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Mittwoch, 21. Oktober 2015

Der Tee ist fertig

„Dein ganzes Leben lang hattest du Menschen um dich, die nur dein Bestes wollten.“, hatte sie damals gesagt. Und: „Um ihnen zu danken, musst du nur eines tun: Versuchen, ein guter Mensch zu sein.“
Es war in der Besucherhalle gewesen, kurz nach meiner Einlieferung. Kurz nachdem ich… es getan hatte.
„Die Chance ist vertan.“, hatte ich erwidert. Ich war resigniert, verbittert und wusste es nicht besser. Aber sie hatte nur den Kopf geschüttelt und gelächelt, ihre zerfurchten Hände auf meinen.
„Es ist nie zu spät.“ Sie glaubte, was sie sagte. Ihre Augen hatten geleuchtet, sie wollte mir vergeben, wollte mir sagen, dass sie verstand, warum ich es getan hatte, dass es das Richtige gewesen war, das einzig Richtige.
Aber so konnte es nicht sein. Das wäre zu einfach. Vergebung als ein Gratis-Gutschein, auf den jeder ein Anrecht hat.
„Es gibt Dinge, die endgültig sind.“ Ich hatte es mehr zu mir selbst gesagt. „Taten, die einen Menschen brandmarken.“ Sie hatte mich angesehen, noch immer lächelnd, doch nur äußerlich, nur eine Maske, ein Phantom in einem alten Gesicht, der Schatten einer Erinnerung. „Was ich getan habe, habe ich getan. Ich muss akzeptieren, dass ich für immer ein Mörder sein werde. So etwas kann man nicht einfach abschütteln; vergeben, vergessen. Natalie war meine Schwester und dein Kind und ich habe sie uns genommen.“
Endlich hatte sie aufgehört zu lächeln und ihren Blick abgewandt. Sie hatte aus dem Fenster gestarrt, ins Schneegestöber, ließ meine Worte in ihre alte Seele sickern. Doch ihre Hände wollte sie nicht zurückziehen. Sie waren auf den meinen geblieben, als wären sie durch unsichtbare Fesseln aneinander gekettet.
Nach einer Weile hatte sie unser Schweigen gebrochen, ein letzter Versuch, die Realität so zurecht zu biegen, dass sie mit ihr leben konnte: „Du hast sie befreit von ihrem Leid… Du hast sie befreit…“
Ich hatte den Kopf geschüttelt, sie irrte sich, das lag auf der Hand. „Ich habe Natalie erstickt, weil ich es nicht ertragen konnte, sie so zu sehen. Es war meine Entscheidung, ihr Leben zu beenden, nicht ihre. Es waren meine Angst, meine Wut, meine Traurigkeit, die darüber entschieden haben. Sie wäre bis zum Ende ihrer Tage ein Krüppel geblieben. Ich hätte mich um sie kümmern müssen, hätte Tag für Tag in diese leeren Augen blicken, ihr den Speichel aus dem Gesicht wischen, ihr Stöhnen, Grunzen, Schreien ertragen müssen. Es war nicht ihre Entscheidung. Vielleicht wollte sie leben.“
„Du hast sie befreit…“, hatte sie wieder gesagt, aber es hatte nicht danach geklungen, als würde sie selbst noch daran glauben.
„Ich habe sie in den Tod geschickt, damit wir frei sein können. Ich habe es nicht für sie getan, sondern für mich. Für dich. Und für Papa.“
„Er hat kaum reagiert, als ich ihm erzählt habe, was du… was Natalie passiert ist.“ Das alte Gesicht, das Schneegestöber, die Erinnerungen an die Kindheit. „Er saß einfach nur da und starrte in den Fernseher.“
„Euch trifft keine Schuld. Ich habe sie ganz allein auf meine Schultern geladen. Ich werde lernen, damit zu leben. Irgendwann.“
Sie hatte die Fesseln gelöst und auf ihre Uhr geschaut. Die Besuchszeit neigte sich ihrem Ende. Sie hatte wieder gelächelt und den Kopf geschüttelt, mich gebeten, es für heute gut sein zu lassen, mich auf das nächste Mal vertröstet; sie war aufgestanden, hatte mich in den Arm genommen, hatte noch einmal gesagt, dass ich versuchen solle, ein guter Mensch zu sein, von heute an und alles würde gut. Sie hatte mich auf die Wange geküsst, hatte sich umgewandt und war aus dem Besucherraum getreten, ohne noch einmal zurückzuschauen.
Ich war sitzen geblieben und hatte den Rest der Besuchszeit auf meine Hände gestarrt. Meine Hände um Natalies Hals. Ihr Gurgeln, ihre leeren Augen, die sich nach innen drehten. Die Stille, als es endlich getan war. Die Einsamkeit. Die Dankbarkeit.
Später in meiner Zelle hatte ich etwas aufgeschrieben. Es sollte ein Brief an Natalie werden, doch es wurde etwas anderes.
Müdigkeit. Leere. Dann endlich: Schlaf. Tiefe, wärmende Schwärze hatte sich in mir ausgebreitet; und ein neuer Tag wartete am Ende des Tunnels.

