Twitter

Freitag, 26. Juli 2013

Der alte Mann und das Geld

"Hette Si felaisch Intaresse an Obdalosezaitschrif ode klaines Spende...?", leiert Fazil seinen allmorgendlichen Sermon in das kaum besetzte Abteil der Straßenbahn, sein Blick ist glasig, farblos, wenn man von dem kranken gelbbraunen Schleimfilm absieht, der sich über seine Netzhäute zieht. Was diese, nennen wir sie mal "Augen" nicht alles schon gesehen haben. Doch wirklich durchgedrungen ins neurale Zentrum von Fazils Bewusstsein, nennen wir es mal "Hirn", ist davon nur wenig. Zu lange schwimmt es schon im lauwarmen Alkoholbad, das Fazil Tag für Tag mit neuer Zufuhr versorgt. Aufhören kann er schon lang nicht mehr. Zu schwer lasten die Sorgen auf seinen Schultern, zu tief sitzt die Sucht in seinen knochigen, alten Gliedern.
"Hey, Araberarsch!" schallt es plötzlich durch den Waggon, eine kratzige Eisenstimme, laut und klar. Fazil schaut sich um und erblickt einen kahlköpfigen alten Mann am hinteren Ende des Abteils, der breitbeinig in der Mitte einer Dreiersitzbank hockt und mit funkelndem Blick zu ihm herüber starrt.
"Ja, ich mein dich, du dreckiger Lumpen! Komm her, ich will eine von deinen verfickten Zeitungen!"
Fazil setzt sich in Bewegung. Es dauert eine Weile, bis er den Mann erreicht hat, denn seine Beine sind nicht mehr die gleichen wie früher. Der Versuch eines Lächelns, während er in seinem Beutel nach einem Exemplar der Obdachlosenzeitschrift "Die Welt von Unten" sucht. Fazil weiß natürlich nicht, dass das, nennen wir es mal "Magazin" von ebenso versoffenen und abgelutschten Fuckern geschrieben wurde, wie er selbst einer ist, und dass die Leute, wenn sie es denn mal "haben" wollen, es eigentlich nur aus "Mitleid" kaufen und es dann ungelesen in die nächstbeste Mülltonne entgleiten lassen, andererseits: wenn er es wüsste, wäre es ihm ohnehin vollkommen Latte.
"Was kostet der Scheiß?", will der Alte wissen. „Was habt ihr für Tarife in Dschihadhausen?“ Fazil murmelt etwas, dass er selbst kaum versteht.
"WAS?!??!", schreit der Mann, dass die vier Leutchen zusammenzucken, die in der Bahn verteilt herumlümmeln und so tun, als existierten sie nicht. "Ich versteh kein Wort von dem Gefasel, was ist los mit dir, hast du `nen fetten Negerschwanz im Mund oder was? Meine Güte, wie siehst du überhaupt aus, hä? Wie ein Stück Araberscheiße! Ja, genau! Braun und dumm, wie ein Stück Araberscheiße! Komm her, du Fetzen, hier, schau aus dem verfickten Fenster!“
Der Alte nickt mit dem Kopf Richtung Fenster, hinter dessen zerkratztem Glas die graue Stadt in Schlieren an ihnen vorbeirauscht. Fazil gehorcht und schaut nach draußen. Seine kranken Augen versuchen sich auf einen Punkt zu konzentrieren, doch die Bahn fährt so schnell, dass es ihm nicht gelingt, eine Stelle zu fixieren. Seine milchigen Pupillen weiten und schließen sich in kurzen Abständen.
„Schau sie dir an, schau dir alles gut an!“, raunt der Alte und lächelt zwielichtig, während er Fazil beobachtet. „Komm setz dich. Setz dich hierhin!“
Fazil schüttelt den Kopf. „Nix, nur wenndu bezale.“
Der Alte zieht einen Hunderter aus seiner Westentasche und wedelt mit dem Papier vor Fazils schuppigem Gesicht umher. Fazils Blick entflammt zu ungeahntem Leben, als er dies Kleinod des Glücks so nah vor sich erblickt. Unbändige Gier lodert in ihm und er gehorcht dem grauen Fremden mit dem Vorsatz, alles zu tun was nötig ist, um an den Schein zu kommen. Alles, bis auf das Eine.
„Dacht ich mir doch, dass dich das geil macht, Araberarsch.“, lacht der Alte. „Wenn`s um Geld geht, sind wir alle gleich. Alle sind wir käuflich…“
Fazil starrt den Schein an, wie ein zurückgebliebener Sonderschüler.
„Alle sind wir Nutten.“ Der Alte steckt den Schein wieder zurück in seine Westentasche. „Jetzt guck nicht so wehleidig, du verdammte Schwuchtel! Wenn du schön brav bist, geb` ich ihn dir, aber nur wenn du tust, was ich sage!“
Fazil nickt wie ein zurückgebliebener Sonderschüler.
„Setz dich.“
Fazil nickt wie ein zurückgebliebener Sonderschüler und setzt sich auf den Platz gegenüber seinem Meister.
„Brav.“, lacht der Alte. „Braves Stück Araberscheiße. So ist`s recht.“
Die beiden sitzen sich eine Weile schweigend gegenüber, der Alte starrt durchs Fenster, Fazil auf die Westentasche, in der der Hunderter schlummert.
„Ficken.“, bricht der Alte schließlich das Schweigen. „Alle wollen es, aber viele kriegen es nicht.“
Fazil starrt auf die Westentasche, in der der Hunderter schlummert.
„Wer fickt, ist glücklich, wer nicht fickt, ist es nicht. Es gibt kein anderes Glück. Es gibt nur Ficken. Es gibt nur Triebe. Es gibt nur Ficker, Gefickte und ungefickte Nicht-Ficker, die um jeden Preis ficken wollen. Die Ungefickten tun alles, um zu den Fickern zu gehören, die Ficker tun alles, um zu beweisen, dass sie zu den Fickern gehören, damit niemand denkt, dass sie zu den Nicht-Fickern gehören und die Gefickten lassen sich von den Fickern ficken, um nicht von den Ungefickten gefickt zu werden, die keiner will, weil sie unzufrieden, depressiv und neurotisch sind.“
Fazil starrt auf die Westentasche, in der der Hunderter schlummert.
„Die Ficker geben sich, wenn sie genug gefickt haben, den ganzen unnötigen Nebensächlichkeiten hin, um zu zeigen, dass sie entspannt und ausgeglichen sind, weil sie ficken. Die Nicht-Ficker widmen sich meist aus Frustration und Einsamkeit irgendeiner schwachsinnigen Aufgabe, um sich abzulenken, oder um anderen potentiellen Fickpartnern zu zeigen, dass sie gute Ficker abgeben würden. Sie merken dabei nicht, dass sie genau durch diesen absurden Enthusiasmus allen anderen Fickern und Gefickten signalisieren, dass sie Nicht-Ficker sind und damit schießen sie sich selbst ins Abseits.“
Fazil hustet, wischt sich einen Speichelfaden aus dem Mundwinkel und starrt auf die Westentasche, in der der Hunderter schlummert.
