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Freitag, 21. Juni 2013

Die schönste Nebensache der Welt: Massenmord

„Om ist Bogen, der Pfeil ist Seele, Das Brahman ist des Pfeiles Ziel, Das soll man unentwegt treffen.“, wiederholte Jan. Er klang dabei, als hätte er drei Zentner toten Fisch im Mund.
„Der reinste Wahnsinn…“ antwortete ich und inhalierte einen schweren Zug aus den Tiefen der Hasch-Glut, die sich in meiner Pfeife auftürmte. Ich betrachtete das gute Stück, wie ich es immer tat, wenn ich auf die Wirkung des Dopes wartete. Eine edle Savinelli, von meinem Opa vor vielen Jahren für mich hinterlassen. Ein guter Mann war er gewesen, mein Opa. Hat gehurt, gesoffen und geprügelt. Ein guter Mann.
„Was?“ nahm ich nach einer Weile das Gespräch zu Jan wieder auf, als habe er etwas gesagt.
„Om ist Bogen, der Pfeil ist Seele…“ begann er von neuem, doch er stockte. Irgendetwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Ich folgte seinem Blick. Er starrte an die Wand.
„Der reinste… Wahnsinn…“ murmelte ich und da war er, der angenehme Rausch, die Leichtigkeit, die Klarheit, die Wirklichkeit, das Leben. Das pure, unaussprechliche Leben, ich wollte mehr, mehr, sog ein den Rauch aus der alten Pfeife meines Opas. Einer Savinelli, edel. Ein guter Mann war er gewesen, mein Opa. Hat gehurt, gesoffen und gefickt und gehurt, mein Opa. Ein guter Mann, mein Opa. Ein trauriger, alter Ficker.

Das war gestern. Jetzt sitze ich vor einem flimmernden Bildschirm, auf dem mir hunderte von Zahlen und Buchstaben entgegenspringen, beißenden Hornissen gleich, die sich nach weichem Menschenfleisch verzehren. Ich tippe, schnell, laut, als gäbe es kein Morgen. Ich tippe Zahlen und Buchstaben, die auf der linken Seite des Monitors stehen, auf die rechte Seite des Monitors, bestätige mit Enter, vergleiche erneut und tippe, ohne Pause, als gäbe es kein Morgen. Als gäbe es kein Morgen. Kein Jetzt, kein Gestern, kein Ich, kein Geld, keinen Schwanz, keinen Schmerz.
Ich mache das, mit gelegentlichen Pausen zum Urinieren und Fressen, acht, neun Stunden lang. Ich erlebe den Aufgang der Sonne, spüre den Tag im Augenwinkel, wie die Sonne Wärme bringt, das Leben pulsiert auf den Straßen. Ich erlebe, wie der Himmel dunkler wird, die Sonne verschwindet, Dunkelheit aus den Poren des Betons in die Gegenwart kriecht.
Ich bin fern von mir selbst, während ich tippe und tippe und tippe. Ich bin weder Sklave meines Arbeitgebers, noch von mir selbst. Mein Pfeil ist verschossen, doch er kehrt immer wieder zu mir zurück, jeden Tag, wenn der Feierabend naht. Als geschlagenes Ich kehre ich nach Hause zurück, leer, missbraucht, beinahe tot. Dann rauche ich, trinke ich, wichse ich. Der Fernseher steht mit Rat und Tat zur Seite, ist tröstender Freund und penetrierender Feind zugleich.
„Das Leben ist soooo geil!“, sagt das Mädchen auf RTL2. Das Mädchen mit den großen Brüsten sagt: „Das Leben ist so geil! Ich hab` gewonnen! Ich bin Superstar, whuuuuuuuuuuuuuu!“
Ich bin Superstar. Ich bin Super. Star. Ich bin. Ich. Ich. Ich.
Das Leben ist geil.
Das Telefon klingelt, ich gehe nicht ran. Anrufbeantworter:
„Hallo Martin. Ich bin`s, deine dich liebende Mutter. Ruf doch mal zurück, wenn du von der Arbeit kommst. Tschüss!“
Ich inhaliere den Rauch, muss lachen, muss lachen. Dann schlafe ich ein und träume von dem Mädchen. Dem Mädchen mit den großen Brüsten, das Superstar geworden ist. Ich habe auch große Brüste im Traum, aber ich bin kein Superstar. Ich stehe neben ihr, sehe zu, wie sie die Preise abstaubt, wie ihr alle gratulieren, wie sie immer wieder schreit „Das Leben ist geil!“. Ich bin wütend, neidisch. Ich wünsche mir, dass sie auf der Stelle verreckt. Stelle mir vor, wie ihre fetten Brüste platzen und das ganze Studio, das Publikum, all diese hirnlosen Fucker mit Fotzensaft übergießen. Und dann passiert es tatsächlich. Alles voller Fotzensaft. Es riecht nach Fisch und seltsamerweise nach Pommes Rot-Weiß. Ich muss lachen, dann übergebe ich mich.
Ich erwache in meiner eigenen Kotze. Das Telefon klingelt. Ich gehe nicht ran. Anrufbeantworter:
„Hi, äh… Mart…“ Es ist Jan. „Ich bin`s… äh… Jan.“
„Hi, Jan…“, sage ich. Meine Stimme klingt nach Erbrochenem.
„Ich äh…“, fährt Jan fort. „…hab das Zeug, also… und der Typ ist auch hier so. Der hätte Zeit und würd` uns helfen. Findet das gut, was wir vorhaben. Der meint, das wär dann wie in Fightclub. Das Ende, weißte… Mit den Hochhäusern. Wenn du Lust hast, komm vorbei und wir… äh… fangen schon mal an. Wollt ich dir nur sagen. Nur sagen, so. Hau rein, Bro. Bis, äh… dann so.“
Pause. Ich warte darauf, dass Jan auflegt, aber er legt nicht auf. Dann, Räuspern.
„Ähh…“ Ich warte. „Yo, bring was zu rauchen mit, ok? Und die Kohle. Die Kohle für das ganze Zeug hier. Du hast doch die Kohle für das ganze Zeug, oder? Ich mein, klar, du kannst ja grad nicht antworten, so, aber du hast die Kohle bestimmt locker, oder nicht? Ich mein… äh… ach, scheiß drauf, komm einfach rum, so, bro, bruder… fuck.“
Jetzt legt er auf. Kein Rauschen mehr. Kein „so“ mehr. Kein Bro, Bruder, Fischfressen-Sound mehr. Ende des Monologs.
Ich bleibe noch eine Weile in meiner Kotze liegen. Dann stehe ich auf, gehe ins Bad, wasche mich, ziehe mir was Warmes an und verlasse die Wohnung. Auf zu Jan. Es ist Bomben-Zeit. Zeit für die Bombe, die alles zerfetzen wird. Bomben-Zeit. Fightclub. Explodierende Städte. Zeit für ein wenig Leben.