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Viele Jahre sind seitdem vergangen.
Der gebrochene Mann, der ich damals war, erscheint mir heute fremd und unwirklich, doch manchmal, wenn ich in den Spiegel schaue, erwidert er meinen Blick und scheint sich zu fragen, wer ich bin.
Die Erinnerungen an Natalie - meine Hände um ihren Hals, ihren Tod, meine Erlösung - suchen mich noch immer heim; jede Nacht, auf der Fahrt zur Arbeit, in der Schlange an der Supermarktkasse. Doch haben sie ihre mächtige, zerstörerische Kraft verloren. Ich habe mich an den wiederkehrenden Schmerz gewöhnt, das Ritual der Schuld, den Gedankenzirkel in meiner Seele, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Natalies Tod war der Beginn meines neuen Lebens. Ich habe die Schuld abgelegt. Vergebung ist niemals gratis, aber sie ist greifbar für jeden, der sich nach ihr sehnt.
Ich schaue meinen Kindern beim Spielen zu, meiner Frau, wie sie in Ihren Büchern liest, unserem Hund, wie er sich an den einfachsten Dingen erfreut. Ich genieße das Leben in vollen Zügen, atme es ein, seine Sekunden und Minuten, seine Augenblicke und Momente; alles scheint einer unsichtbaren Ordnung zu folgen, einem ungewissen, jedoch leuchtenden Ziel entgegen.
Die Uhr läuft, die Zeiger drehen ihre Runden, spenden uns Zeit. Jeder ist seines eigenen Schicksals Schmied. Ich musste zuerst das Leben meiner Schwester im Feuer schmelzen lassen, um aus ihrem Tod mein eigenes zu formen.
Manchmal lese ich, was ich damals, an jenem Tag im Januar in meiner Zelle geschrieben habe. All diese Wut, die Verzweiflung, die ich in meine Worte gestopft hatte; versteckte Zeitbomben, allesamt Blindgänger.
Vielleicht wollte sie leben. Aber vielleicht… Vielleicht habe ich sie auch gerettet.
Und mich mit, vor dem lauernden Abgrund, der auf nur einen Fehltritt wartet, stets bereit, uns mit Haut und Haaren zu verschlingen, ins Nichts zu ziehen und uns in der Dunkelheit verglimmen zu lassen.
„Woran denkst du, Papa?“ Ihre Augen leuchten, es sind die Augen ihrer Mutter.
„Ich habe mich gerade gefragt, was einen guten Menschen ausmacht, du süße Fee.“ Sie lacht und steckt mich an. Wir lachen zusammen und ich hebe sie auf meinen Schoß und streiche ihr durch das dichte braune Haar, das Haar ihrer Mutter.
„Warum denkst du so Sachen?“, fragt sie irritiert und spielt dabei mit ihrem Stoffhasen.
„Du hast Recht.“, antworte ich lächelnd. „Man vergeudet so viel Zeit mit Sorgen und Gedanken, wenn man erwachsen ist.“
„Erwachsene sind langweilig.“, sagt sie müde und hüpft von meinem Bein, um zu ihrem Bruder zu laufen und mit ihm Fangen zu spielen.
Ich schaue ihnen noch eine Weile zu, dann gehe ich ins Haus und mache mir einen Tee. Bald ist Winter und die beiden bauen sich wieder Burgen aus Eis und Schnee, denke ich.
Der Tee ist fertig. Alles ist gut.