„Die Ficker hingegen wirken sympathisch und ausgeglichen, weil sie ficken und bekommen dadurch noch mehr zu Ficken und haben auch sonst mehr Erfolg, weil sie durch ihre entspannte Fick-Aura den Eindruck vermitteln, dass das Leben ein Klacks ist und weil andere Ficker, die weniger ficken als besagte Erfolgsficker sich von eben jenen Erfolgsfickern ebenfalls Erfolg für sich selbst versprechen.“
Fazil furzt, aber der Furz ist so leise, dass man ihn unter dem Rauschen und Dröhnen der Bahn, nicht hört. Er starrt noch immer auf die Westentasche, in der der Hunderter schlummert.
„Die Nicht-Ficker hingegen fühlen sich vom Erfolg der Erfolgs-Ficker unter Druck gesetzt und reagieren meist sehr negativ auf die Präsenz jener Erfolgsficker und Ficker im Allgemeinen. Viele flüchten in selbstauferlegte Isolation und jammern vor sich hin, verurteilen die böse, böse Welt weil sie das Potential, das in ihnen schlummert nicht erkennt. Andere versuchen aggressiv, den Erfolg der Erfolgsficker zu schmälern oder gar ganz auszumerzen oder sich selbst mit Gewalt über die Erfolgsficker zu stellen. Sie heischen um Aufmerksamkeit, schreien rum, bekommen Gefühlsausbrüche in der Öffentlichkeit, schmeißen mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen um sich oder üben physische Gewalt an ihren Mitmenschen aus, egal ob Ficker oder Nicht-Ficker.“
Fazil wird langsam ungeduldig. Es steigen Menschen ein, die er gern um eine „klaines Spende“, wie er sagen würde, anschnorren würde, aber der Hunderter in der Westentasche des Alten hält ihn bei seinen Eiern. Allein die Vorstellung, er könne sich auch nur ein paar Millimeter von ihm entfernen, verursacht Angst und Übelkeit in seiner versoffenen Seele. Deshalb beherrscht er sich und starrt weiterhin auf die Westentasche, in der der Hunderter schlummert.
„Das ist im Grunde der Kern unserer Gesellschaft, unserer Kultur.“, fährt der Alte fort. „Alles was die Menschen tun, was sie bisher getan und in Zukunft tun werden, geschieht aus der Motivation heraus, ein Ficker sein zu wollen. Kunst, Politik, Wirtschaft, Sport und vor allem Krieg sind Produkte dieser einen Triebkraft des Menschen. Viele sagen, die Ursache aller menschlichen Handlungen sei Angst. Aber das ist Nonsens. Ich sage, die Ursache aller vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Handlungen ist die pure Geilheit und Geltungssucht gegenüber unseresgleichen, die uns Menschen ausmacht. Deshalb gibt es für mich persönlich auch nur noch eine Sache, in die ich all meine Energie und Motivation hinein kanalisiere.“
Fazil horcht auf, sein Herz beginnt hefig zu schlagen, denn der Alte steht plötzlich auf und greift in seine Westentasche.
„Die Menschen zu ficken…“, schließt der Alte seinen Vortrag und blickt lächelnd auf Fazil hinab.
„Und zwar alle.“
Er holt den Hunderter hervor und Fazil beginnt erneut zu sabbern. Der Alte wirft ihm den Schein zu Füßen und wendet sich von ihm ab. Die Türen der Bahn öffnen sich und der Alte tritt, ohne noch ein Wort zu sagen, in das graue Zwielicht der Außenwelt.
Fazil hebt den Schein auf, gierig wie ein Aasgeier. Er lacht, er singt, er jubelt. Dann stürmt auch er aus der Bahn, seine Beine sind plötzlich wieder jung, sein Herz lacht wie damals, als er noch ein kleiner Junge war. Seine Leber macht sich fit für einen langen, harten Arbeitstag, denn Fazils erstes Ziel ist der 24-Stunden-Kiosk gegenüber der Haltestelle. Heute gönnt er sich zur Feier des Tages schon vor 14 Uhr seinen hochprozentigen Glücksschub.
„Heute gute Tag!“, lacht er dem Verkäufer entgegen. „Leben gud! Sehre gut, Allah iste groos!“
Er sucht sich ein ruhiges Plätzchen, neben McDonalds und einem REWE-Supermarkt, öffnet die Flasche mit dem klaren, farblosen Alkohol und genießt das reine Glück, dass wenige Sekunden später brennend wie der Styx durch seinen Körper fließt, die Barrikaden seines Herzens stürmend. Seine Seele leuchtet. Zufrieden lehnt er sich zurück und beobachtet die Menschen, die eilig durch die Straße hetzen. Dann schläft er ein und träumt von seiner Tochter, seiner Tochter im Himmel, die in einem Bett aus Sternen schlummert. Sie hat einen Hunderter im Mund.

- Diese Kurzgeschichte ist Matias Faldbakken gewidmet -

Montag, 1. Juli 2013

Nachtwache


Der Mann, 34 Jahre alt, groß, kurze Haare, sympathisch, modisch gekleidet und frisch geduscht, sitzt einsam vor dem Mikrophon. Es ist kurz vor Eins in der Nacht, im Gebäude befinden sich außer ihm nur Julia, die Anruferbetreuerin und Manni, der Produzent, beide weit entfernt vom Studio im Hauptbereich der Radiozentrale.
Der Mann wartet auf den Beginn seiner Sendung. In exakt 72 Sekunden wird er die Titelmusik einspielen und sich für den ersten Anrufer bereit machen. Er heißt Patrick, ist 22 Jahre alt und hat ein Problem mit seiner Freundin.
Der Mann zählt die Sekunden. Das leise, bekannte Kribbeln steigt in ihm empor; trotz all der Sendungen ist er noch immer aufgeregt.
Endlich, die Uhr zeigt Punkt eins, er spielt die Titelmusik ein und öffnet den Mikrokanal.
Auf Sendung.

„So, meine Lieben. Herzlichen Willkommen bei Mick Night, dem Telefontalk auf RSB-West. Schön das ihr da seid. Wir haben heute eine offene Sendung, das heißt, ihr könnt mich zu jedem Thema anrufen und mit mir quatschen. Die Nummer lautet 0180-5784714 und ist gebührenfrei. Ruft einfach an, ich freu mich auf euch.“
Kurze Pause, Blick auf die Anzeigetafel.
„Unser erster Anrufer heute Nacht ist Patrick, 22 Jahre. Hallo Patrick.“
Patrick freischalten.
„Hi, Mick. Wie geht`s?“
Jung, wach, aufgeregt.
„Mir geht`s gut, danke der Nachfrage. Dein Thema, Patrick?“
„Puh, tja, wo soll ich anfangen…“
„Am besten ganz von vorn.“
Lachen.
