
"Alles klar. Schönen Tag noch..."
"Tschüss!"
Tut, tut, tut...
"Fotze..."
Ich werfe das Telefon auf die Couch, gehe in die Küche und mach mir ein Bier auf. Dann setze ich mich an meinen Computer und fange an, eine jugendfreie Version von "Das imaginäre Fickluder aus Polen" zu schreiben.

"Wie wär´s mit Liebe?", schlägt Rebecca vor.
"Liebe?", antworte ich. "Nur eine Illusion. Wir alle wissen das, wir leben in einer aufgeklärten Zeit."
"Aber alle sehnen sich doch danach geliebt zu werden und selbst zu lieben. Niemand mag die Einsamkeit. Niemand möchte alleine sterben."
"Liebe ist Nonsens. Blendwerk."
"Gut. Wenn es nicht die Liebe ist, was ist es dann?"
"Hmm... wir brauchen was Handfestes. Einen Begriff, unter dem sich jeder was vorstellen kann."
"Schlag was vor.", sagt Rebecca.
Ich überlege, überlege, überlege. Dann lächle ich.
"Geld.", schlage ich vor.

Ich sitze an der Story und überlege, wie ich die Nivea-Creme unterbringe, ohne sie als Gleitmittel zu verwenden, als das Telefon klingelt. Ich nehme noch einen langen Schluck aus der Flasche, dann gehe ich ran.
"Dan TheDarkness am Apparat."
"Ja, hallo Dan. Hier ist der Chris von der BlitzIllu."
"Hallo Chris von der BlitzIllu."
"Du hast uns dein Zeug geschickt."
"Richtig."
"Normalerweise scheißen wir auf Leute, die ihren Kram als email einreichen, aber deine Tante scheint ziemlich viel Einfluss in der Verlagsbranche zu haben, deshalb melde ich mich jetzt auch bei dir. Denk nicht, dass das was mit deiner Leistung zu tun hat."
"Schon ok, alles ist gut."
"Also, zur Sache. Deine Stories sind ganz nett, nicht überragend aber unterhaltsam und irgendwie auf diese pseudo-intellektuelle Weise tiefgründig, wie es heute ja modern zu sein scheint. Heute muss einem immer ein gewisser Tiefgang vorgegaukelt werden, selbst beim Wichsen wollen die Leute kein banales Alltagsgewäsch; ich sag dir, das wichsende Volk ist mit den Jahren immer anspruchsvoller geworden. Heute reichen ein paar Möpse und hier und da ´ne rasierte Muschi längst nicht mehr aus, um guten Reibach zu machen."
"Kann sein."
"Wie dem auch sei, das meiste von dem Kram, den du bei uns eingereicht hast, ist Schrott, dafür haben wir keinen Platz in unserem Magazin. Aber diese eine Story hat echt Potenzial, damit kann man was reißen..."
"Lass mich raten: Das Fickluder aus Polen?"
"Genau, wir verstehen uns! Die Story geht ohne Schnörkel los, macht Lust auf mehr und das alles. Guter Stil, schön knapp und simpel, hält mich bei der Stange..."
"Danke."
"Das war kein Lob, bild´ dir da mal nix drauf ein. Jedenfalls... was mich wirklich stört an der Story mit dem Fickluder ist, dass es gar kein verschissenes minderjähriges Fickluder gibt. Was soll der Scheiß? Erst wird man geil gemacht auf so ein heißes Eisen und dann gibt´s am Ende nur heiße Luft. Erklär mir das mal bitte."
"Ja, gut, ok. Die Story heißt "Das imaginäre, minderjährige Fickluder aus Polen", weil das minderjährige Fickluder aus Polen - wie der Titel bereits vermuten lässt - imaginär ist."
"Imaginär."