Das Ding zu bauen war ein Kinderspiel. Jedenfalls für Jan und mich, denn der Typ wusste bestens Bescheid. Wir glotzten ihm bei seinem manischen Wahn zu, wie er Drähte mit Drähten verband, chemische Flüssigkeiten zusammenmischte und sie in kleine Behälter füllte, die er in das Teil einbaute. Er war das, was man gemeinhin als psychopathisches Genie bezeichnete. Er redete nicht viel, doch seine wirren grauen Augen sprachen Bände. Seine bloße Aura zeugte von Leid und Wahnsinn, die farblosen Pupillen huschten wie scannende Micro-Sonden über sein Werk und beobachteten seine drahtigen, flinken Finger bei der Arbeit.
Während der Psychopath an der Bombe arbeitete, rauchten Jan und ich einen Joint nach dem anderen. Wir sprachen wenig, dafür grinsten wir ununterbrochen vor uns hin. Teils aus Vorfreude, teils aus kanabiziöser Verblödung.
Als der Kerl fertig war, ging er zum Kühlschrank und holte eine Flasche Rasputin-Wodka aus dem Eisfach. Er nahm einen langen Zug, seufzte, als er die Flasche absetzte und dann sagte er mit seinem kalten, erbarmungslosen russischen Akzent: „Fuertig. Huoch lebe das alte Mütterchen!“
Jan und ich hoben unsere unsichtbaren Gläser und stießen mit ihm an. Wir klärten einen Termin mit ihm ab, wann wir das Ding hochgehen lassen wollten, dann packte er seine Sachen und verließ uns mit einem wissenden Kopfnicken.
„Om ist Bogen.“, sagte Jan zufrieden.
„Om ist deine Mudda…“, antwortete ich.