Dienstag, 8. September 2015

Vakuum


U-Bahn-Station. Ich stehe an den Gleisen und blicke in die endlose Schwärze des Tunnels. Es ist, als würde der Schacht meine Gedanken aufsaugen. Der Lärm um mich herum, das ewige Gezeter der Menschen, alles wird aufgesogen von der schwarzen Leere und zu Stille verarbeitet. Dort, im Dunkel, herrscht ein friedliches Vakuum.
Frieden. Vakuum. Stille. Vakuum.
Ich blicke hinunter zu meinen Füßen. Wie immer habe ich kurz vor der gelben Markierung Halt gemacht, der grelle Streifen, der sagt: „Pass auf!“. Der sagt: „Übertritt mich nicht, wenn dir dein Leben lieb ist!“
Mein Leben ist mir lieb. Lieb und teuer. Unbezahlbar teuer. Ich würde es niemals eintauschen. Für nichts. Für niemanden.
Was ist die Welt, wenn ich sie nicht erlebe? Nicht die Welt macht mich lebendig, sondern mein Lebendig-Sein ist es erst, das aus dem Nichts ein Etwas schafft. Galileo behauptet, die Erde drehe sich um die Sonne. Was für ein Irrsinn.
Die Erde dreht sich um mich herum. Ich bin die Sonne! Ohne mich herrscht Leere. Ohne mich...
Vakuum.
Der Gedanke an den Tod, das unweigerliche, unausweichliche Ende meiner Existenz hat mir schon immer Übelkeit bereitet. Und doch ist er da, ein ständiger Begleiter durch all die Augenblicke, die kommen und gehen. Ein Zug fährt ein, nicht meine Linie.
Es ist nur ein Schritt…
Nur ein Schritt. Warum beherrschen mich diese Gedanken so sehr?
Nur ein Schritt, das Quietschen der Notbremse, die Schreie der Zuschauer, der kurze Moment des Aufpralls – Gliedmaßen wie Papier durchschnitten, der Geschmack von Blut und… Leere. Das Ende der Welt. Die Sonne erlischt.
Nur ein Schritt, ein langer Fall, Schwerelosigkeit, das ungute Gefühl im Magen, keinen Boden mehr unter den Füßen zu spüren, dann – wieder der Aufprall, das Zerbersten von Knochen, der Geschmack von Blut, Schreie, dumpfes Entsetzen und… Leere. Nichts kreist mehr um Irgendetwas. Alles ist still.
Vakuum.


Aber so ist es nicht, nicht wahr? Niemand ist zugleich Mensch und Sonne, richtig? Wenn ich gehe, dreht sich alles wie gehabt um Irgendetwas. Alles dreht sich weiter, Erde um Sonne, Menschen um Gedanken, Gedanken um Augenblicke, kein luftleerer Raum. Alles atmet – und schreitet voran, jedes Geschöpf seinem unweigerlichen, unausweichlichen Ende entgegen.
So ist es doch, oder?
Du kennst die Antworten.


Jetzt, meine Bahn fährt ein. Durch den langen, schwarzen Tunnel wird sie mich sicher geleiten, nach Hause. Nach Hause.
Kein Schritt zu viel, kein Quietschen, kein Schreien, kein Geschmack von Blut, alle Knochen heil.
Es ist nur ein U-Bahn-Schacht, nicht mehr. Nur ein Tunnel, an dessen Ende Tageslicht auf uns wartet. Es ist nur ein Weg, einer von vielen, auf dem wir reisen, von Augenblick zu Augenblick. Kein Vakuum, solange wir atmen.
Alle Schritte - wohlbedacht.
So ist es doch, oder?
Du kennst die Antworten.