"Ja, imaginär. Es befindet sich nur als Vorstellung in den Köpfen der Protagonisten, nicht aber in der Wirklichkeit. Es ist der Antrieb für alle Aktionen, die innerhalb des Zeitrahmens, in dem die Story spielt, ablaufen, aber im Grunde ist es nicht mehr als eine Illusion. Das ist eine Metapher. Mit der Story möchte ich darauf hinweisen, dass wir alle nur Illusionen hinterher laufen, dass es keinen tatsächlichen Sinn für unsere Handlungen gibt, sondern alles nur imaginäre Wunschvorstellungen sind, die uns am leben halten, uns motivieren, Tag für Tag die Dinge zu tun, von denen wir glauben, dass wir sie tatsächlich tun wollen, die uns aber in Wirklichkeit..."
"Ja, schon gut, spar dir das Geleier. Jetzt mal echt, hast du dir unser Magazin mal genauer angeguckt, bevor du uns die email mit deinem Scheiß geschickt hast? Ich mein´ jetzt nicht die netten Bildchen, sondern den redaktionellen Teil, wenn man das so nennen will, die Stories, die Textkästen."
"Ja, hab mal reingeguckt in die letzte Ausgabe."
"Meinst du, dass auch nur einer unserer Kunden sich während der Lekture unseres Magazins Gedanken über die Sinnhaftig- beziehungsweise -losigkeit seiner verschissenen Existenz machen möchte? Meinst du, jemand, der in unserem Drecksblatt eine Kurzgeschichte mit dem Titel "Das minderjährige Fickluder aus Polen" entdeckt wirklich Interesse an einer Story hat, in der besagtes Fickluder gar nicht auftaucht?"
"Es taucht ja auf. Ein imaginäres Mädchen taucht auf."
"Imaginär, imaginär! Leck mich am Arsch mit deinem Scheiß-imaginär, Junge! Die Leute wollen das Fickluder sehen, nicht irgendeinen pseudo-philosophischen Nonsens lesen! Das ist Schrott, mehr nicht. Schrott."
"Also druckt ihr die Story jetzt oder nicht?"
"Jedenfalls nicht so. Da musst du noch mal ran."
"Ja, kein Ding. Was soll ich ändern? Nur das Ende?"
"Das Ende auf jeden Fall, da muss richtig Action rein, Geficke, verstehste? Lass die beiden Kerle erstmal ordentlich Dampf ablassen und lass den Überfall und den ganzen Scheiß am Ende weg. Die Leute sollen bekommen, was sie erwarten. Und beschreib´ die Kleine in allen Details, ihre blonden Haare, die geilen, kleinen Möpschen, das volle Programm. Und beschreib´ die Stellungen, die die beiden mit ihr durchackern. Mindestens fünf verschiedene sollten dabei sein. Achte auch drauf, dass ordentlich Mösen geleckt und Schwänze gelutscht werden, das kommt immer gut an und mindestens eine Stellung mit analer Penetration - natürlich bei der Alten - das muss auf jeden Fall rein. Schreib dir das alles auf, damit du nichts vergisst, ist alles wichtig, wenn da was von dem fehlt, was ich dir grad gesagt hab, können wir das nicht abdrucken."
"Alles klar, anale Penetration..."
"Und Schwänze lutschen."
"Schwänze... lutschen. So, was war da noch?"
"Fünf Stellungen. Absolutes Minimum. Lass dir was einfallen!"
"Fünf Stellungen..."
"Kriegst du das hin bis Freitag?"
"Freitag? Ja sicher, das geht schon irgendw..."
"Gut, Freitag nachmittag hab ich die Story auf meinem Schreibtisch, ansonsten können wir leider nichts für dich machen."
"Alles klar, kein Ding."
"Und lass die Jungs Gleitcreme von EROS benutzen, mit denen haben wir nämlich ´nen Deal. Schreib dir das auf."
"Gleitcreme von EROS... soll ich auch Nivea-Handcreme einbringen?"
"Nivea? Wir sind ein Hetero-Magazin für Hetero-Kerle. Muss ich noch deutlicher werden?"
"Nee, schon klar."
"Gut. Noch Fragen?"
"Jo, wie sieht´s denn mit der Bezahlung aus, ich meine..."
"50 Tacken für die erste Story. Wenn die Kunden dein Zeug schlucken, dann gibts mehr, aber erstmal 50 als Einstiegshonorar."
"50 ist nicht gerade viel."