„Oh, gut, okay. Also, ich hab ein Problem mit meiner Freundin.“
„Wie lange seid ihr zusammen?“
„Knapp ein Jahr. Wir haben uns letztes Jahr auf `ner Halloweenparty kennen gelernt.“
Stift nehmen, notieren: Ein Jahr, Halloween
„Dann erzähl mal, worum geht’s genau?“
„Tja, wie soll ich`s dir erklären… Sie ist die absolute Traumfrau, Mick! Wunderschön, selbstbewusst, hat Köpfchen und Charme und das alles… Aber, na ja…“
„Sie ist `ne Flaute im Bett?“
Lachen.
„Nee, im Bett ist sie auch super. Na ja, bisher war`s jedenfalls immer super. Aber… Es fing eigentlich alles letzten Mittwoch auf der Hochzeit von ihrer Schwester an. Da kam sie plötzlich mit dieser abgefahrenen Idee…“
Aufschreiben: Sex
„Abgefahrene Idee?“
„Ja. Wir saßen draußen, ziemlich abseits vom Getümmel, da griff sie mir plötzlich in die Hose und sagte lauter so komische Sachen. Mir war das total unangenehm, ich mein`, ihre ganze Familie war ja da und alle hätten uns sehen können.“
„Was hat sie denn genau gesagt?“
„Lauter so Sachen halt, das sie mich will und das ich`s ihr mit der Zunge machen soll und ob wir nicht mal eben auf die Toilette… na ja, und so weiter.“
„Na, die geht ja ganz schön ran!“
„Ja. Ich mein`, versteh mich nicht falsch, Mick, normalerweise bin ich was Sex betrifft sehr offen und spontan, aber… ich hab mich einfach total überrumpelt gefühlt und… wie gesagt, ihre Familie…“
„Ja, ich verstehe. Ihr seid dann, nehme ich an, nicht zusammen auf die Toilette gegangen.“
Kurzes Zögern.
„Ähm, na ja…“
„Sie hat dich rumgekriegt?“
„Ja, ich wollte einfach nicht, dass irgendjemand sieht, wie sie da mit ihrer Hand in meiner Hose rumfummelt. Wir sind dann halt ins Frauenklo und haben uns in `ner Kabine eingeschlossen und sie hat sich direkt auf die Toilette gesetzt und ihr Kleid hochgezogen und… Tja, ich hatte mir zwar gedacht, dass sie was Heißes drunter gezogen hat, aber… dass sie so ganz ohne Unterwäsche… Ich mein, schließlich war das `ne Hochzeit!“
„Sie hat das also geplant?“
„Ja, sah auf jeden Fall ganz so aus. Gut, ich dachte mir halt, ich bring`s so schnell wie möglich hinter mich, wird schon keiner merken und… na ja… ein bisschen erregt war ich auch, ich meine, sie sieht wirklich umwerfend aus und so ganz nackt…“
„Ja, okay, Patrick, ich verstehe schon.“
Unsicheres Lachen.
„Okay, entschuldige. Na ja, jedenfalls hab ich dann angefangen sie oral zu befriedigen und es war Anfangs auch sehr schön, sie wurde richtig wild und stöhnte und ich dachte mir, Mann, wenn jetzt irgendeiner reinkommt, dann geh ich hier nie wieder raus! Tja, du kannst dir ja denken, was dann passiert ist.“
„Es kam jemand rein, halleluja.“
„Ganz genau. Ich weiß nicht genau, wer es war, jedenfalls klang es nach ihrer dicken Tante Syl… nach ihrer Tante halt. Sie ist genau neben uns in die Kabine rein und hat sich schnaufend hingesetzt.“
„Puh, sie hat also nicht gemerkt, dass ihr kurz davor noch mitten in Action wart?“
„Nee, anscheinend nicht. Mann, ich dachte, Shit, das war`s jetzt wohl und war sogar ein bisschen froh drüber, aber als ich meine Freundin angeguckt hab, wie sie da saß und lächelte und die Augen schloss und meinen Kopf wieder zwischen ihre Beine…“
„Oh, Mann. Und die Tante verrichtete ihr Geschäft genau nebenan?“
„Ja! Es war widerlich! Ich machte trotzdem weiter und meine Freundin kam dann auch sehr schnell. Sie hat sich zwar relativ gut unter Kontrolle gehabt und nicht mehr gestöhnt, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ihre Tante oder wer auch immer da nebenan war, nichts mitbekommen hat.“
„Unglaublich.“
„Ja.“
„Wie ist es dann weiter gegangen?“
„Wir sind beide nacheinander raus und haben so getan, als wenn nichts wäre. Ich hab mich die ganze Zeit so beobachtet gefühlt und war total angespannt. Meiner Freundin ging`s blendend. Sie wollte sogar gleich noch mal, als wir abends nach Hause kamen.“
„Deine Freundin scheint sexuell sehr aktiv zu sein.“
„Ja, das hat mich auch überrascht. Sonst war es eigentlich immer umgekehrt, dass ich die Initiative ergriffen habe und sie eher passiv war. Ich weiß auch nicht, warum sie plötzlich so scharf darauf ist.“
„Hat sie eine besondere Vorliebe für Oralverkehr?“
„Es hat ihr schon immer sehr gefallen, wenn ich`s ihr mit der Zunge mache, aber sie hat nie darauf bestanden, dass ich es tue. Ich hab`s meistens freiwillig gemacht, weil ich selber Bock drauf hatte.“
Notiz: Oralverkehr
„Du hast vorhin erzählt, dass es mehrere dieser Vorfälle gegeben hat. Was ist denn noch passiert?“
„Tja, also… kurz nach der Hochzeit, ich glaub, am Freitag war das, wir waren allein bei ihr, ihre Eltern waren bei Bekannten und ihre kleine Schwester schlief bei einer Freundin und… jedenfalls, wir saßen gemütlich vorm Fernseher und haben uns `nen Film angeschaut, da steht sie plötzlich auf und holt eine DVD aus dem Regal.“
„Ein Porno?“
„Ja, und was für einer. Sie fragte mich, ob es okay ist, wenn wir diesen Film zusammen gucken und zwinkerte mir dabei ganz komisch zu, sie kam mir vor wie ausgewechselt. Ich stimmte zu, auch wenn ich die ganze Sache ziemlich merkwürdig fand.“
Notiz: Pornofetisch
„Worum ging`s in dem Film?“
„Tja, jetzt kommt`s, Mick. Also, dass in `nem Porno hauptsächlich gepoppt wird, war mir ja klar, damit hab ich gerechnet. War auch nichts Besonderes dabei, also keine richtig abartigen Sachen, oder so. Aber eine Szene hat mir echt auf den Magen geschlagen.“
„Was war denn das für eine Szene, beschreib mal.“
„Also, da war dieser Typ, älterer Kerl, Mitte 40, auf `ner Familienfeier.“
„Ich ahne es…“
„Tja, wart` ab, es kommt dicker, als du vermutest. Der Typ sitzt ziemlich abseits und schaut sich das Familiengeplänkel an. Plötzlich setzt sich eine der Hauptdarstellerinnen zu ihm und macht ihn an, auf die billigste Art und Weise versteht sich. Jedenfalls landen sie, genau wie meine Freundin und ich auf der Damentoilette, er befriedigt sie oral und jemand kommt rein, in die Kabine nebenan. Es ist die Schwester von dem Kerl. Die beiden machen natürlich weiter. Irgendwann nach fünf Minuten oder so, machen sie eine Pause und sie holt ein rotes Tuch aus ihrer Handtasche und bittet ihn, ihm die Augen zu binden zu dürfen. Er nickt, sie tauschen die Plätze, er bekommt die Augen verbunden.“
„Okay. Bis hierhin kann ich folgen.“
„Einfach nur abartig… Sie bittet ihn, sich unten rum frei zumachen und öffnet lautlos die Tür. Die andere Darstellerin, wohlgemerkt die Schwester des Mannes betritt die Kabine und fängt an, ihm einen…“
„Okay, ich verstehe.“
Notiz: Hang zum Inzest
„Ist das nicht abgefuckter Scheiß, Mick?“
„Patrick, das alles klingt ziemlich verstörend.“
„Was hältst du davon?“
„Nun… ganz ehrlich: Deine Freundin ist krank. Du solltest dringend mit ihr reden und sie davon überzeugen, dass sie ärztliche Hilfe benötigt.“
Schweigen.