Neuer Tag, altes Spiel. Tippen, tippen, tippen. Linke Seite des Bildschirms, rechte Seite des Bildschirms. Links, rechts, links, rechts, links, rechts. Wie beim Militär. Ich mache Pausen um zu fressen, zu kacken und belanglose Gespräche zu führen, kehre stets zurück und tippe und hacke und tippe.
Dann, endlich, Feierabend. Ich kehre nach Hause zurück, leer, missbraucht, beinahe tot. Ich betrachte eine Weile die getrocknete Kotze von gestern. Dann rauche ich, trinke ich, wichse ich. Der Fernseher steht mit Rat und Tat zur Seite, ist tröstender Freund und penetrierender Feind zugleich.
„Zahlreiche Tote und Verletzte bei Bombenattentat in Syrien…“, murmelt der Mann mit dem grauen Gesicht. Ich grüble darüber nach, was sich auf „Bombenattentat“ reimt. Sonden-Dach-Spinat? Morgen-Saft-Ejakulat? Egal.
Egal, egal, egal, egal.
Morgen wird ein guter Tag, denke ich dann. Morgen ist es endlich soweit. Ob der graue Mann darüber berichten wird? Was wird er sagen? Sonderblatt-Soldat in Kölner Innenstadt, vermutlich. Irgendwas in der Richtung. Egal.
Egal, egal, egal, egal, egal.
Ich schlafe ein und träume von Transvestiten.

Zerfetzte Körper, schreiende, weinende, gurgelnde Massen, Rauch und Qualm und Trümmer und Blut. Dies viele, viele Blut auf dem heißen Asphalt. Noch eben liefen sie der Ziellinie entgegen, Menschen in ihren Jogging-Hosen und Laufschuhen, dann von einem Augenblick zum nächsten ein lauter Knall, Feuer und letztendlich: Tod.
Der Russe hatte gute Arbeit geleistet.
Was der graue Mann berichtete? Das weiß ich nicht. Der Fernseher blieb stumm. Ich zehrte noch einige Tage von der Erregung, der Gewalt, dem Massenmord an meinen Mitexistierenden. Ich wartete darauf, dass sie uns auf die Schliche kamen. Ich wartete auf eine gerechte Strafe.
Die Strafe blieb aus. Alles normalisierte sich wieder, die Leute vergaßen das Grauen, vergaßen ihre Angst. Der Alltag verlor seinen Schrecken, die Sonne schien wie eh und je, das Hackfleisch auf den Grillplatten der Fast-Food-Filialen wurde gewendet, in trockenes Brot gepackt und verkauft. Die Leute fraßen, als sei nichts geschehen. Die Leute lebten, als sei alles bloß Traum gewesen. Auch ich tat es ihnen gleich. Ich ging weiter arbeiten. Tippen, tippen, tippen. Die Kotze auf meinem Fußboden bekam mehr und mehr Risse. Der Fernseher jedoch blieb stumm.
Manche Dinge ändern sich nun mal nach großen Ereignissen. Die meisten bleiben jedoch gleich. Wir Menschen gewöhnen uns an alles, früher oder später. Wir gewöhnen uns selbst an den Tod. Warum sollten wir auch verzweifeln? Das Leben ist gut, wie es ist, nicht wahr? Das Leben ist gut und wir atmen, atmen, atmen, saugen es ein in unsere verwesenden Lungen, nehmen mit, was wir kriegen können.
Das Leben ist geil! Om ist Bogen, der Pfeil ist Seele, Das Brahman ist des Pfeiles Ziel, Das soll man unentwegt treffen.
Ich spanne den Bogen und verfehle das Ziel. Egal, egal, egal, egal, egal…

Montag, 17. Juni 2013

Panta rhei


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Protokoll 197, Köln, Epidemiebericht 162453. Teile des Textes waren zum Zeitpunkt der Erfassung unleserlich oder nicht mehr vorhanden. Die entsprechenden Stellen sind mit […] gekennzeichnet. Weitere Angaben im Anhang der Akte.

