Der Mann, 34 Jahre alt, groß,
kurze Haare, sympathisch, modisch gekleidet und frisch geduscht, sitzt einsam
vor dem Mikrophon. Es ist kurz vor Eins in der Nacht, im Gebäude befinden sich
außer ihm nur Julia, die Anruferbetreuerin und Manni, der Produzent, beide weit
entfernt vom Studio im Hauptbereich der Radiozentrale.
Der Mann wartet auf den Beginn
seiner Sendung. In exakt 72 Sekunden wird er die Titelmusik einspielen und
sich für den ersten Anrufer bereit machen. Er heißt Patrick, ist 22 Jahre alt
und hat ein Problem mit seiner Freundin.
Der Mann zählt die Sekunden. Das
leise, bekannte Kribbeln steigt in ihm empor; trotz all der Sendungen ist er
noch immer aufgeregt.
Endlich, die Uhr zeigt Punkt
eins, er spielt die Titelmusik ein und öffnet den Mikrokanal.
Auf Sendung.
„So, meine Lieben. Herzlichen
Willkommen bei Mick Night, dem Telefontalk auf RSB-West. Schön das ihr da seid.
Wir haben heute eine offene Sendung, das heißt, ihr könnt mich zu jedem Thema
anrufen und mit mir quatschen. Die Nummer lautet 0180-5784714 und ist gebührenfrei.
Ruft einfach an, ich freu mich auf euch.“
Kurze Pause, Blick auf die Anzeigetafel.
„Unser erster Anrufer heute
Nacht ist Patrick, 22 Jahre. Hallo Patrick.“
Patrick freischalten.
„Hi, Mick. Wie geht`s?“
Jung, wach, aufgeregt.
„Mir geht`s gut, danke der
Nachfrage. Dein Thema, Patrick?“
„Puh, tja, wo soll ich
anfangen…“
„Am besten ganz von vorn.“
Lachen.
„Oh, gut, okay. Also, ich hab ein
Problem mit meiner Freundin.“
„Wie lange seid ihr zusammen?“
„Knapp ein Jahr. Wir haben uns
letztes Jahr auf `ner Halloweenparty kennen gelernt.“
Stift nehmen, notieren: Ein Jahr, Halloween
„Dann erzähl mal, worum geht’s
genau?“
„Tja, wie soll ich`s dir
erklären… Sie ist die absolute Traumfrau, Mick! Wunderschön, selbstbewusst, hat
Köpfchen und Charme und das alles… Aber, na ja…“
„Sie ist `ne Flaute im Bett?“
Lachen.
„Nee, im Bett ist sie auch
super. Na ja, bisher war`s jedenfalls immer super. Aber… Es fing eigentlich
alles letzten Mittwoch auf der Hochzeit von ihrer Schwester an. Da kam sie
plötzlich mit dieser abgefahrenen Idee…“
Aufschreiben: Sex
„Abgefahrene Idee?“
„Ja. Wir saßen draußen, ziemlich
abseits vom Getümmel, da griff sie mir plötzlich in die Hose und sagte lauter
so komische Sachen. Mir war das total unangenehm, ich mein`, ihre ganze Familie
war ja da und alle hätten uns sehen können.“
„Was hat sie denn genau gesagt?“
„Lauter so Sachen halt, das sie
mich will und das ich`s ihr mit der Zunge machen soll und ob wir nicht mal eben
auf die Toilette… na ja, und so weiter.“
„Na, die geht ja ganz schön
ran!“
„Ja. Ich mein`, versteh mich
nicht falsch, Mick, normalerweise bin ich was Sex betrifft sehr offen und
spontan, aber… ich hab mich einfach total überrumpelt gefühlt und… wie gesagt,
ihre Familie…“
„Ja, ich verstehe. Ihr seid
dann, nehme ich an, nicht zusammen auf die Toilette gegangen.“
Kurzes Zögern.
„Ähm, na ja…“
„Sie hat dich rumgekriegt?“
„Ja, ich wollte einfach nicht,
dass irgendjemand sieht, wie sie da mit ihrer Hand in meiner Hose rumfummelt.
Wir sind dann halt ins Frauenklo und haben uns in `ner Kabine eingeschlossen
und sie hat sich direkt auf die Toilette gesetzt und ihr Kleid hochgezogen und…
Tja, ich hatte mir zwar gedacht, dass sie was Heißes drunter gezogen hat, aber…
dass sie so ganz ohne Unterwäsche… Ich mein, schließlich war das `ne Hochzeit!“
„Sie hat das also geplant?“
„Ja, sah auf jeden Fall ganz so
aus. Gut, ich dachte mir halt, ich bring`s so schnell wie möglich hinter mich,
wird schon keiner merken und… na ja… ein bisschen erregt war ich auch, ich
meine, sie sieht wirklich umwerfend aus und so ganz nackt…“
„Ja, okay, Patrick, ich verstehe
schon.“
Unsicheres Lachen.