"Mehr gibt´s nicht, hör die Handelei auf. Entweder du akzeptierst das Angebot oder du bist raus, so einfach ist das."
"Ja, gut, 50... was soll´s."
"Alles klar, dann mal ran an die Arbeit! Wir hören uns Freitag."
"Gut, gut. Bis Freitag."
Tut, tut, tut...
"Arschloch..."
Ich schmeiße das Telefon auf die Couch, gehe in die Küche und hole mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank. Ich setze mich an den Computer und lösche die jungendfreie Version von "Das imaginäre, minderjährige Fickluder aus Polen".
Was macht man nicht alles, um reich und berühmt zu werden..., denke ich. Nein, quatsch, eigentlich denke ich etwas vollkommen anderes. Ich frage mich, was ich von mir selbst erwarte, von den Menschen da draußen, vom Leben, vom Tod.
Dann denke ich an die Knete, 50 Tacken, und fange an zu schreiben.

"Wofür lohnt sich das Leben?", fragt Rebecca. "Ich meine, wofür das alles, die Schule, die Ausbildung, die Zankerei mit den Alten, mit Freunden, der Liebeskummer, Tod und Krieg überall..."
"Nicht schon wieder der Sinn des Lebens, Rebecca...", erwidere ich genervt. "Das Leben lohnt sich für niemanden, denn am Ende ist Nichts und man bleibt Nichts und... ach, das hatten wir doch alles schon tausend mal..."
"Ja, aber wir haben es noch nie hinbekommen, den Sinn des Lebens in einem einzigen Wort festzuhalten. Es hieß immer "Man kann das nicht verallgemeinern" und "Man muss das aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten" und so weiter... Das sind doch keine Antworten auf so eine einfache Frage!"
"Die Menschen wollen immer alles vereinfachen. Ordnung in das Chaos des Universums bringen. Schubladen erfinden und die Welt in kleine Häppchen aufteilen."
Jetzt ist Rebecca genervt. "Du bist auch ein Mensch! Tu nicht so, als würdest du über den Dingen stehen, denn das tust du nicht!"
"Gut.", antworte ich. "Dann lass uns ein Wort suchen, dass für alle Menschen gilt und den Sinn unserer Existenz kurz und knapp zusammenfasst. Ich fange an und schlage "Ficken" vor."
"War klar.", schnaubt Rebecca angewidert. "Das ist zu einfach. Was ist mit Menschen, die asexuell sind? Oder denen man die Geschlechtsorgane entfernt hat?"
"Okay.", lenke ich ein. "Dann brauchen wir ein anderes, universelles Wort der Sinnhaftigkeit. Schlag du was vor."
Rebecca überlegt.
Ich warte.
Rebecca überlegt weiter, dann lächelt sie.
"Wie wär´s mit Liebe?"
"Liebe?", antworte ich. "Nur eine Illusion. Wir alle wissen das, wir leben in einer aufgeklärten Zeit."
"Aber alle sehnen sich doch danach geliebt zu werden und selbst zu lieben. Niemand mag die Einsamkeit. Niemand möchte alleine sterben."
"Liebe ist Nonsens. Blendwerk."
"Gut. Wenn es nicht die Liebe ist, was ist es dann?"
"Hmm... wir brauchen was Handfestes. Einen Begriff, unter dem sich jeder was vorstellen kann."
"Schlag was vor.", sagt Rebecca.
Ich überlege, überlege, überlege. Dann lächle ich.
 
"Geld.", schlage ich vor.
"Geld...", wiederholt Rebecca.
"Genau.", sage ich. 
Rebecca fasst zusammen: "Geld steht für alles und es ist was Handfestes und jeder kann sich was darunter vorstellen, obwohl es für jeden einzelnen etwas Persönliches und doch für alle etwas Einheitliches ist."
Ich nicke und sage: "Ja, das stimmt."
"Hmm...", macht Rebecca.
"Hmm...", mache ich.
Zwei Menschen, ein Dialog und das Ergebnis ist ein Wort.