„Alles fließt, sagte Heraklit. Und nichts bleibt. Alle Atome stehen in Relation zueinander. Jede Aktion hat eine Auswirkung auf das Gefüge der Welten. Wenn ich Schmerz verursache, werde ich Schmerz ernten. Wer Liebe sucht, w […] aus den Schatten ans Licht.
Ich war nie das, was man allgemeinhin als einen „guten Menschen“ bezeichnet. Ich bin kein Mörder, kein Vergewaltiger oder dergleichen. Nein, das nicht. Aber ich bin ein Lügner, ein Betrüger, ein Sadist und ein Ehebrecher. Das allein genügt, um meine moralischen Zweifel zu begründen. Doch warum habe eigentlich Zweifel? Warum diese Vorstellung von Moralität? Warum kann ich all die Dinge tun, die ich getan habe und trotzdem hinterher selbst darunter leiden, mich schuldig fühlen, ohne eine gerechte Strafe dafür zu erhalten? Was gibt mir die Kraft, mich für meine Triebe und gegen meinen moralischen Willen zu entscheiden, und zu verletzen, zu zerstören und zu hintergehen?
Wäre ich Christ, so würde ich an den Teufel glauben. Ich würde sagen, der Teufel sei es, der mich das Böse tun lässt. Dämonen seien schuld am Leid der Welt, nicht ich, nicht wir Menschen. Die Pforten des Himmels stünden mir offen, solange ich an ihn glaube, den Heiland, Christus, meinen Erlöser, den Barmherzigen, der alle Sünder empfängt, solange sie nur tief und fest genug an ihn glauben.
Aber ich bin kein Christ. Ich bin auch kein Humanist, kein Sozialist, noch nicht mal Nihilist. Niemand, der tatsächlich existiert kann ein Nihilist sein. Nihilist zu sein bedeutet, nicht zu sein. Einfach aufhören mit dem Leben, nicht mehr Essen, nicht mehr schlafen, nicht mehr atmen. Das ist ein Nihilist, nicht diese verqueren Idioten, die herumlaufen und jedem von ihrem neuen Status berichten und wie leicht und schwerelos das Leben ist, wenn man all seine Verantwortung abgelegt hat. Diese selbsternannten Nihilisten sind Schwachköpfe, die vor sich selbst davonrennen. Nihilist zu sein bedeutet, sich selbst besonders nah zu sein. So nah, dass einem der eigene Tod das höchste Ziel ist. Deshalb sieht man auch nie einen von ihnen. Man hört sie nicht sprechen, weil sie keinen Sinn mehr in Kommunikation sehen. Man sieht sie nicht in der Öffentlichkeit, weil sie keinen Sinn mehr darin sehen, sich vor anderen darzustellen. Man liest nicht von ihnen in der Zeitung, weil ihr Tod nicht unterhaltsam ist.
Ich aber lebe. Das bedeutet, dass ich kein Nihilist bin. Ich bin Sadist. Ich liebe es, andere durch mich leiden zu sehen. Nicht alle Wesen natürlich, es gibt auch Mitleid in mir, den Drang nach Nähe, Liebe und Freundschaft. Aber da ist auch eine tiefe Abneigung gegen alles Andersartige, gegen Dummheit, Ignoranz, Arroganz und narzisstischer Eigenliebe. Eine Abneigung mir selbst gegenüber, die ich auf andere projiziere. Ist mir jemand zu ähnlich, muss ich ihn leiden sehen. In diesem Sinne bin ich Sadist und Masochist zugleich. Was sind denn Sadisten anderes, als Masochisten, die nach dem Metaprinzip der Moralität, der goldenen Regel, handeln.
Behandle deinen nächsten so, wie du auch selbst behandelt werden möchtest.
Das tue ich. Genau dies.
Meine Freunde sehen mich natürlich nicht so, wie ich mich sehe. Für sie bin ich das, was ich in meiner Rolle für sie vorgesehen habe. Ich habe Rollen für jeden von ihnen. Die Rolle des Zuhörers für meine Freunde, die Rolle des Liebhabers, des Lebenspartners für meine Frau, die Rolle des verständnisvollen Kollegen für meine Mitarbeiter. Aber wenn ich allein mit mir bin, dann gibt es keine Rollen mehr. Dann bin ich […] reinster Form. Keine Gesten, keine Wortspielereien. Nur ich, bloße Präsenz ohne darstellen zu müssen.
Diese Präsenz ängstigt mich und doch sehne ich mich nach ihr, wenn ich auf der Bühne des Lebens stehe und meine Rollen spiele. Sie ist ehrlich, immer da, immer verständnisvoll. Sie unterliegt keinen gesellschaftlichen Regeln, keinen moralischen Zwängen. Doch ohne meine Rollen, wäre ich nur das, eine Präsenz ohne Gegenfläche, ohne absorbierendes Spiegelbild. Meine Existenz wäre sinnlos. Alles wäre sinnlos, wenn wir uns nicht gegenseitig Beachtung schenken würden, uns gegenseitig jeden Tag aufs Neue bestätigen würden, dass wir einander erkennen, das wir Individuen sind, die atmen, kommunizieren, leben. Ohne die Anderen, sind wir nicht Eins.
Also fließen wir, weiter und weiter, leben, vergehen, entstehen erneut zu etwas anderem, das fließt und vergeht und von neuem entsteht und fließt und vergeht und entsteht und vergeht und so weiter bis zum Ende der Zeit, der Leere des Seins.
Alle Gedanken sind leer, bloße Platzhalter für weitere leere Fragmente.
[Es folgt eine lange Liste aus Zahlenkombinationen. Die mathematische Prüfung ergab, dass es sich bei der Liste um eine Folge der Zahl Pi handelt, die ab der 937748377. Nachkommastelle beginnt. Die Umwandlung in Textform ergab folgendes Ergebnis:
[…] klassischen Muffins mit Schokostückchen sind eine beliebte Leckerei für Groß und Klein. Dass sie einfach und schnell zuzubereiten sind, dafür […] kleine Back-Idee von Dr. Oetker. Die Backmischung enthält bereits die Backförmchen für 12 leckere Muffins.
Kleine Back-Ideen - der große Genuss für Jung und Alt - auch direkt aus der […]
- Ende der Liste]
Vielleicht werde ich doch noch Nihilist. Vielleicht höre ich einfach mal auf zu atmen. Jetzt erscheint mir ein guter Zeitpunkt dafür zu sein. Ich spiele meine letzte Rolle. Die Rolle des Nihilisten, der der Welt den Rücken zukehrt…
Nein, das ist albern. Ich mache weiter. Warum auch nicht? Es gibt keinen Grund, es nicht zu tun. Was meinen Sie? Oetkeroetkeroetkeroetkeroetk […] roetkeroetker“

