„Dein
ganzes Leben lang hattest du Menschen um dich, die nur dein Bestes wollten.“,
hatte sie damals gesagt. Und: „Um ihnen zu danken, musst du nur eines tun:
Versuchen, ein guter Mensch zu sein.“
Es
war in der Besucherhalle gewesen, kurz nach meiner Einlieferung. Kurz nachdem
ich… es getan hatte.
„Die
Chance ist vertan.“, hatte ich erwidert. Ich war resigniert, verbittert und
wusste es nicht besser. Aber sie hatte nur den Kopf geschüttelt und gelächelt,
ihre zerfurchten Hände auf meinen.
„Es
ist nie zu spät.“ Sie glaubte, was sie sagte. Ihre Augen hatten geleuchtet, sie
wollte mir vergeben, wollte mir sagen, dass sie verstand, warum ich es getan
hatte, dass es das Richtige gewesen war, das einzig Richtige.
Aber
so konnte es nicht sein. Das wäre zu einfach. Vergebung als ein
Gratis-Gutschein, auf den jeder ein Anrecht hat.
„Es
gibt Dinge, die endgültig sind.“ Ich hatte es mehr zu mir selbst gesagt.
„Taten, die einen Menschen brandmarken.“ Sie hatte mich angesehen, noch immer
lächelnd, doch nur äußerlich, nur eine Maske, ein Phantom in einem alten
Gesicht, der Schatten einer Erinnerung. „Was ich getan habe, habe ich getan.
Ich muss akzeptieren, dass ich für immer ein Mörder sein werde. So etwas kann
man nicht einfach abschütteln; vergeben, vergessen. Natalie war meine Schwester
und dein Kind und ich habe sie uns genommen.“
Endlich
hatte sie aufgehört zu lächeln und ihren Blick abgewandt. Sie hatte aus dem
Fenster gestarrt, ins Schneegestöber, ließ meine Worte in ihre alte Seele
sickern. Doch ihre Hände wollte sie nicht zurückziehen. Sie waren auf den
meinen geblieben, als wären sie durch unsichtbare Fesseln aneinander gekettet.
Nach
einer Weile hatte sie unser Schweigen gebrochen, ein letzter Versuch, die
Realität so zurecht zu biegen, dass sie mit ihr leben konnte: „Du hast sie
befreit von ihrem Leid… Du hast sie befreit…“
Ich
hatte den Kopf geschüttelt, sie irrte sich, das lag auf der Hand. „Ich habe
Natalie erstickt, weil ich es nicht
ertragen konnte, sie so zu sehen. Es war meine Entscheidung, ihr Leben zu
beenden, nicht ihre. Es waren meine Angst, meine Wut, meine Traurigkeit, die
darüber entschieden haben. Sie wäre bis zum Ende ihrer Tage ein Krüppel
geblieben. Ich hätte mich um sie kümmern müssen, hätte Tag für Tag in diese
leeren Augen blicken, ihr den Speichel aus dem Gesicht wischen, ihr Stöhnen,
Grunzen, Schreien ertragen müssen. Es war nicht ihre Entscheidung. Vielleicht
wollte sie leben.“
„Du
hast sie befreit…“, hatte sie wieder gesagt, aber es hatte nicht danach
geklungen, als würde sie selbst noch daran glauben.
„Ich
habe sie in den Tod geschickt, damit wir frei sein können. Ich habe es nicht
für sie getan, sondern für mich. Für dich. Und für Papa.“
„Er
hat kaum reagiert, als ich ihm erzählt habe, was du… was Natalie passiert ist.“
Das alte Gesicht, das Schneegestöber, die Erinnerungen an die Kindheit. „Er saß
einfach nur da und starrte in den Fernseher.“
„Euch
trifft keine Schuld. Ich habe sie ganz allein auf meine Schultern geladen. Ich
werde lernen, damit zu leben. Irgendwann.“
Sie
hatte die Fesseln gelöst und auf ihre Uhr geschaut. Die Besuchszeit neigte sich
ihrem Ende. Sie hatte wieder gelächelt und den Kopf geschüttelt, mich gebeten,
es für heute gut sein zu lassen, mich auf das nächste Mal vertröstet; sie war
aufgestanden, hatte mich in den Arm genommen, hatte noch einmal gesagt, dass
ich versuchen solle, ein guter Mensch zu sein, von heute an und alles würde
gut. Sie hatte mich auf die Wange geküsst, hatte sich umgewandt und war aus dem
Besucherraum getreten, ohne noch einmal zurückzuschauen.