„Okay, entschuldige. Na ja,
jedenfalls hab ich dann angefangen sie oral zu befriedigen und es war Anfangs
auch sehr schön, sie wurde richtig wild und stöhnte und ich dachte mir, Mann,
wenn jetzt irgendeiner reinkommt, dann geh ich hier nie wieder raus! Tja, du
kannst dir ja denken, was dann passiert ist.“
„Es kam jemand rein, halleluja.“
„Ganz genau. Ich weiß nicht
genau, wer es war, jedenfalls klang es nach ihrer dicken Tante Syl… nach ihrer
Tante halt. Sie ist genau neben uns in die Kabine rein und hat sich schnaufend
hingesetzt.“
„Puh, sie hat also nicht
gemerkt, dass ihr kurz davor noch mitten in Action wart?“
„Nee, anscheinend nicht. Mann,
ich dachte, Shit, das war`s jetzt wohl und war sogar ein bisschen froh drüber,
aber als ich meine Freundin angeguckt hab, wie sie da saß und lächelte und die
Augen schloss und meinen Kopf wieder zwischen ihre Beine…“
„Oh, Mann. Und die Tante verrichtete
ihr Geschäft genau nebenan?“
„Ja! Es war widerlich! Ich
machte trotzdem weiter und meine Freundin kam dann auch sehr schnell. Sie hat
sich zwar relativ gut unter Kontrolle gehabt und nicht mehr gestöhnt, aber ich
kann mir nicht vorstellen, dass ihre Tante oder wer auch immer da nebenan war,
nichts mitbekommen hat.“
„Unglaublich.“
„Ja.“
„Wie ist es dann weiter
gegangen?“
„Wir sind beide nacheinander
raus und haben so getan, als wenn nichts wäre. Ich hab mich die ganze Zeit so beobachtet
gefühlt und war total angespannt. Meiner Freundin ging`s blendend. Sie wollte
sogar gleich noch mal, als wir abends nach Hause kamen.“
„Deine Freundin scheint sexuell
sehr aktiv zu sein.“
„Ja, das hat mich auch
überrascht. Sonst war es eigentlich immer umgekehrt, dass ich die Initiative
ergriffen habe und sie eher passiv war. Ich weiß auch nicht, warum sie
plötzlich so scharf darauf ist.“
„Hat sie eine besondere Vorliebe
für Oralverkehr?“
„Es hat ihr schon immer sehr
gefallen, wenn ich`s ihr mit der Zunge mache, aber sie hat nie darauf
bestanden, dass ich es tue. Ich hab`s meistens freiwillig gemacht, weil ich
selber Bock drauf hatte.“
Notiz: Oralverkehr
„Du hast vorhin erzählt, dass es
mehrere dieser Vorfälle gegeben hat. Was ist denn noch passiert?“
„Tja, also… kurz nach der
Hochzeit, ich glaub, am Freitag war das, wir waren allein bei ihr, ihre Eltern
waren bei Bekannten und ihre kleine Schwester schlief bei einer Freundin und…
jedenfalls, wir saßen gemütlich vorm Fernseher und haben uns `nen Film
angeschaut, da steht sie plötzlich auf und holt eine DVD aus dem Regal.“
„Ein Porno?“
„Ja, und was für einer. Sie
fragte mich, ob es okay ist, wenn wir diesen Film zusammen gucken und zwinkerte
mir dabei ganz komisch zu, sie kam mir vor wie ausgewechselt. Ich stimmte zu,
auch wenn ich die ganze Sache ziemlich merkwürdig fand.“
Notiz: Pornofetisch
„Worum ging`s in dem Film?“
„Tja, jetzt kommt`s, Mick. Also,
dass in `nem Porno hauptsächlich gepoppt wird, war mir ja klar, damit hab ich
gerechnet. War auch nichts Besonderes dabei, also keine richtig abartigen
Sachen, oder so. Aber eine Szene hat mir echt auf den Magen geschlagen.“
„Was war denn das für eine
Szene, beschreib mal.“
„Also, da war dieser Typ,
älterer Kerl, Mitte 40, auf `ner Familienfeier.“
„Ich ahne es…“
„Tja, wart` ab, es kommt dicker,
als du vermutest. Der Typ sitzt ziemlich abseits und schaut sich das
Familiengeplänkel an. Plötzlich setzt sich eine der Hauptdarstellerinnen zu ihm
und macht ihn an, auf die billigste Art und Weise versteht sich. Jedenfalls
landen sie, genau wie meine Freundin und ich auf der Damentoilette, er
befriedigt sie oral und jemand kommt rein, in die Kabine nebenan. Es ist die
Schwester von dem Kerl. Die beiden machen natürlich weiter. Irgendwann nach
fünf Minuten oder so, machen sie eine Pause und sie holt ein rotes Tuch aus
ihrer Handtasche und bittet ihn, ihm die Augen zu binden zu dürfen. Er nickt,
sie tauschen die Plätze, er bekommt die Augen verbunden.“
„Okay. Bis hierhin kann ich
folgen.“
„Einfach nur abartig… Sie bittet
ihn, sich unten rum frei zumachen und öffnet lautlos die Tür. Die andere Darstellerin,
wohlgemerkt die Schwester des Mannes betritt die Kabine und fängt an, ihm
einen…“
„Okay, ich verstehe.“
Notiz: Hang zum Inzest
„Ist das nicht abgefuckter
Scheiß, Mick?“
„Patrick, das alles klingt
ziemlich verstörend.“
„Was hältst du davon?“
„Nun… ganz ehrlich: Deine
Freundin ist krank. Du solltest dringend mit ihr reden und sie davon
überzeugen, dass sie ärztliche Hilfe benötigt.“
Schweigen.
„Patrick?“
„Scheiße, so krass?“
„Ja. Wenn du möchtest, rufen
wir, das heißt unsere Betreuerin Julia, dich nach der Sendung noch mal zurück
und geben dir ein Paar Adressen von Psychologen und Selbsthilfegruppen…“
„Wow, das schockt mich jetzt
schon ein bisschen.“
„Patrick, deine Freundin steht
auf Sex mit Verwandten, beziehungsweise in ihrer Anwesenheit. Das ist nicht
auf die leichte Schulter zu nehmen.“
Schweigen.