Samstag, 18. Januar 2014

Vom 1-Euro-Job ins Bett einer Göttin

Wir waren Anfang 30 und arbeiteten zusammen im Lager von H&M. Der Job war mies, aber wir hatten beide keine vernünftige Ausbildung und brauchten das Geld. Jeder braucht Geld und wenn einen sonst keiner will, macht man den größten Humbug mit, um sich sein täglich Brot und Bier leisten zu können. Die Lagerarbeit war jedenfalls besser als bei McDonalds besoffene Fucker mit klumpigen Burgern und verschrumpelten Pommes zu bedienen.
Jeden Dienstag zog ich mit Jens um die Häuser und wir betranken uns feierlich, bis wir nicht mehr laufen konnten. Ich erinnere mich, dass ich ihm einmal vorgeschlagen hatte, unser Besäufnis auf den Freitag zu legen, denn der Tag danach war immer eine Tortur im Lager, aber Jens hatte mit den Worten abgelehnt, dass er am Wochenende keine Zeit für so was hätte und dass es entweder der Dienstag oder gar kein Tag sein müsse und ich fragte nicht weiter nach, denn Dienstag war natürlich besser als gar kein Tag.
Jens war ein Kerl, der nicht gern viele Worte machte. Er war einen Kopf größer als ich, ziemlich sehnig und hager, aber er konnte Kisten schleppen wie ein Gabelstapler; wo auch immer er seine Kraft hernahm, man sah es ihm nicht an. Wenn er trank, blühte er auf, die Worte sprudelten dann nur so aus ihm hinaus. Er war ein verdammter Komiker, wenn er seine drei, vier Biere intus hatte und wenn dann schließlich der Schnaps in Strömen floss, wurde es noch besser. Die ersten Male erkannte ich ihn kaum wieder, sein komplettes Wesen schien sich durch den Alkohol zu verändern. Sogar sein Gesicht sah gesünder, zufriedener, glücklicher aus. Die dunkelblauen Augen leuchteten wie die eines Kindes und seine Wangen wurden rot und lebendig. All die graue Last seines zermürbenden Lebens schien dann von ihm abgefallen zu sein und er war der Jens, der er sein wollte, der er wirklich war.
Wir lernten haufenweise Frauen kennen, Jens zog die Ladies an wie ein Magnet und ließ sie erst wieder locker, wenn er ihre Nummern hatte oder sie gleich eine mit ihm schoben. Ich bekam den Rest, die dicken Freundinnen, von denen jede hübsche Frau stets eine Schlepptau hat, oder die unsichtbaren grauen Mäuse, die kein Wort sagten, weil sie glaubten, alles was sie zu sagen hätten, sei belanglos und ohne Sinn. Aber ich beklagte mich nicht, denn es war immer besser, als ungevögelt nach Hause zu gehen. Wie es mir wohl ergangen wäre, wenn Jens nicht dabei gewesen wäre?

Doch mit der Zeit schien sich Jens zu verändern. Er fing an, über das Leben zu fluchen und Streit zu suchen, zuerst nur, wenn er wirklich voll war, dann aber auch schon nach den ersten Bieren, sobald seine Zunge sich aus der schweigsamen Starre löste, die ihn im nüchternen Zustand stets umgab.
Die Frauen blieben uns natürlich zusehends fern und die wenigen, die es wagten, sich mit Jens in ein Gespräch zu verwickeln, bekamen die volle Breitseite seines misanthropischen Welthasses ab.
Jens Rausch schien auch plötzlich eine neue Dynamik anzunehmen. Er trank viel mehr als ohnehin schon, doch seine Sprache blieb immer auf die gleiche Weise scharf und direkt. Nur seinen Bewegungen sah man seine Trunkenheit an, doch wenn er Streit anzettelte und in eine Schlägerei geriet, behielt er dennoch meist die Oberhand. Dann, meist zu sehr später Stunde, versank er in tiefem, dunklem Schweigen und reagierte auf nichts mehr. Er saß dann lautlos da, den glasigen Blick in sein Glas gerichtet, wie aus Stein gemeißelt, eine leblose Hülle seiner selbst. Das war dann für mich das Zeichen zu gehen und so ließ ich ihn, Dienstag für Dienstag, zurück, ein Fremder in einer fremden Welt.