„Patrick?“
„Scheiße, so krass?“
„Ja. Wenn du möchtest, rufen wir, das heißt unsere Betreuerin Julia, dich nach der Sendung noch mal zurück und geben dir ein Paar Adressen von Psychologen und Selbsthilfegruppen…“
„Wow, das schockt mich jetzt schon ein bisschen.“
„Patrick, deine Freundin steht auf Sex mit Verwandten, beziehungsweise in ihrer Anwesenheit. Das ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.“
Schweigen.
„Rede mit ihr, mach ihr klar, dass es krank ist, so zu empfinden und dass sie Hilfe braucht.“
„Sie nennt mich immer Big Daddy, wenn wir…“
„Julia meldet sich nach der Sendung noch mal bei dir, okay?“
„Ist gut.“
„Alles Gute, Patrick.“
„Danke. Deine Sendung ist echt super!“
„Danke, Patrick.“
„Hau rein, Mick!“
„Ja, hau rein.“
Anruf beendet. Nächster Anruf: Christine, 29 Jahre
„Die nächste Anruferin ist Christine und sie ist 29 Jahre alt.“
Christine freischalten.
„Hi, Christine.“
„Hi, Mick.“
Dunkle Stimme, selbstbewusst, natürlich
„Worum geht’s bei dir, Christine?“
„Ich rufe an, weil mein Freund sich vor vier Stunden umgebracht hat und ich nicht weiß, was mein Leben jetzt noch für einen Sinn hat.“
Schweigen.
„Ich... weiß nicht mehr weiter…“
„Dein Freund hat sich umgebracht. Vor vier Stunden erst, sagst du?“
„Ja.“
Notieren: Suizid Freund
Leises Schluchzen.
Schweigen.
„Darf ich dich fragen, wie er… sich umgebracht hat?“
„Erhängt. Auf dem Speicher.“
„Schrecklich… wirklich, ich bin total baff.“
Schluchzen.
Notiz: Speicher
„Wie lang wart ihr zusammen?“
„Achteinhalb Jahre…“
Stimme bricht, ist schwer zu verstehen.
Schweigen.
„Hast du ihn gefunden?“
„Ja… Ich kam gerade von der Arbeit.“
„Hast du direkt gemerkt, dass etwas nicht stimmt?“
„Nein. Ich… Ich hab mich nur gewundert, wo er steckt. Aber es kam schon öfter vor, dass er abends nicht daheim war… Mit seinen Jungs unterwegs, oder im Casino…“
„Hm, verstehe.“
„Ich wollte die Wäsche abhängen und hab ihn erstmal gar nicht bemerkt… er bewegte sich kaum, hing im Dunkeln.“
„Hm…“
„Seine Augen waren offen, ich hatte das Gefühl, dass er mich ansieht…“
„Schrecklich…“
„Ich bin gerade erst von der Polizei zurück, ich fühl mich so unwirklich.“
„Das ist absolut verständlich, Christine. Du hattest ja kaum Zeit, um die Situation zu begreifen. Ich fühle wirklich mit dir. Das muss eine unbeschreibliche Trauer sein, die du gerade empfindest.“
„Ich… Ich fühle mich so wertlos. In den letzten Jahren ist unsere Beziehung schwächer geworden. Die Arbeit, der Stress, zu wenig Zeit für einander. Wir lebten uns immer mehr auseinander. Jetzt, wo er nicht mehr da ist, begreife ich erst, dass ich ohne ihn nichts mehr bedeute…“
„So darfst du nicht denken, Christine. Es ist verständlich, dass du dich allein und unsagbar verletzt fühlst, aber du musst jetzt positiv denken, nach vorne schauen.“
„Es ist alles sinnlos.“
„Lass dir Zeit, gib dir die Zeit. Du bist noch völlig im Schock gefangen. Lass das Ganze erstmal sacken.“
Schweigen.
„Ich möchte gerne, dass du nach unserer Sendung noch mal mit Julia, unserer psychologischen Betreuerin sprichst. Es ist jetzt ganz wichtig, dass du Unterstützung hast. Gibt es irgendjemand, zu dem du gehen kannst? Familie, Freunde?“
Schweigen.
„Nein…“
„Umso wichtiger ist es, dass du dir dann jemanden suchst, der dir helfen kann, die Trauer zu überwinden. Wir können dir einige Adressen von Selbsthilfegruppen und…“
„Nein. Ich möchte nicht. Danke, Mick.“
„Ich finde aber…“
„Ich möchte nichts mehr. Ich möchte nur noch allein sein.“
„Du solltest…“
„Danke Mick, deine Sendung ist wirklich spitze.“
„Christine, bitte…“
Anruf beendet.
„Jetzt ist sie weg… Shit…“
Kanal öffnen: Regie
„Können wir sie noch mal zurückrufen?
Stimme über Kopfhörer:
„Sie hat ihre Nummer verborgen. Wir versuchen sie wiederzuholen, aber es sieht nicht gut aus, Michael. Mach erstmal weiter, wenn sich was tut, geben wir dir Bescheid.“
Nächster Anruf: Josef, 54 Jahre
„Gut, dann machen wir weiter mit dem nächsten Anrufer, Josef, 54 Jahre. Hallo Josef.“
Josef freischalten.
„Hallo, Mick! Toll, dass ich durchgekommen bin! Hab`s schon so oft versucht!“
Vital, aufgeregt, aktiv.