„Rede mit ihr, mach ihr klar,
dass es krank ist, so zu empfinden und dass sie Hilfe braucht.“
„Sie nennt mich immer Big Daddy,
wenn wir…“
„Julia meldet sich nach der
Sendung noch mal bei dir, okay?“
„Ist gut.“
„Alles Gute, Patrick.“
„Danke. Deine Sendung ist echt super!“
„Danke, Patrick.“
„Hau rein, Mick!“
„Ja, hau rein.“
Anruf beendet. Nächster Anruf: Christine, 29 Jahre
„Die nächste Anruferin ist
Christine und sie ist 29 Jahre alt.“
Christine freischalten.
„Hi, Christine.“
„Hi, Mick.“
Dunkle Stimme, selbstbewusst, natürlich
„Worum geht’s bei dir,
Christine?“
„Ich rufe an, weil mein Freund
sich vor vier Stunden umgebracht hat und ich nicht weiß, was mein Leben jetzt
noch für einen Sinn hat.“
Schweigen.
„Ich... weiß nicht mehr weiter…“
„Dein Freund hat sich
umgebracht. Vor vier Stunden erst, sagst du?“
„Ja.“
Notieren: Suizid Freund
Leises Schluchzen.
Schweigen.
„Darf ich dich fragen, wie er…
sich umgebracht hat?“
„Erhängt. Auf dem Speicher.“
„Schrecklich… wirklich, ich bin
total baff.“
Schluchzen.
Notiz: Speicher
„Wie lang wart ihr zusammen?“
„Achteinhalb Jahre…“
Stimme bricht, ist schwer zu verstehen.
Schweigen.
„Hast du ihn gefunden?“
„Ja… Ich kam gerade von der
Arbeit.“
„Hast du direkt gemerkt, dass
etwas nicht stimmt?“
„Nein. Ich… Ich hab mich nur
gewundert, wo er steckt. Aber es kam schon öfter vor, dass er abends nicht
daheim war… Mit seinen Jungs unterwegs, oder im Casino…“
„Hm, verstehe.“
„Ich wollte die Wäsche abhängen
und hab ihn erstmal gar nicht bemerkt… er bewegte sich kaum, hing im Dunkeln.“
„Hm…“
„Seine Augen waren offen, ich
hatte das Gefühl, dass er mich ansieht…“
„Schrecklich…“
„Ich bin gerade erst von der
Polizei zurück, ich fühl mich so unwirklich.“
„Das ist absolut verständlich,
Christine. Du hattest ja kaum Zeit, um die Situation zu begreifen. Ich fühle
wirklich mit dir. Das muss eine unbeschreibliche Trauer sein, die du gerade
empfindest.“
„Ich… Ich fühle mich so wertlos.
In den letzten Jahren ist unsere Beziehung schwächer geworden. Die Arbeit, der
Stress, zu wenig Zeit für einander. Wir lebten uns immer mehr auseinander.
Jetzt, wo er nicht mehr da ist, begreife ich erst, dass ich ohne ihn nichts mehr
bedeute…“
„So darfst du nicht denken,
Christine. Es ist verständlich, dass du dich allein und unsagbar verletzt
fühlst, aber du musst jetzt positiv denken, nach vorne schauen.“
„Es ist alles sinnlos.“
„Lass dir Zeit, gib dir die Zeit.
Du bist noch völlig im Schock gefangen. Lass das Ganze erstmal sacken.“
Schweigen.
„Ich möchte gerne, dass du nach
unserer Sendung noch mal mit Julia, unserer psychologischen Betreuerin
sprichst. Es ist jetzt ganz wichtig, dass du Unterstützung hast. Gibt es irgendjemand,
zu dem du gehen kannst? Familie, Freunde?“
Schweigen.
„Nein…“
„Umso wichtiger ist es, dass du
dir dann jemanden suchst, der dir helfen kann, die Trauer zu überwinden. Wir
können dir einige Adressen von Selbsthilfegruppen und…“
„Nein. Ich möchte nicht. Danke,
Mick.“
„Ich finde aber…“
„Ich möchte nichts mehr. Ich
möchte nur noch allein sein.“
„Du solltest…“
„Danke Mick, deine Sendung ist
wirklich spitze.“
„Christine, bitte…“
Anruf beendet.
„Jetzt ist sie weg… Shit…“
Kanal öffnen: Regie
„Können wir sie noch mal
zurückrufen?
Stimme über Kopfhörer:
„Sie hat ihre Nummer verborgen.
Wir versuchen sie wiederzuholen, aber es sieht nicht gut aus, Michael. Mach
erstmal weiter, wenn sich was tut, geben wir dir Bescheid.“
Nächster Anruf: Josef, 54 Jahre
„Gut, dann machen wir weiter mit
dem nächsten Anrufer, Josef, 54 Jahre. Hallo Josef.“
Josef freischalten.
„Hallo, Mick! Toll, dass ich
durchgekommen bin! Hab`s schon so oft versucht!“
Vital, aufgeregt, aktiv.