Am nächsten Tag arbeitete er stets wie ein Tier, keine Spur eines Katers oder seiner schlechten Laune war an ihm auszumachen. Ich beneidete ihn für seine Fähigkeit, die Folgen des Alkohols mit dieser Leichtigkeit zu ignorieren, denn ich plagte mich ab, mein Hirn schien meinen Schädel sprengen zu wollen und jede Kiste wog dreimal so viel wie sonst.
Genauso überraschend, wie sein Welthass gekommen war, verschwand er auch wieder und ich freute mich, ihn eines Dienstagabends wieder Witze reißen zu hören und ihn mit hübschen Damen flirten zu sehen. Als ich ihn darauf ansprach, was denn in den letzten Wochen mit ihm losgewesen sei, schüttelte er nur den Kopf und sagte, dass es Dinge gebe, die besser unausgesprochen blieben bis in alle Ewigkeit. Er sagte es mit einem Lächeln, aber in seinen Augen las ich, dass er Angst hatte und noch nicht ganz genesen war.
Die Abende verliefen wie zuvor, nur dass Jens mehr und mehr vertrug, es war beinahe unmenschlich, wieviel Alkohol er seinem Körper in nur wenigen Stunden zumutete. Doch immer war ich es, der als erster nach Hause wankte, von Kopf bis Fuß benebelt und kaum noch fähig, den Haustürschlüssel ins Schloss zu stecken.

Eines Tages passierte ein schweres Unglück im Lager. Jemand war mit dem Gabelstapler in ein Regal gefahren und die herabstürzenden Kisten hatten Henning unter sich begraben, einen Zeitarbeiter Mitte 40, der immer lächelte, wenn er wusste, dass jemand anderes in der Nähe war, sonst aber griesgrämig und schnaufend seine Arbeit verrichtete, als stehe er jederzeit kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Wir waren alle zu ihm geeilt und halfen dabei, die Kisten von seinem leblosen Körper zu heben. Jens kam als letzter am Unfallort an und starrte schweigend auf den reglosen und blutenden Henning hinab.
"Ist er tot?", fragte jemand. Niemand wagte zu antworten. Jens beugte sich hinab und berührte Hennings Stirn. Dann lächelte er. Es war komisch, ihn während der Arbeit lächeln zu sehen. Als der Notarzt eintraf und wir wieder an die Arbeit gingen fragte ich ihn, warum er gelächelt habe aber er sagte nur, dass alles gut sei und ich mir keine Sorgen machen solle.
Am nächsten Dienstag sprachen wir noch einmal über den Unfall. Ich redete darüber, wie schnell doch das Leben vorbei sein könne und dass man jeden Tag genießen solle und den ganzen Kram, den Betrunkene für Philosophie halten, doch Jens lächelte nur und sagte nach eine Weile wieder, dass alles gut sei und wir uns keine Sorgen machen sollten. Ich fragte ihn, wen er mit "wir" meinte und er antwortete: "Ganz einfach. Euch!" Dann lachte er laut, stand auf und sprach eine Gruppe Mädchen an, die kurz zuvor die Bar betreten hatten und die wirklich gut, wenn auch sehr jung aussahen.
Dann, eines Tages - ich glaube es war ein Freitag und wir standen auf dem H&M Parkplatz, es war schon dunkel und eine kalte Brise wehte durch unsere Mäntel - fragte er mich, ob ich am Wochenende bereits etwas vorhätte und ob ich nicht Lust hätte, ihn in seinem Haus zu besuchen, er wolle mir seine Frau und seine beiden Töchter vorstellen.
Ich war wie vor den Kopf geschlagen und stimmte zu und als ich anfangen wollte, Fragen zu stellen, winkte er ab und sagte, dass er mir alles erklären würde, wenn ich bei ihm zu Hause sei. Seine Frau sei eine fantastische Köchin und seine Töchter wahre blonde Engel und er würde besonderen Wein kredenzen, denn er sei leidenschaftlicher Weinsammler und habe in seinem Keller eine reichhaltige Sammlung edelster Tropfen.