„Josef, du klingst erstaunlich fit für diese Uhrzeit.“
„Ich bin immer fit, hehe! Das liegt an den vielen Tabletten, die ich jeden Tag schlucke, haha! Hör mal, die Anruferin von gerade tut mir schrecklich Leid! Das muss ja ungeheuer schmerzhaft sein, den Lebensgefährten auf so traurige Art und Weise zu verlieren. Die Ärmste…“
„Ja, ist mir auch ziemlich an die Nieren gegangen. Vor allem, dass sie so einfach aufgelegt hat. Wenn du noch zuhörst, Christine, meld dich doch noch einmal bei uns, wir würden dir wirklich gern helfen.“
„Ihr seid echt ein super Team, Mick. Ich höre eure Sendung schon seit dem ersten Mal.“
„Wow. Dann bist du ja schon richtig lange dabei.“
„Ja, tatsächlich! Könnte ich vielleicht `ne Autogrammkarte bekommen?“
„Klar, schicken wir dir zu. Bleib noch dran nach unserem Gespräch, damit wir deine Adressdaten speichern können.“
„Mach ich.“
„So, zu deinem Thema. Worum geht`s bei dir, Josef?“
„Ah, richtig, ja. Also, ich ruf an, um mit dir über das Thema Drogen zu sprechen.“
„Drogen?“
„Richtig.“
Notiz: Drogen
„Gut, dann lass uns über Drogen sprechen, Josef. In welcher Beziehung stehst du denn zu dem Thema.“
„Also, ich würde mich als eine Art Künstler des Rauschs beschreiben. Ich entwickle neue Drogen, Substanzen, die das Bewusstsein erweitern und zu Glücksgefühlen und gesteigerter Wahrnehmung führen.“
„Ach, das klingt ja aufregend. Erzähl mal.“
„Also, ich fang am besten ganz vorne an. In den 70ern hab ich `ne ziemlich lange Zeit als Chemiker bei Zodiac Industries in den Staaten gearbeitet. Ich war damals ziemlich involviert in der örtlichen Drogenszene, hatte also schon sämtlichen Stuff auf dem Markt durch. Durch meine Arbeit hatte ich ziemlich leichten Zugang zu verschiedenen Materialien, Chemikalien und Substanzen, da kam mir eines Tages die Idee!“
„Du hast ein bisschen rumexperimentiert.“
„Ein bisschen wäre untertrieben. Ich hab `ne ganze Menge Shit zusammengebraut!“
Notieren: Chemiker, Drogen
„Wenn man dich so reden hört, könnte man meinen, du seist Dreißig Jahre jünger.“
„Ich fühl mich auch so!“
„Bist du gerade drauf, hast du was genommen?“
„Ich bin eigentlich seit den letzten fünfzehn Jahren dauerstoned. Ich fühl mich einfach nur gut dabei.“
„Was machst du denn heute so beruflich? Bist du immer noch als Chemiker tätig?“
„Ach was, Mick, wo denkst du hin. Der Job hat mich total runtergezogen. Ich war richtig froh, als die ganze Scheiße damals raus gekommen ist und ich gefeuert wurde. Nee, ich leb von Sozialhilfe und verdien` mir nebenbei was mit dem Verkauf.“
„Verkauf? Sag bloß, du verkaufst dein Zeug?“
„Ja, aber nur an ausgewählte Leute aus meinem Bekanntenkreis. Keine Kids auf der Straße.“
Notiz: Dealer
„Verdienst du gut daran?“
„Ich komm über die Runden. Von der Stütze allein kann doch kein Mensch leben.“
Stimme über Kopfhörer:
„Wir versuchen, ihn zu fangen, Michael. Ist verschlüsselt… versuch ihn noch was zu halten.“
„Bist du zufrieden mit deinem Leben, Josef?“
„Zurzeit läuft`s ganz gut. Mein Leben ist halt sehr entspannt, genau das, was ich brauche.“
„Wie wirkt denn deine selbst gebastelte Droge? Ich nehme mal an, dass sie, wie jede andere Droge auch, gesundheitsschädigend ist, oder?“
„Die Wirkung ist ähnlich wie bei Heroin. Gefühle werden intensiviert, man fühlt sich ausgeglichen, beruhigt. Es befreit von Angst, Unsicherheit und Müdigkeit. Ich benötige nur zwei Stunden Schlaf pro Nacht und bin jederzeit vollkommen fit! Ein Leben ohne Droge, mit mindestens acht Stunden Schlaf und einem Tag voller Erschöpfung kann ich mir schon gar nicht mehr vorstellen.“
„Hm, das klingt ja alles ganz toll, aber noch mal zu meiner Frage nach der Schädlichkeit…“
„Gut, hin- und wieder kommt es halt schon mal zu Austickern. Gedächtnisverlust, Paranoia, der übliche Kram halt, aber ansonsten ist das Zeug relativ ungefährlich.“
„Paranoia?“
„Ja, du siehst halt Dinge, die nicht da sind, kriegst Angstzustände und Verfolgungswahn. Aber das passiert wirklich nur sehr selten, so zweimal die Woche vielleicht, wenn`s hoch kommt.“
„Das würde mir schon reichen, Josef, ganz ehrlich. Du solltest dringend auf deine Gesundheit achten.“
„Ach was, mir geht’s blendend, ich nehm` das Zeug jetzt schon so lange, ich komm einfach gut drauf klar!“
„Trotzdem solltest du dich mal richtig von einem Arzt durchchecken lassen.“
„Drehst du ab, Mick? Was meinst du, was der sagen würde, wenn der die ganze Kacke in meinem Körper findet? Ich würde in der Klapse landen!“
„Besser in der Klapse, als unter der Erde, Josef. Ist nur ein kleiner Tip von mir.“
„Yeah, danke für den Tip, aber ich geh erst zum Arzt, wenn ich mir sicher bin, dass er nichts mehr für mich tun kann. Bis dahin genieß ich das Leben in vollen Zügen!“
Stimme über Kopfhörer:
„Wir haben ihn, Michael. Beende das Gespräch, sollen sich die Bullen drum kümmern.“
„Wirklich eine verrückte Geschichte, Josef. Pass trotzdem auf dich auf, okay?“
„Ja, Mann, mach dir keine Sorgen!“
„War nett, mit dir zu plaudern.“
„Danke. Mit dir auch, Mick. Hat Spaß gemacht!“
„Mach`s gut, Josef!“
„Jo, mach`s besser!“
Anruf beendet. Nächster Anruf: Tim, 16 Jahre
„Verrückte Stories kriegen wir heute zu hören. Der nächste Anrufer ist Tim, 16 Jahre. Hallo Tim!“
Tim freischalten.
„Hallo, Mick!“
Aufgekratzt, überdreht, unterdrücktes Gelächter im Hintergrund.
„Worum geht`s bei dir, Tim?“
Kichern. Räuspern.
„Also…“
Lachen im Hintergrund.
„Es geht darum, dass ich deine Mutter gefickt hab!“
Lautes Gelächter, jemand brüllt im Hintergund.
Anruf beendet.
„Da ist mal wieder ein Komiker durchgekommen, sehr witzig. Meine Mutter ist schon seit vier Jahren tot, mein Lieber. Was sich hier heute wieder für Abgründe auftun…“
Nächster Anrufer: Bernd, 33 Jahre
„Ich begrüße Bernd, 33 Jahre. Hallo Bernd.“
Bernd freischalten.