„Josef, du klingst erstaunlich
fit für diese Uhrzeit.“
„Ich bin immer fit, hehe! Das
liegt an den vielen Tabletten, die ich jeden Tag schlucke, haha! Hör mal, die
Anruferin von gerade tut mir schrecklich Leid! Das muss ja ungeheuer schmerzhaft
sein, den Lebensgefährten auf so traurige Art und Weise zu verlieren. Die Ärmste…“
„Ja, ist mir auch ziemlich an
die Nieren gegangen. Vor allem, dass sie so einfach aufgelegt hat. Wenn du noch
zuhörst, Christine, meld dich doch noch einmal bei uns, wir würden dir wirklich
gern helfen.“
„Ihr seid echt ein super Team,
Mick. Ich höre eure Sendung schon seit dem ersten Mal.“
„Wow. Dann bist du ja schon
richtig lange dabei.“
„Ja, tatsächlich! Könnte ich
vielleicht `ne Autogrammkarte bekommen?“
„Klar, schicken wir dir zu. Bleib
noch dran nach unserem Gespräch, damit wir deine Adressdaten speichern
können.“
„Mach ich.“
„So, zu deinem Thema. Worum
geht`s bei dir, Josef?“
„Ah, richtig, ja. Also, ich ruf
an, um mit dir über das Thema Drogen zu sprechen.“
„Drogen?“
„Richtig.“
Notiz: Drogen
„Gut, dann lass uns über Drogen
sprechen, Josef. In welcher Beziehung stehst du denn zu dem Thema.“
„Also, ich würde mich als eine
Art Künstler des Rauschs beschreiben. Ich entwickle neue Drogen, Substanzen,
die das Bewusstsein erweitern und zu Glücksgefühlen und gesteigerter
Wahrnehmung führen.“
„Ach, das klingt ja aufregend.
Erzähl mal.“
„Also, ich fang am besten ganz
vorne an. In den 70ern hab ich `ne ziemlich lange Zeit als Chemiker bei Zodiac
Industries in den Staaten gearbeitet. Ich war damals ziemlich involviert in der
örtlichen Drogenszene, hatte also schon sämtlichen Stuff auf dem Markt durch.
Durch meine Arbeit hatte ich ziemlich leichten Zugang zu verschiedenen
Materialien, Chemikalien und Substanzen, da kam mir eines Tages die Idee!“
„Du hast ein bisschen
rumexperimentiert.“
„Ein bisschen wäre untertrieben.
Ich hab `ne ganze Menge Shit zusammengebraut!“
Notieren: Chemiker, Drogen
„Wenn man dich so reden hört,
könnte man meinen, du seist Dreißig Jahre jünger.“
„Ich fühl mich auch so!“
„Bist du gerade drauf, hast du
was genommen?“
„Ich bin eigentlich seit den
letzten fünfzehn Jahren dauerstoned. Ich fühl mich einfach nur gut dabei.“
„Was machst du denn heute so
beruflich? Bist du immer noch als Chemiker tätig?“
„Ach was, Mick, wo denkst du
hin. Der Job hat mich total runtergezogen. Ich war richtig froh, als die ganze
Scheiße damals raus gekommen ist und ich gefeuert wurde. Nee, ich leb von
Sozialhilfe und verdien` mir nebenbei was mit dem Verkauf.“
„Verkauf? Sag bloß, du verkaufst
dein Zeug?“
„Ja, aber nur an ausgewählte
Leute aus meinem Bekanntenkreis. Keine Kids auf der Straße.“
Notiz: Dealer
„Verdienst du gut daran?“
„Ich komm über die Runden. Von
der Stütze allein kann doch kein Mensch leben.“
Stimme über Kopfhörer:
„Wir versuchen, ihn zu fangen,
Michael. Ist verschlüsselt… versuch ihn noch was zu halten.“
„Bist du zufrieden mit deinem
Leben, Josef?“
„Zurzeit läuft`s ganz gut. Mein
Leben ist halt sehr entspannt, genau das, was ich brauche.“
„Wie wirkt denn deine selbst
gebastelte Droge? Ich nehme mal an, dass sie, wie jede andere Droge auch, gesundheitsschädigend
ist, oder?“
„Die Wirkung ist ähnlich wie bei
Heroin. Gefühle werden intensiviert, man fühlt sich ausgeglichen, beruhigt. Es
befreit von Angst, Unsicherheit und Müdigkeit. Ich benötige nur zwei Stunden
Schlaf pro Nacht und bin jederzeit vollkommen fit! Ein Leben ohne Droge, mit
mindestens acht Stunden Schlaf und einem Tag voller Erschöpfung kann ich mir
schon gar nicht mehr vorstellen.“
„Hm, das klingt ja alles ganz
toll, aber noch mal zu meiner Frage nach der Schädlichkeit…“
„Gut, hin- und wieder kommt es
halt schon mal zu Austickern. Gedächtnisverlust, Paranoia, der übliche Kram
halt, aber ansonsten ist das Zeug relativ ungefährlich.“
„Paranoia?“
„Ja, du siehst halt Dinge, die
nicht da sind, kriegst Angstzustände und Verfolgungswahn. Aber das passiert
wirklich nur sehr selten, so zweimal die Woche vielleicht, wenn`s hoch kommt.“
„Das würde mir schon reichen,
Josef, ganz ehrlich. Du solltest dringend auf deine Gesundheit achten.“
„Ach was, mir geht’s blendend,
ich nehm` das Zeug jetzt schon so lange, ich komm einfach gut drauf klar!“
„Trotzdem solltest du dich mal
richtig von einem Arzt durchchecken lassen.“
„Drehst du ab, Mick? Was meinst
du, was der sagen würde, wenn der die ganze Kacke in meinem Körper findet? Ich
würde in der Klapse landen!“
„Besser in der Klapse, als unter
der Erde, Josef. Ist nur ein kleiner Tip von mir.“
„Yeah, danke für den Tip, aber
ich geh erst zum Arzt, wenn ich mir sicher bin, dass er nichts mehr für mich
tun kann. Bis dahin genieß ich das Leben in vollen Zügen!“
Stimme über Kopfhörer:
„Wir haben ihn, Michael. Beende
das Gespräch, sollen sich die Bullen drum kümmern.“
„Wirklich eine verrückte
Geschichte, Josef. Pass trotzdem auf dich auf, okay?“
„Ja, Mann, mach dir keine
Sorgen!“
„War nett, mit dir zu plaudern.“
„Danke. Mit dir auch, Mick. Hat
Spaß gemacht!“
„Mach`s gut, Josef!“
„Jo, mach`s besser!“
Anruf beendet. Nächster Anruf: Tim, 16 Jahre
„Verrückte Stories kriegen wir
heute zu hören. Der nächste Anrufer ist Tim, 16 Jahre. Hallo Tim!“
Tim freischalten.