Ich fühlte mich hintergangen, als ich an jenem Freitagabend in mein dunkles, verlassenes Appartement kam. Entweder, was sehr wahrscheinlich war, hatte er einen Streich mit mir vor und führte mich an der Nase herum oder er sagte die Wahrheit und hatte all die Monate nur vorgegeben, jemand zu sein, den ich für ihn hielt. Beide Optionen bereiteten mir Unbehagen und so schlief ich kaum bis schlecht in jener Nacht mit unheilvoller Vorahnung auf den morgigen Abend.

Die Adresse, die Jens mir genannt hatte, führte mich in eine noble Gegend, die aus zahlreichen luxuriösen Einfamilienhäusern mit Vorgarten und Garageneinfahrt bestand. Ich hielt vor einem zweistöckigen Palast des Spießertums mit einem Springbrunnen im Garten und einer Veranda wie man sie von amerikanischen Landhäusern kennt. Auf dem Klingelschild stand "Tezkatlipoca" und ich wollte mich gerade wieder zu meinem Auto begeben, als plötzlich die Tür geöffnet wurde und mir Jens lächelnd und mit leuchtenden Augen gegenüberstand.
"Herzlich Willkommen!", sagte er feierlich und lud mich mit theatralischen Gesten ein, das Haus, das ich nicht für seines hielt, zu betreten. Als ich eintrat, glaubte ich, in einem Traum gefangen zu sein. So viel Prunk und Protz hatte ich noch nie an einem Ort gebündelt gesehen. Das Haus schien ein Museum für antike Kunst zu sein, Gold und Malerei und teure Teppiche und Schnickschnack. Dann erblickte ich die beiden blonden Mädchen, die am Treppenabsatz standen und mich mit leeren, farblosen Augen anstarrten. Sie schienen Zwillinge zu sein, denn sie ähnelten sich bis aufs kleinste Detail.
"Huitzilopochtli und Tlazolteotl.", stellte Jens mir die beiden fahlen Gestalten vor. "Meine beiden Engel."
Ich wollte gerade etwas bezüglich der seltsamen Namen erwidern, als ich plötzlich die schönste Frau erblickte, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Sie trat lächelnd durch den Hausflur auf mich zu, ihr langes, blondes, sehr glattes Haar rahmte ihr makelloses, schneeweißes Gesicht ein wie goldenes Wasser. Ihre Augen waren genauso farblos wie die der beiden Mädchen, sie trug ein blasses Sommerkleid, auf das rote Rosen gestickt waren. Sie reichte mir eine sehnige Hand und schenkte mir ein Lächeln, das meinen Körper erschauern ließ.
"Die Mutter meiner Engel, meine Göttin Mictanchihuatl." Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sich Jens verbeugte, als die wunderschöne Frau an ihm vorüberschritt und auch ich spürte das drängende Verlangen, mich vor ihr auf die Knie zu werfen aber ich tat es nicht.
"Man nennt mich Micta." Ihre Stimme klang wie der Frühling. "Viele Menschen heutzutage haben Probleme, meinen Namen auszusprechen." Sie lächelte noch immer und als sich unsere Hände berührten, spürte ich einen kalten Hauch meine Haut umschließen. Ich brachte keinen Ton hervor.
"Das ist Dan.", kam mir Jens zu Hilfe. "Wir arbeiten zusammen. Er ist ein guter Kerl. Er wird dein Essen mögen, meine Göttin."
"Das ist nicht von Relevanz.", sagte Micta noch immer lächelnd, doch ihre Augen durchbohrten meine Seele wie gleißende Pfeile. Ich hatte unsagbare Angst, doch Micta und Jens führten mich ins Esszimmer an einen prunkvoll gedeckten Tisch. Jens schenkte Wein ein, einen 2007er Chianti, wie er stolz verkündete. Allmählich kam ich zu mir, die Mädchen hatten sich schweigend an den Tisch gesetzt, auch Micta saß zu meiner Linken und blickte mich verträumt lächelnd an. Ich bemerkte, dass sie noch immer meine Hand hielt, doch ich konnte dem Reflex sie zurückzuziehen nicht nachgeben.