„Hallo Mick.“
Ruhig, tief.
„Bernd, worum geht’s bei dir?“
„Ich stehe auf Gang-Bang.“
Notiz: Sex
„Also auf Gruppensex?“
„Genau.“
„Bist du hetero?“
„Bi.“
Notiz: Bi
„Hast du spezielle Kontakte oder besuchst du Swinger-Clubs oder andere auf Gruppensex ausgerichtete Einrichtungen?“
„Mal so, mal so. Meistens finde ich die Leute im Internet, manchmal auch in Discos oder Nachtclubs.“
„Wie oft hattest du schon Sex mit mehreren Menschen gleichzeitig?“
„Sehr oft. Zurzeit drei Mal die Woche, mindestens.“
„Immer mit den selben Leuten, oder…“
„Wechselnde Partner. Dienstags und donnerstags in einer Zwölfergruppe und am Wochenende mit einer 3x3 Connection, also drei Frauen, drei Männer.“
„Wow, ein richtiger Terminplan!“
„Ja.“
„Mit Zwölf Leuten, sagst du?“
„Ja.“
„Das ist `ne Ganze Menge. Wo trefft ihr euch denn dann alle, in einer Privatwohnung oder im Hotel?“
„Privatwohnung. Da haben wir unsere Ruhe.“
„Wie läuft denn so ein Treffen bei euch ab, wird da vorher noch viel geredet oder geht’s gleich zur Sache, wenn alle da sind?“
„Geht gleich zur Sache. Wir warten nicht, bis alle da sind. Wir fangen einfach an und wer nachkommt, stößt einfach dazu.“
„Stößt einfach dazu, hehe… verstehe.“
„Ja.“
„Seit wann machst du das jetzt schon?“
„Seit meinem 14. Lebensjahr.“
„Seitdem du vierzehn bist?“
„Ja.“
„Wie kam es denn dazu? Hattest du dein erstes Mal bereits mit mehreren Partnern?“
„Ja. Wir waren zu Sechst. Wir hatten bei einem Kumpel übernachtet, zwei Freunde aus meiner Klasse und ich. Später kamen zwei Mädchen aus der Nachbarschaft vorbei und wir haben Alkohol getrunken. Dann haben wir Strippoker gespielt und irgendwann ging`s dann los.“
„Unglaublich, mit 14… Dieses Ereignis hat dich sicherlich geprägt. Hattest du auch schon mal ganz normalen Sex mit einem Partner?“
„Ja. Es war sehr langweilig.“
„Vielleicht war es nur der falsche Partner?“
„Nein. Mir fehlte dieses Miteinander, die Gemeinschaft. Ich mag es, wenn alle stöhnen.“
„Wie läuft denn die Suche nach Partnern im Netz? Ist es nicht schwer, geeignete Leute zu finden, die man selbst attraktiv, und die vor allem sich untereinander anziehend finden?“
„Nein. Bisher gab es da keine Probleme. Das Aussehen ist mir meistens auch egal. Es geht nur um Sex, egal mit wem, Hauptsache wir sind viele und haben Spaß an der Sache.“
„Das klingt sehr kurios und aufregend. Hast du zusätzlich zu den Treffen auch Kontakt zu den Personen?“
„Nein. Wir wollen alle anonym bleiben. Persönliches bleibt außen vor. Es geht nur um Sex.“
„Tragt ihr auch Masken oder ähnliche Verkleidungen, um eure Anonymität zu wahren?“
„Nein, nur im Swinger-Club, da ist das Pflicht.“
„Das kenne ich. Hast du nicht Angst, bei einem Treffen einmal einem Arbeitskollegen oder einem Familienmitglied zu begegnen?“
„Die Aufregung ist immer ziemlich groß vor einem Treffen. Sicher denke ich mir, was, wenn dein Chef gleich nackt vor dir steht aber wenn`s dann losgeht, ist es vollkommen egal, wer die Personen sind. Es geht nur um die Körper, den körperlichen Kontakt.“
„Lebst du in einer Beziehung, Bernd?“
„Nein.“
„Hattest du schon mal eine Beziehung oder warst mal so richtig verliebt?“
„Nein.“
„Hm. Noch nie, auch nicht in der Schulzeit?“
„Noch nie.“
„Das macht mich schon ein bisschen stutzig, ehrlich gesagt. Du hattest schon mit so vielen Menschen Sex, aber noch keine richtige Verbindung zu einem von ihnen.“
„Es geht nur um Sex.“
„Ich weiß, ich verstehe deine Beweggründe. Aber hast du nicht auch manchmal das Bedürfnis nach Liebe?“
„Nein.“
„Gut, ich merke schon, du bist zufrieden, so wie es ist. Du bist sehr zielstrebig, Bernd.“
„Ja.“
„Danke, dass du angerufen und von dir erzählt hast!“
„Danke, Mick. Kann ich ein Autogramm haben?“
„Gerne. Bleib dran, wir notieren uns deine Adresse.“
„Okay.“
„Machs gut, Bernd!“
„Du auch, Mick.“
Anruf beendet.
„So, meine Lieben, wir machen jetzt eine kleine Pause. In ein paar Minuten geht`s dann wieder weiter mit euren Themen. Ruft an unter 0180-5784714! Bis gleich!“
Musik einspielen. Pause.

Der Mann lehnt sich zurück, trinkt einen Schluck Wasser. Über den Kopfhörer meldet sich Manni, der Produzent in gewohnt kumpelhaftem Ton:
„Wieder `ne ziemliche Freakshow heute, hm?“
„Bitte, Manni, das sind keine Freaks.“
„Du hältst doch nur zu denen, weil du selber einer bist, Kollege.“
„Wer weiß…“
„Julia telefoniert gerade mit deinem nächsten.“
„Sieht sie glücklich aus?“
„Hm, schwer zu sagen. Hast du sie jemals glücklich gesehen?“
„Oft. Sehr oft. Glitzern ihre Augen?“
„An der glitzert gar nichts, mein Lieber. Wenn du mich fragst, hat da noch nie was geglitzert.“
„Was soll`s, wir haben`s sowieso gleich hinter uns.“
„Ich hoffe, es ruft noch ein verwirrter Sado oder noch einer von diesen Selbstmord-Typen an. Die sind immer so verflucht… oh, sie ist fertig.“
„Ich muss weiter arbeiten, Manni. Sag Julia, dass ich wieder auf Sendung gehe.“
„Yeah, gut, alles klar.“
Der Mann öffnet den Kanal. Die zweite Runde beginnt…

„So, meine Lieben, da sind wir wieder, frisch und ausgeruht! Mick Night wartet auf eure Anrufe, also meldet euch unter 0180-5784714.“
Nächster Anruf: Caro, 18 Jahre
„Bei uns ist jetzt Caro, 18 Jahre.“
Caro freischalten.
„Hallo Caro.“
„Hallo, Mick.“
Weiblich, ruhig, gelassen.
„Worum geht`s bei dir, Caro?“
„Bei mir geht`s darum, dass ich 7 Jahre lang von meinem Onkel vergewaltigt wurde.“
Pause.