„Hallo, Mick!“
Aufgekratzt, überdreht, unterdrücktes Gelächter im
Hintergrund.
„Worum geht`s bei dir, Tim?“
Kichern. Räuspern.
„Also…“
Lachen im Hintergrund.
„Es geht darum, dass ich deine
Mutter gefickt hab!“
Lautes Gelächter, jemand brüllt im Hintergund.
Anruf beendet.
„Da ist mal wieder ein Komiker
durchgekommen, sehr witzig. Meine Mutter ist schon seit vier Jahren tot, mein
Lieber. Was sich hier heute wieder für Abgründe auftun…“
Nächster Anrufer: Bernd, 33 Jahre
„Ich begrüße Bernd, 33 Jahre.
Hallo Bernd.“
Bernd freischalten.
„Hallo Mick.“
Ruhig, tief.
„Bernd, worum geht’s bei dir?“
„Ich stehe auf Gang-Bang.“
Notiz: Sex
„Also auf Gruppensex?“
„Genau.“
„Bist du hetero?“
„Bi.“
Notiz: Bi
„Hast du spezielle Kontakte oder
besuchst du Swinger-Clubs oder andere auf Gruppensex ausgerichtete
Einrichtungen?“
„Mal so, mal so. Meistens finde
ich die Leute im Internet, manchmal auch in Discos oder Nachtclubs.“
„Wie oft hattest du schon Sex
mit mehreren Menschen gleichzeitig?“
„Sehr oft. Zurzeit drei Mal die
Woche, mindestens.“
„Immer mit den selben Leuten,
oder…“
„Wechselnde Partner. Dienstags
und donnerstags in einer Zwölfergruppe und am Wochenende mit einer 3x3
Connection, also drei Frauen, drei Männer.“
„Wow, ein richtiger Terminplan!“
„Ja.“
„Mit Zwölf Leuten, sagst du?“
„Ja.“
„Das ist `ne Ganze Menge. Wo
trefft ihr euch denn dann alle, in einer Privatwohnung oder im Hotel?“
„Privatwohnung. Da haben wir
unsere Ruhe.“
„Wie läuft denn so ein Treffen
bei euch ab, wird da vorher noch viel geredet oder geht’s gleich zur Sache, wenn
alle da sind?“
„Geht gleich zur Sache. Wir
warten nicht, bis alle da sind. Wir fangen einfach an und wer nachkommt, stößt
einfach dazu.“
„Stößt einfach dazu, hehe…
verstehe.“
„Ja.“
„Seit wann machst du das jetzt
schon?“
„Seit meinem 14. Lebensjahr.“
„Seitdem du vierzehn bist?“
„Ja.“
„Wie kam es denn dazu? Hattest
du dein erstes Mal bereits mit mehreren Partnern?“
„Ja. Wir waren zu Sechst. Wir
hatten bei einem Kumpel übernachtet, zwei Freunde aus meiner Klasse und ich.
Später kamen zwei Mädchen aus der Nachbarschaft vorbei und wir haben Alkohol
getrunken. Dann haben wir Strippoker gespielt und irgendwann ging`s dann los.“
„Unglaublich, mit 14… Dieses
Ereignis hat dich sicherlich geprägt. Hattest du auch schon mal ganz normalen
Sex mit einem Partner?“
„Ja. Es war sehr langweilig.“
„Vielleicht war es nur der
falsche Partner?“
„Nein. Mir fehlte dieses
Miteinander, die Gemeinschaft. Ich mag es, wenn alle stöhnen.“
„Wie läuft denn die Suche nach
Partnern im Netz? Ist es nicht schwer, geeignete Leute zu finden, die man
selbst attraktiv, und die vor allem sich untereinander anziehend finden?“
„Nein. Bisher gab es da keine
Probleme. Das Aussehen ist mir meistens auch egal. Es geht nur um Sex, egal mit
wem, Hauptsache wir sind viele und haben Spaß an der Sache.“
„Das klingt sehr kurios und
aufregend. Hast du zusätzlich zu den Treffen auch Kontakt zu den Personen?“
„Nein. Wir wollen alle anonym
bleiben. Persönliches bleibt außen vor. Es geht nur um Sex.“
„Tragt ihr auch Masken oder
ähnliche Verkleidungen, um eure Anonymität zu wahren?“
„Nein, nur im Swinger-Club, da
ist das Pflicht.“
„Das kenne ich. Hast du nicht
Angst, bei einem Treffen einmal einem Arbeitskollegen oder einem
Familienmitglied zu begegnen?“
„Die Aufregung ist immer
ziemlich groß vor einem Treffen. Sicher denke ich mir, was, wenn dein Chef
gleich nackt vor dir steht aber wenn`s dann losgeht, ist es vollkommen egal,
wer die Personen sind. Es geht nur um die Körper, den körperlichen Kontakt.“
„Lebst du in einer Beziehung,
Bernd?“
„Nein.“
„Hattest du schon mal eine
Beziehung oder warst mal so richtig verliebt?“
„Nein.“
„Hm. Noch nie, auch nicht in der
Schulzeit?“
„Noch nie.“
„Das macht mich schon ein
bisschen stutzig, ehrlich gesagt. Du hattest schon mit so vielen Menschen Sex,
aber noch keine richtige Verbindung zu einem von ihnen.“
„Es geht nur um Sex.“
„Ich weiß, ich verstehe deine
Beweggründe. Aber hast du nicht auch manchmal das Bedürfnis nach Liebe?“
„Nein.“
„Gut, ich merke schon, du bist
zufrieden, so wie es ist. Du bist sehr zielstrebig, Bernd.“
„Ja.“
„Danke, dass du angerufen und
von dir erzählt hast!“
„Danke, Mick. Kann ich ein
Autogramm haben?“
„Gerne. Bleib dran, wir notieren
uns deine Adresse.“
„Okay.“
„Machs gut, Bernd!“
„Du auch, Mick.“
Anruf beendet.