"Du bist jung.", sagte Micta mit ihrer Frühlingstimme. "Ich mag es, wenn Männer jung sind."
Ich nickte und kam mir plötzlich sehr dämlich vor, wie ein Teenager, der das erste Mal mit seiner Jugendliebe spricht. Jens brachte Teller mit einer dampfenden Suppe aus der Küche und stellte sie einen nach dem anderen vor uns auf den Tisch.
"Die Suppe wird dir schmecken.", sagte Micta. "Ich habe sie mit Liebe zubereitet." Jens warf Micta ein verliebtes Lächeln zu und nahm mir gegenüber Platz.
Wir aßen schweigend und ich empfand die Suppe als die köstlichste Speise, die je meinem Gaumen geschmeichelt hat, obwohl ich mich nicht mehr an ihren genauen Geschmack erinnern kann. War sie würzig, scharf oder süß gewesen? Ich weiß es wirklich nicht mehr.
Als wir fertig gegessen hatten stand Jens auf und räumte schweigend ab, während ich Mictas Augen und die ihrer Töchter auf mir lasten spürte. Jens brachte einen Gang nach dem anderen zu uns an den Tisch, einer köstlicher und berauschender als der vorige. Auch der Wein floss in rauen Mengen, ich verspürte jedes Mal den Drang einen tiefen Schluck aus dem Glas zu nehmen wenn Micta mich anblickte, so als würde sie meinen Geist und meinen Körper kontrollieren.
Als wir die Nachspeise hinter uns hatten und Jens die leeren Teller in die Küche gebracht hatte, bat Micta die beiden Mädchen, nach oben auf ihr Zimmer zu gehen, da sie und ihr Ehegatte mit ihrem Gast allein zu sprechen wünschten. Ich war mittlerweile schon reichlich betrunken und spürte die Angst, die mir zuvor die Kehle zugeschnürte hatte nur noch als leises Kitzeln an meinem Herzen. Doch zu sprechen wagte ich noch immer nicht, es wäre mir plump und unpassend vorgekommen, den bezaubernden Augenblick mit meiner nichtssagenden Stimme zu zerstören.
Micta strich mir plötzlich durchs Haar und eine Woge des Glücks durchflutete mich.
"Er ist genau, wie du ihn mir beschrieben hast, mein Liebling.", sagte sie zu Jens. Jens lächelte stolz und betrachtete voller Wohlwollen, wie Micta mein Gesicht zärtlich streichelte.
"Hast du ihm von mir erzählt, mein Liebling?", fragte sie Jens, doch sie wandte ihren Blick nicht von meiner Haut ab. Jens schüttelte den Kopf. "Nein, er hat nur selten gefragt, es war kein Problem, ihn im Dunkeln zu lassen."
Micta nahm nun mein Gesicht in ihre beiden Hände, die kalt wie Eis und heiß wie Feuer zugleich waren. Ihre durchdringenden farblosen Augen blickten mich unergründlich an, ihr Lächeln ließ mein Herz in Flammen aufgehen.
"Menschen fragen zu viel. Immer wollen sie alles verstehen." Sie sprach sehr leise und doch klang es, als spräche sie aus mir selbst zu meiner Seele. "Menschen sind rastlos, wenn sie keine Antworten erhalten. Menschen verlangen und wenn sie nicht bekommen, wonach sie verlangen, dann holen sie es sich mit Gewalt." Sie atmete tief ein und senkte ihren Blick. Als sie ihre Augen wieder den meinen zuwandte, lächelte sie wieder und dann küsste sie mich. Ihre Lippen waren weich und kalt und sie schmeckten bitter, chemisch, wie Spülmittel. Dennoch war es ein betörender Kuss und als sie ihre Lippen von meinem Mund löste, wollte ich mehr.
"Du bist ein Kind, Dan. Nie erwachsen geworden. Ein Kind, das bereits weiß, das fragen sinnlos ist, denn das Leben bietet dir keine Antworten. Das Leben selbst ist eine einzige Frage, doch die Antwort interessiert dich nicht mehr. Du verlangst nicht mehr. Du forderst nicht mehr. Deine Flamme ist erloschen."