„Was?“
„Ich wurde 7-Jahre lang…“
„Ich war nur geschockt. 7 Jahre sagst du?“
„Ja. Es fing an, als ich 11 Jahre alt war. Er war bei meinen Eltern zu Besuch und kam nachts in mein Zimmer um mich zu missbrauchen. Bis ich 13 war, hat er mich jedes Mal vergewaltigt, wenn er bei uns zu Hause übernachtet hat, so vier- bis fünfmal im Monat. Dann, später, als meine Eltern tot waren und ich zu ihm ziehen musste, passierte es öfter, beinahe jeden Tag.“
„Mein Gott…“
„Es wurde zu einer Art Gewohnheit für ihn… und mich. Ich wusste schon, als ich seinen Wagen die Einfahrt hochfahren hörte, dass es gleich wieder so weit sein würde. Er sagte immer, dass ich ihn verzaubert hätte, dass er mich liebte und ich ihn von der Finsternis befreien würde. Er hatte ziemlich viel Mist gebaut in seinem Leben, glaube ich.“
„Warum hast du dich nicht gewehrt? Hast du niemandem von dem Missbrauch erzählt?“
„Nein. Anfangs hatte er mir damit gedroht, meine Eltern zu ermorden, wenn ich ihn verraten würde, also blieb ich still. Doch bei einem der vielen Male entdeckte uns meine Mutter auf der Couch im Wohnzimmer. Sie drohte damit, ihn anzuzeigen und alles aufzuklären. Mein Onkel fackelte nicht lange und brachte erst sie und später auch meinen Vater um. Er bewahrte ihre Leichen Jahre lang im Gefrierfach auf. Niemand bemerkte etwas.“
„Unglaublich. Ist ihm die Polizei nie auf die Schliche gekommen?“
„Nein. Meine Eltern hatten nicht viele Freunde. Mein Onkel nahm mich mit zu sich nach Haus und sperrte mich in ein kleines Zimmer, dass er für mich im Keller hatte einrichten lassen. Die Polizei suchte sehr lang nach mir und einem vermutlichen Entführer, beziehungsweise nach dem Mörder meiner Eltern, doch nach und nach stellten sie die Fahndung zurück und die Sache geriet in Vergessenheit.“
„Unfassbar. Das ist kaum zu glauben.“
„Ich weiß.“
„Was geschah mit dir? Hat dich dein Onkel in seinem Keller gefangen gehalten, bist du niemals ans Tageslicht gekommen?“
„Anfangs ja, doch nach und nach entwickelte mein Onkel immer mehr Vertrauen zu mir und ließ mich schon mal rauf in die Wohnung.“
„Wie oft vergewaltigte er dich in der Zeit? Tat es weh, verletzte er dich sogar?“
„Manchmal tat es ein bisschen weh, aber er war meistens sehr zärtlich. An manchen Tagen gefiel es mir sogar ein bisschen. Ich stellte mir vor, er sei jemand anderes. Der Mann auf dem Titelblatt der Zeitung, ein bekannter Schauspieler, Musiker, ein Prinz. Er war immer sehr darauf bedacht, dass es mir gefiel, dass ich ihn lobte, nachdem er fertig war. Meist musste ich lügen, doch manchmal waren meine Worte ehrlich gemeint.“
„Mein Gott... du sprichst über all diese Dinge, als wären sie selbstverständlich für dich. Seit wann ist deine Gefangenschaft vorbei, Caro?“
„Seit gestern. Mein Onkel ist vor vier Tagen gestorben. Sie haben ihn gestern Morgen abgeholt. Dabei haben sie mich gefunden. Ich saß gerade im Wohnzimmer und hab Sponge-Bob geguckt. Waren ganz schön überrascht.“
Pause.
„Ich bin jetzt in einem Heim. Ich weiß nicht, was mit mir passiert. Ich hoffe, ich bekomme bald wieder eine neue Familie.“
„Unglaublich, wie ruhig du über all diese Sachen sprichst.“
„Hab mich halt dran gewöhnt. Jetzt bin ich ziemlich verwirrt. Als ich heute Nacht wieder deine Sendung hörte, musste ich dich unbedingt anrufen. Ich höre Mick Night schon seit der ersten Sendung, aber ich hatte ja kein Telefon, sonst hätte ich schon früher angerufen. Mein Onkel hat es immer gesperrt, ich konnte nie telefonieren. Aber wen hätte ich auch anrufen sollen, außer dir?“
„Schon okay, Caro.“
„Du bist wirklich ein netter Mann. Immer weißt du eine Lösung und hilfst den Leuten, wenn sie nicht mehr weiter wissen.“
„Danke, Caro.“
„Bitte, ich mein`s ehrlich.“
„Das weiß ich… Wie war das für dich, deine Eltern zu verlieren und zu dem Mann zu ziehen, der sie auf dem Gewissen hatte? Warst du nicht wütend?“
„Es war sehr komisch. Ich mochte meine Eltern nicht besonders. Wir haben oft gestritten. Mein Onkel war immer sehr lieb zu mir, brachte Geschenke mit und verbrachte viel Zeit mit mir. Wir redeten sehr oft und viel. Eigentlich war er ein guter Mensch. Anfangs war ich ihm natürlich sehr böse, weil er mich nicht vorher gefragt hatte, als er meine Eltern umbrachte, aber nach und nach gewöhnte ich mich an ihn, das Haus, mein Zimmer. Es war ein sehr schönes Zimmer.“
„Hast du nie versucht abzuhauen, Hilfe zu holen, dich zu befreien?“
„Nein. Oder doch, einmal. Wir hatten uns ein bisschen gezankt. Er wollte wieder mit mir schlafen, aber ich hatte meine Tage und wollte nicht. Er wollte trotzdem, sagte, es sei ihm egal. Er war angetrunken und roch sehr stark nach Alkohol. Ich hatte ihn noch nie betrunken erlebt und es erschreckte mich, wie rücksichtslos er sein konnte.“
„Entschuldige bitte, aber er hat deine Eltern ermordet. Das sollte eigentlich Beweis genug darstellen.“
„Das war etwas anderes. Ich wusste, dass er zu anderen sehr rücksichtslos sein konnte, aber nicht zu mir. Wie gesagt, er war sonst immer sehr vorsichtig.“
„Oh, Mann…“
Blick auf die Uhr.