Ich
war sitzen geblieben und hatte den Rest der Besuchszeit auf meine Hände
gestarrt. Meine Hände um Natalies Hals. Ihr Gurgeln, ihre leeren Augen, die
sich nach innen drehten. Die Stille, als es endlich getan war. Die Einsamkeit.
Die Dankbarkeit.
Später
in meiner Zelle hatte ich etwas aufgeschrieben. Es sollte ein Brief an Natalie
werden, doch es wurde etwas anderes.
Müdigkeit.
Leere. Dann endlich: Schlaf. Tiefe, wärmende Schwärze hatte sich in mir
ausgebreitet; und ein neuer Tag wartete am Ende des Tunnels.
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Viele
Jahre sind seitdem vergangen.
Der
gebrochene Mann, der ich damals war, erscheint mir heute fremd und unwirklich,
doch manchmal, wenn ich in den Spiegel schaue, erwidert er meinen Blick und
scheint sich zu fragen, wer ich bin.
Die
Erinnerungen an Natalie - meine Hände um ihren Hals, ihren Tod, meine Erlösung
- suchen mich noch immer heim; jede Nacht, auf der Fahrt zur Arbeit, in der
Schlange an der Supermarktkasse. Doch haben sie ihre mächtige, zerstörerische
Kraft verloren. Ich habe mich an den wiederkehrenden Schmerz gewöhnt, das
Ritual der Schuld, den Gedankenzirkel in meiner Seele, aus dem es kein
Entrinnen gibt.
Natalies
Tod war der Beginn meines neuen Lebens. Ich habe die Schuld abgelegt. Vergebung
ist niemals gratis, aber sie ist greifbar für jeden, der sich nach ihr sehnt.
Ich
schaue meinen Kindern beim Spielen zu, meiner Frau, wie sie in Ihren Büchern
liest, unserem Hund, wie er sich an den einfachsten Dingen erfreut. Ich genieße
das Leben in vollen Zügen, atme es ein, seine Sekunden und Minuten, seine
Augenblicke und Momente; alles scheint einer unsichtbaren Ordnung zu folgen,
einem ungewissen, jedoch leuchtenden Ziel entgegen.
Die
Uhr läuft, die Zeiger drehen ihre Runden, spenden uns Zeit. Jeder ist seines
eigenen Schicksals Schmied. Ich musste zuerst das Leben meiner Schwester im
Feuer schmelzen lassen, um aus ihrem Tod mein eigenes zu formen.
Manchmal
lese ich, was ich damals, an jenem Tag im Januar in meiner Zelle geschrieben
habe. All diese Wut, die Verzweiflung, die ich in meine Worte gestopft hatte; versteckte
Zeitbomben, allesamt Blindgänger.
Vielleicht
wollte sie leben. Aber vielleicht… Vielleicht habe ich sie auch gerettet.
Und
mich mit, vor dem lauernden Abgrund, der auf nur einen Fehltritt wartet, stets
bereit, uns mit Haut und Haaren zu verschlingen, ins Nichts zu ziehen und uns
in der Dunkelheit verglimmen zu lassen.
„Woran denkst du, Papa?“ Ihre Augen leuchten,
es sind die Augen ihrer Mutter.
„Ich
habe mich gerade gefragt, was einen guten Menschen ausmacht, du süße Fee.“ Sie
lacht und steckt mich an. Wir lachen zusammen und ich hebe sie auf meinen Schoß
und streiche ihr durch das dichte braune Haar, das Haar ihrer Mutter.
„Warum
denkst du so Sachen?“, fragt sie irritiert und spielt dabei mit ihrem
Stoffhasen.
„Du
hast Recht.“, antworte ich lächelnd. „Man vergeudet so viel Zeit mit Sorgen und
Gedanken, wenn man erwachsen ist.“
„Erwachsene
sind langweilig.“, sagt sie müde und hüpft von meinem Bein, um zu ihrem Bruder
zu laufen und mit ihm Fangen zu spielen.
Ich
schaue ihnen noch eine Weile zu, dann gehe ich ins Haus und mache mir einen
Tee. Bald ist Winter und die beiden bauen sich wieder Burgen aus Eis und
Schnee, denke ich.
Der
Tee ist fertig. Alles ist gut.