„So, meine Lieben, wir machen
jetzt eine kleine Pause. In ein paar Minuten geht`s dann wieder weiter mit
euren Themen. Ruft an unter 0180-5784714! Bis gleich!“
Musik einspielen. Pause.
Der Mann lehnt sich zurück,
trinkt einen Schluck Wasser. Über den Kopfhörer meldet sich Manni, der
Produzent in gewohnt kumpelhaftem Ton:
„Wieder `ne ziemliche Freakshow
heute, hm?“
„Bitte, Manni, das sind keine
Freaks.“
„Du hältst doch nur zu denen,
weil du selber einer bist, Kollege.“
„Wer weiß…“
„Julia telefoniert gerade mit
deinem nächsten.“
„Sieht sie glücklich aus?“
„Hm, schwer zu sagen. Hast du
sie jemals glücklich gesehen?“
„Oft. Sehr oft. Glitzern ihre
Augen?“
„An der glitzert gar nichts,
mein Lieber. Wenn du mich fragst, hat da noch nie was geglitzert.“
„Was soll`s, wir haben`s sowieso
gleich hinter uns.“
„Ich hoffe, es ruft noch ein
verwirrter Sado oder noch einer von diesen Selbstmord-Typen an. Die sind immer
so verflucht… oh, sie ist fertig.“
„Ich muss weiter arbeiten,
Manni. Sag Julia, dass ich wieder auf Sendung gehe.“
„Yeah, gut, alles klar.“
Der Mann öffnet den Kanal. Die
zweite Runde beginnt…
„So, meine Lieben, da sind wir
wieder, frisch und ausgeruht! Mick Night wartet auf eure Anrufe, also meldet
euch unter 0180-5784714.“
Nächster Anruf: Caro, 18 Jahre
„Bei uns ist jetzt Caro, 18
Jahre.“
Caro freischalten.
„Hallo Caro.“
„Hallo, Mick.“
Weiblich, ruhig, gelassen.
„Worum geht`s bei dir, Caro?“
„Bei mir geht`s darum, dass ich 7
Jahre lang von meinem Onkel vergewaltigt wurde.“
Pause.
„Was?“
„Ich wurde 7-Jahre lang…“
„Ich war nur geschockt. 7 Jahre
sagst du?“
„Ja. Es fing an, als ich 11
Jahre alt war. Er war bei meinen Eltern zu Besuch und kam nachts in mein Zimmer
um mich zu missbrauchen. Bis ich 13 war, hat er mich jedes Mal vergewaltigt,
wenn er bei uns zu Hause übernachtet hat, so vier- bis fünfmal im Monat. Dann,
später, als meine Eltern tot waren und ich zu ihm ziehen musste, passierte es
öfter, beinahe jeden Tag.“
„Mein Gott…“
„Es wurde zu einer Art
Gewohnheit für ihn… und mich. Ich wusste schon, als ich seinen Wagen die
Einfahrt hochfahren hörte, dass es gleich wieder so weit sein würde. Er sagte
immer, dass ich ihn verzaubert hätte, dass er mich liebte und ich ihn von der
Finsternis befreien würde. Er hatte ziemlich viel Mist gebaut in seinem Leben,
glaube ich.“
„Warum hast du dich nicht
gewehrt? Hast du niemandem von dem Missbrauch erzählt?“
„Nein. Anfangs hatte er mir
damit gedroht, meine Eltern zu ermorden, wenn ich ihn verraten würde, also
blieb ich still. Doch bei einem der vielen Male entdeckte uns meine Mutter auf
der Couch im Wohnzimmer. Sie drohte damit, ihn anzuzeigen und alles
aufzuklären. Mein Onkel fackelte nicht lange und brachte erst sie und später
auch meinen Vater um. Er bewahrte ihre Leichen Jahre lang im Gefrierfach auf.
Niemand bemerkte etwas.“
„Unglaublich. Ist ihm die
Polizei nie auf die Schliche gekommen?“
„Nein. Meine Eltern hatten nicht
viele Freunde. Mein Onkel nahm mich mit zu sich nach Haus und sperrte mich in
ein kleines Zimmer, dass er für mich im Keller hatte einrichten lassen. Die
Polizei suchte sehr lang nach mir und einem vermutlichen Entführer, beziehungsweise
nach dem Mörder meiner Eltern, doch nach und nach stellten sie die Fahndung
zurück und die Sache geriet in Vergessenheit.“
„Unfassbar. Das ist kaum zu
glauben.“
„Ich weiß.“
„Was geschah mit dir? Hat dich
dein Onkel in seinem Keller gefangen gehalten, bist du niemals ans Tageslicht
gekommen?“
„Anfangs ja, doch nach und nach
entwickelte mein Onkel immer mehr Vertrauen zu mir und ließ mich schon mal rauf
in die Wohnung.“
„Wie oft vergewaltigte er dich
in der Zeit? Tat es weh, verletzte er dich sogar?“
„Manchmal tat es ein bisschen
weh, aber er war meistens sehr zärtlich. An manchen Tagen gefiel es mir sogar
ein bisschen. Ich stellte mir vor, er sei jemand anderes. Der Mann auf dem
Titelblatt der Zeitung, ein bekannter Schauspieler, Musiker, ein Prinz. Er war
immer sehr darauf bedacht, dass es mir gefiel, dass ich ihn lobte, nachdem er
fertig war. Meist musste ich lügen, doch manchmal waren meine Worte ehrlich
gemeint.“
„Mein Gott... du sprichst über
all diese Dinge, als wären sie selbstverständlich für dich. Seit wann ist deine
Gefangenschaft vorbei, Caro?“
„Seit gestern. Mein Onkel ist vor
vier Tagen gestorben. Sie haben ihn gestern Morgen abgeholt. Dabei haben sie mich
gefunden. Ich saß gerade im Wohnzimmer und hab Sponge-Bob geguckt. Waren ganz
schön überrascht.“
Pause.