„Jedenfalls… Er wollte, aber ich wehrte mich und trat nach ihm. Mein Bauch schmerzte und ich hatte den ganzen Tag Krämpfe gehabt. Ich wollte einfach nicht, dass er da in mir rumwühlt. Er war sehr sauer und schimpfte laut. Am nächsten Tag kletterte ich morgens aus dem Küchenfenster. Ich lief durch die Straßen, bis die Sonne hoch am Himmel stand. Als ich nach Hause kam, weinte mein Onkel. Er sah wirklich sehr traurig aus. Ich hab ihn dann in den Arm genommen und ihn getröstet. Er sagte, wenn ich noch einmal von ihm fortlaufe, würde er sich umbringen.“
„Wie ist dein Onkel letztendlich gestorben, Caro? Hat er sich umgebracht?“
„Nein. Die Ärzte sagen Herzversagen, dabei war er noch gar nicht so alt.“
„Hast du der Polizei erzählt, was dein Onkel dir und deinen Eltern angetan hat?“
„Ja. Sie waren geschockt und wütend.“
„Das verstehe ich. Ich bin sprachlos, wie teilnahmslos du das alles erzählst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du all die Jahre glücklich mit deinem Schicksal warst.“
„Ich war nicht die ganze Zeit glücklich. Ich war eigentlich nur sehr wenige Male glücklich in dieser Zeit, aber mir kam trotzdem nie der Gedanke, noch einmal von ihm fortzulaufen. Ich wollte später nicht daran Schuld sein, ihn umgebracht zu haben, verstehst du?“
„Ich versuche es. Du bist eine starke Frau, Caro.“
„Oh, Mist, da kommt jemand. Ich muss eigentlich im Bett liegen.“
„Caro, warte noch bitte!“
„Geht nicht, muss auflegen.“
„Hast du einen Arzt, ist dir ein Psychologe zugeteilt worden?“
Anruf beendet.
„Verdammt! Sie ist weg…“
Stimme über Kopfhörer:
„Wir können die Nummer nicht zurückverfolgen, Mick. Anonym. Mach einfach weiter. War vermutlich sowieso wieder nur ein Scherz, oder?“
Nächster Anruf: Christian, 29 Jahre
„Mann, Mann, Mann, heute Abend ist echt was los hier. Unfassbar… Diese Geschichte muss ich erstmal verdauen.“
Kurze Pause. Schluck aus der Wasserflasche.
„Puh, machen wir einfach weiter mit Christian, 26… nein, 29 Jahre. Hallo Christian.“
Christian freischalten.
„Hallo?“
Leise, unsicher, doppelt.
„Oh, Christian, kannst du bitte das Radio im Hintergrund abstellen? Wir hören dich doppelt.“
„Äh, klar. Sorry.“
„Kein Problem. Worum geht`s bei dir Christian?“
„Also, bei mir geht`s darum, dass ich Angst vor Menschen hab.“
Notiz: Angst
„Angst vor Menschen. Wie äußert sich diese Angst, Christian?“
„Also, wenn ich zum Beispiel etwas kaufen möchte in der Bäckerei oder so, dann werd ich ganz kribbelig und krieg Schweißausbrüche und kann nicht mehr richtig sprechen und mich versteht dann keiner mehr und dann werd ich noch nervöser und so.“
„Oh, je.“
„Und auf der Arbeit, wenn wir Gruppenrunde haben, dann krieg ich nie was raus, weil mich alle so anstarren und so. Und wenn einer neben mir steht auf der Toilette, dann kann ich nicht mehr, weil ich die ganze Zeit denke, dass der mir auf meinen Penis guckt.“
„Oh, je, Christian.“
„Und wenn ich…“
Musik einspielen.
„Oh, schade Christian, unsere Sendung ist leider schon vorbei.“
„Aber…“
„Trotzdem danke dass du angerufen hast. Am Donnerstag haben wir wieder `ne offene Sendung, versuch`s da doch noch mal.“
„Aber!“
„Möchtest du noch ein paar Takte mit der Julia, unserer psychologischen Betreuerin sprechen?“
„Äh… ja, gut, ok.“
„Alles klar, du legst bitte auf und die Julia ruft dich dann gleich zurück.“
„Okay. Deine Sendung ist echt super, Mick!“
„Ja, danke.“
„Hör ich jede Nacht!“
„Gut. Bis dann, Christian.“
„Kann ich noch ein…“
Anruf beendet.
„So, meine Lieben, das war`s mal wieder für heute. Morgen haben wir eine Themensendung, es geht um „Sex in der Öffentlichkeit“. Wenn ihr also gern Sex im Freien, in der Umkleidekabine, im Schwimmbad oder sonst wo außerhalb euers Schlafzimmers habt, dann ruft mich an unter der Nummer 0180-5784714. Danke noch mal an alle Anrufer diese Nacht, auch an die, die leider nicht durchgekommen sind. Macht`s gut, passt auf euch auf und schaltet morgen abend, 1 Uhr, wieder ein. Gute Nacht und bis morgen! Euer Mick.“
Musik abwarten, Mikro ausschalten. Umleiten, offline.

Der Mann sitzt im Auto, fährt einsam durch die Nacht. Das Radio ist aus, die Straßen menschenleer. Er raucht eine Zigarette, genießt die frische Nachtluft.
Er denkt an die Sendung, das Gespräch mit Julia und Manni danach. Er weiß, dass heute etwas anders war. Er weiß, dass es die letzte Folge seiner Show gewesen ist. Er weiß, dass er nichts weiß.
Mein Leben ist ein grauer Fleck, denkt der Mann, während er einsam durch die Großstadt rast. Wir spielen uns auf, beißen uns fest in jeder Kleinigkeit… alles nur unwichtige Details in einem endlosen Meer aus Belanglosigkeit.
Plötzlich klingelt sein Handy. Er geht ran.
„Hey, Michael.“ Es ist Julia. „Bist du schon zu Hause?“
„Nein, noch unterwegs.“
„Bleib locker, Mick. Lass dich nicht so aufsaugen…“
„Es sind nicht nur die Gespräche, Julia. Es ist das ganze Format, das mich abnervt!“
„Es ist doch deine Idee gewesen, Mick! Wir sind so erfolgreich, es geht immer weiter bergauf! Jede Nacht gibt es mehr Anrufer, selbst das Fernsehen ist auf dich aufmerksam geworden. Willst du das alles jetzt wieder wegwerfen, nur weil du `nen Durchhänger hast?“
„Das ist kein verfluchter Durchhänger, Julia! Das Format ist einfach scheiße!“
„Das hättest du dir vorher überlegen sollen. Wir können jetzt nicht einfach abbrechen und umkehren.“
„Mir egal, was wir können und was nicht! Julia, ich verliere mich selbst ich diesem Haufen aus Sex, Gewalt und Sinnlosigkeit! Das sind nicht einfach nur ein paar Freaks, die mir die Einschaltquoten sichern! Sie verfolgen mich! Ihre ganzen verschissenen Probleme werden zu meinen eigenen! Ich kann einfach nicht mehr… Ich bin fertig.“
„Du nimmst die Sache viel zu ernst. Du warst doch früher nicht so! Was ist nur los mit dir, Michael?“
„Ich weiß es nicht, Julia… Ich weiß nicht mehr, wer ich bin…“
„Schlaf dich erstmal aus, wir reden morgen drüber, okay?“
„Was soll`s, reden wir morgen, wie auch immer…“
„Schlaf gut, Mick.“
„Du auch…“
Er wirft das Telefon auf die Rückbank und lehnt sich müde in den Sitz zurück.
Wir reden morgen…, denkt er schläfrig. Wir reden morgen...