Wieder küsste sie mich, wieder und wieder und wieder. Ich vernahm ihre Worte wie im Traum, nahm meine Umwelt kaum noch wahr, dachte nichts, fühlte nichts, war glücklich und traurig zugleich, aufgehoben, angekommen, zurückgekehrt und doch einsam, lebendig und tot zur selben Zeit, Mensch und Tier, Kind und Greis, kein Blut mehr, kein Blut, nur goldenes Wasser in all meinen Venen.
"Ich möchte mit dir nach oben gehen. Jens und ich, du und ich, du und Jens, wir werden eins sein in einer Welt, die in Milliarden Splitter zerfallen ist. Du und ich, meine Lieblinge und Ich, meine Söhne, mein Fleisch, mein Blut, wir werden eins sein in einer Welt, die kein Morgen kennt, eins in einer Welt, die bald den Flammen angehören wird, wie alles einst und je den Flammen angehört."
Sie führte mich nach oben, Hand in Hand gingen wir die Stufen hinauf, Micta vor mir, Jens hinter mir. Wir kamen am Zimmer der Töchter vorbei. Ich sah, wie sie sich liebkosten, nackt in ihrem Himmelbett. Sie warfen mir lüsterne Blicke zu, aus ihren Mündern tropfte Blut, das die Laken durchtränkte.
Wir traten in das Schlafzimmer, es war dunkel und kalt. Jens zog meine Kleidung aus, während mich Micta mit ihren kalten Küssen übersäte.
"Bleib hier und schau zu, Liebling.", sagte sie zu Jens, als sie mich in ihr Bett führte. Und zu mir gewandt sagte sie: "Du wirst mein neuer Liebling sein. Bist jung, viel jünger als das verwelkende Fleisch. Mein neuer Liebling, so schwach und dumm. Fass mich an, hier... genau da, berühre mich, liebe mich, du dummes, dummes Kind. Warmes Fleisch im Strom der Gezeiten. Was glaubst du, ist das Leben? Was gedenkst du, ist es wert? So dumm und klein, das Menschenherz, ganz leise und sacht pocht es in ihren verwesenden Körpern; es will gehört werden! Nur gehört werden, doch niemand hört zu. Niemand hört jemals zu... außer mir und dann ist es zu spät. Kein Morgen mehr. Kein Morden mehr. Das Menschsein endet hier und jetzt. Dein Menschsein endet. Jetzt!"

Tja, was soll ich sagen, das war der geilste Ritt meines bisherigen Lebens. Am nächsten Montag ging ich wieder zur Arbeit. Ich wusste bereits beim Aufstehen, dass Jens nicht da sein würde. Ich habe ihn seit diesem Abend nie wieder gesehen, weder ihn, noch Micta, noch ihre zwei versauten Töchter. Mittlerweile habe ich selbst eine Frau, keine Micta, aber sie hat auch ihre Reize. Meine Kinder sind schon längst aus dem Haus, mein Leben war kein besonderes, aber dafür eines ohne große Zwischenfälle. Nur die Nacht mit Micta geht mir seither nicht mehr aus dem Kopf. Guten Sex vergisst man nicht, nie, da kann kommen, wer will. Manchmal frage ich mich, was aus Jens geworden ist. Ich vermisse die Dienstage, an denen wir losgezogen sind, zwei unschuldige Burschen auf der Suche nach Spaß. Aber ich bin alt und verbraucht und zufrieden mit dem, was ich habe. Ich habe gelebt, habe gearbeitet, eine Familie gegründet und eine Göttin gefickt. Was will man mehr, frage ich da? Was will man mehr...?
Micta hatte Recht. Fragen bringt nichts. Jede Frage ist eine Frage zu viel. Wenn die Menschen endlich lernen würden, guten Sex zu haben, dann würde diese ewige Fragerei auch aufhören. Warum bin ich hier, wo komme ich her? Alles Nonsens.
Aber ich denke schon wieder zu viel. Einfach mal die Fresse halten. Das gilt auch für die Seele.
Einfach mal die Fresse halten.
Punkt.