„Ich bin jetzt in einem Heim.
Ich weiß nicht, was mit mir passiert. Ich hoffe, ich bekomme bald wieder eine
neue Familie.“
„Unglaublich, wie ruhig du über
all diese Sachen sprichst.“
„Hab mich halt dran gewöhnt. Jetzt
bin ich ziemlich verwirrt. Als ich heute Nacht wieder deine Sendung hörte,
musste ich dich unbedingt anrufen. Ich höre Mick Night schon seit der ersten
Sendung, aber ich hatte ja kein Telefon, sonst hätte ich schon früher
angerufen. Mein Onkel hat es immer gesperrt, ich konnte nie telefonieren. Aber
wen hätte ich auch anrufen sollen, außer dir?“
„Schon okay, Caro.“
„Du bist wirklich ein netter
Mann. Immer weißt du eine Lösung und hilfst den Leuten, wenn sie nicht mehr
weiter wissen.“
„Danke, Caro.“
„Bitte, ich mein`s ehrlich.“
„Das weiß ich… Wie war das für
dich, deine Eltern zu verlieren und zu dem Mann zu ziehen, der sie auf dem
Gewissen hatte? Warst du nicht wütend?“
„Es war sehr komisch. Ich mochte
meine Eltern nicht besonders. Wir haben oft gestritten. Mein Onkel war immer
sehr lieb zu mir, brachte Geschenke mit und verbrachte viel Zeit mit mir. Wir
redeten sehr oft und viel. Eigentlich war er ein guter Mensch. Anfangs war ich
ihm natürlich sehr böse, weil er mich nicht vorher gefragt hatte, als er meine
Eltern umbrachte, aber nach und nach gewöhnte ich mich an ihn, das Haus, mein
Zimmer. Es war ein sehr schönes Zimmer.“
„Hast du nie versucht abzuhauen,
Hilfe zu holen, dich zu befreien?“
„Nein. Oder doch, einmal. Wir
hatten uns ein bisschen gezankt. Er wollte wieder mit mir schlafen, aber ich
hatte meine Tage und wollte nicht. Er wollte trotzdem, sagte, es sei ihm egal.
Er war angetrunken und roch sehr stark nach Alkohol. Ich hatte ihn noch nie
betrunken erlebt und es erschreckte mich, wie rücksichtslos er sein konnte.“
„Entschuldige bitte, aber er hat
deine Eltern ermordet. Das sollte eigentlich Beweis genug darstellen.“
„Das war etwas anderes. Ich
wusste, dass er zu anderen sehr rücksichtslos sein konnte, aber nicht zu mir.
Wie gesagt, er war sonst immer sehr vorsichtig.“
„Oh, Mann…“
Blick auf die Uhr.
„Jedenfalls… Er wollte, aber ich
wehrte mich und trat nach ihm. Mein Bauch schmerzte und ich hatte den ganzen
Tag Krämpfe gehabt. Ich wollte einfach nicht, dass er da in mir rumwühlt. Er
war sehr sauer und schimpfte laut. Am nächsten Tag kletterte ich morgens aus
dem Küchenfenster. Ich lief durch die Straßen, bis die Sonne hoch am Himmel
stand. Als ich nach Hause kam, weinte mein Onkel. Er sah wirklich sehr traurig
aus. Ich hab ihn dann in den Arm genommen und ihn getröstet. Er sagte, wenn ich
noch einmal von ihm fortlaufe, würde er sich umbringen.“
„Wie ist dein Onkel letztendlich
gestorben, Caro? Hat er sich umgebracht?“
„Nein. Die Ärzte sagen
Herzversagen, dabei war er noch gar nicht so alt.“
„Hast du der Polizei erzählt,
was dein Onkel dir und deinen Eltern angetan hat?“
„Ja. Sie waren geschockt und
wütend.“
„Das verstehe ich. Ich bin
sprachlos, wie teilnahmslos du das alles erzählst. Ich kann mir nicht
vorstellen, dass du all die Jahre glücklich mit deinem Schicksal warst.“
„Ich war nicht die ganze Zeit
glücklich. Ich war eigentlich nur sehr wenige Male glücklich in dieser Zeit,
aber mir kam trotzdem nie der Gedanke, noch einmal von ihm fortzulaufen. Ich
wollte später nicht daran Schuld sein, ihn umgebracht zu haben, verstehst du?“
„Ich versuche es. Du bist eine
starke Frau, Caro.“
„Oh, Mist, da kommt jemand. Ich
muss eigentlich im Bett liegen.“
„Caro, warte noch bitte!“
„Geht nicht, muss auflegen.“
„Hast du einen Arzt, ist dir ein
Psychologe zugeteilt worden?“
Anruf beendet.
„Verdammt! Sie ist weg…“
Stimme über Kopfhörer:
„Wir können die Nummer nicht
zurückverfolgen, Mick. Anonym. Mach einfach weiter. War vermutlich sowieso
wieder nur ein Scherz, oder?“
Nächster Anruf: Christian, 29 Jahre
„Mann, Mann, Mann, heute Abend
ist echt was los hier. Unfassbar… Diese Geschichte muss ich erstmal verdauen.“
Kurze Pause. Schluck aus der Wasserflasche.
„Puh, machen wir einfach weiter
mit Christian, 26… nein, 29 Jahre. Hallo Christian.“
Christian freischalten.
„Hallo?“
Leise, unsicher, doppelt.
„Oh, Christian, kannst du bitte
das Radio im Hintergrund abstellen? Wir hören dich doppelt.“
„Äh, klar. Sorry.“
„Kein Problem. Worum geht`s bei
dir Christian?“
„Also, bei mir geht`s darum,
dass ich Angst vor Menschen hab.“
Notiz: Angst
„Angst vor Menschen. Wie äußert
sich diese Angst, Christian?“
„Also, wenn ich zum Beispiel
etwas kaufen möchte in der Bäckerei oder so, dann werd ich ganz kribbelig und
krieg Schweißausbrüche und kann nicht mehr richtig sprechen und mich versteht
dann keiner mehr und dann werd ich noch nervöser und so.“
„Oh, je.“
„Und auf der Arbeit, wenn wir
Gruppenrunde haben, dann krieg ich nie was raus, weil mich alle so anstarren
und so. Und wenn einer neben mir steht auf der Toilette, dann kann ich nicht
mehr, weil ich die ganze Zeit denke, dass der mir auf meinen Penis guckt.“
„Oh, je, Christian.“
„Und wenn ich…“
Musik einspielen.
„Oh, schade Christian, unsere
Sendung ist leider schon vorbei.“
„Aber…“
„Trotzdem danke dass du
angerufen hast. Am Donnerstag haben wir wieder `ne offene Sendung, versuch`s da
doch noch mal.“
„Aber!“
„Möchtest du noch ein paar Takte
mit der Julia, unserer psychologischen Betreuerin sprechen?“
„Äh… ja, gut, ok.“
„Alles klar, du legst bitte auf
und die Julia ruft dich dann gleich zurück.“
„Okay. Deine Sendung ist echt
super, Mick!“
„Ja, danke.“
„Hör ich jede Nacht!“
„Gut. Bis dann, Christian.“
„Kann ich noch ein…“
Anruf beendet.
„So, meine Lieben, das war`s mal
wieder für heute. Morgen haben wir eine Themensendung, es geht um „Sex in der
Öffentlichkeit“. Wenn ihr also gern Sex im Freien, in der Umkleidekabine, im
Schwimmbad oder sonst wo außerhalb euers Schlafzimmers habt, dann ruft mich an
unter der Nummer 0180-5784714. Danke noch mal an alle Anrufer diese Nacht, auch
an die, die leider nicht durchgekommen sind. Macht`s gut, passt auf euch auf
und schaltet morgen abend, 1 Uhr, wieder ein. Gute Nacht und bis morgen! Euer
Mick.“
Musik abwarten, Mikro ausschalten. Umleiten, offline.
Der Mann sitzt im Auto, fährt einsam
durch die Nacht. Das Radio ist aus, die Straßen menschenleer. Er raucht eine
Zigarette, genießt die frische Nachtluft.
Er denkt an die Sendung, das
Gespräch mit Julia und Manni danach. Er weiß, dass heute etwas anders war. Er
weiß, dass es die letzte Folge seiner Show gewesen ist. Er weiß, dass er nichts
weiß.
Mein Leben ist ein grauer Fleck, denkt der Mann, während er einsam durch die Großstadt
rast. Wir spielen uns auf, beißen uns
fest in jeder Kleinigkeit… alles nur unwichtige Details in einem endlosen Meer
aus Belanglosigkeit.
Plötzlich klingelt sein Handy.
Er geht ran.
„Hey, Michael.“ Es ist Julia.
„Bist du schon zu Hause?“
„Nein, noch unterwegs.“
„Bleib locker, Mick. Lass dich
nicht so aufsaugen…“
„Es sind nicht nur die
Gespräche, Julia. Es ist das ganze Format, das mich abnervt!“
„Es ist doch deine Idee gewesen,
Mick! Wir sind so erfolgreich, es geht immer weiter bergauf! Jede Nacht gibt es
mehr Anrufer, selbst das Fernsehen ist auf dich aufmerksam geworden. Willst du
das alles jetzt wieder wegwerfen, nur weil du `nen Durchhänger hast?“
„Das ist kein verfluchter
Durchhänger, Julia! Das Format ist einfach scheiße!“
„Das hättest du dir vorher
überlegen sollen. Wir können jetzt nicht einfach abbrechen und umkehren.“
„Mir egal, was wir können und was
nicht! Julia, ich verliere mich selbst ich diesem Haufen aus Sex, Gewalt und
Sinnlosigkeit! Das sind nicht einfach nur ein paar Freaks, die mir die
Einschaltquoten sichern! Sie verfolgen mich! Ihre ganzen verschissenen Probleme
werden zu meinen eigenen! Ich kann einfach nicht mehr… Ich bin fertig.“
„Du nimmst die Sache viel zu
ernst. Du warst doch früher nicht so! Was ist nur los mit dir, Michael?“
„Ich weiß es nicht, Julia… Ich
weiß nicht mehr, wer ich bin…“
„Schlaf dich erstmal aus, wir
reden morgen drüber, okay?“
„Was soll`s, reden wir morgen,
wie auch immer…“
„Schlaf gut, Mick.“
„Du auch…“
Er wirft das Telefon auf die
Rückbank und lehnt sich müde in den Sitz zurück.
Wir reden morgen…, denkt
er schläfrig. Wir reden morgen...