Anhang:
Mit Blut an eine Wand in den Ruinen der Stadt Köln (Stadtteil Klettenberg SW) geschrieben. Verfasser konnte nicht ermittelt werden, starb jedoch vermutlich noch während der Hochphase der Epidemie. Man fand in der Nähe der Wand mehrere abgebrannte Kerzen, ein mit Blutspuren übersätes Exemplar „Handbuch der vorsokratischen Philosophie“, sowie diverse pornographische Schriften, die teilweise unvollständig und ebenfalls mit Blut und Unrat übersät waren. Im Deckmantel des Buches fand man eine handgeschriebene Widmung:

- Für DTD, meinem Freund und Mentor, der mich durch den Ozean der sterbenden Sonne rettete und mich lehrte, der zu sein, der ich bin. In Liebe, TF –

Untersuchungen eingestellt am 28. Februar 2027. Epidemieberichte / Akte 162453, EK II, Abt. AM9936, Notiz verfasst von X704850, 19. Juni 2028, 6:48 Uhr.

Freitag, 14. Juni 2013

Für wen würdest du sterben?

Das kostbarste Gut, das ein Lebenwesen besitzen kann, ist das Leben selbst, die Existenz, das Atmen-, Fressen-, Scheißen-Können. Wer braucht schon Bewusstsein, Geld und soziales Ansehen, wenn das Herz kein Blut mehr durch die Venen pumpt, das Hirn den Atemreflex abstellt und der Schließmuskel den Damm für Dauerdurchzug freigibt?
Die Menschen hängen an ihr, an der Existenz, mehr als am ganzen Rest, den verdienten und unverdienten materiellen Freuden der Gesellschaft. Auf alles kann zur Not verzichtet werden, doch nicht auf das Sein, die Teilhabe an der Welt des Existierenden. Für nichts in der Welt würden wir unser Leben aufgeben, denn was hätten wir dann noch davon? Durch die Aufgabe des eigenen Seins erzielen wir keinen Profit, erreichen keine Verbesserung der Lebensumstände, keinen Reichtum, kein Ansehen, kein Glück, keine Liebe. Das Leben ist sinnlos, wenn es nicht mehr gelebt werden kann. Doch genau dieses Schicksal erwartet uns alle am Ende unserer Tage. Der Tod, die Sinnlosigkeit, die Absurdität, vor der wir unser ganzes Leben lang fliehen. Zum Schluss gewinnt sie die Oberhand über unsere Träume, unsere Ziele, unseren ach so geliebten, hart erarbeiteten Charakter. Dann, wenn die Sense den Lebensfaden durchtrennt, herrscht wieder Leere. Anti-Existenz. Und all das Leben, das uns stets so reich und wertvoll erschien, ist nicht mehr als bloße Erinnerung.
"Für wen würdest du sterben?", fragte mich das rothaarige Mädchen mit den Sommersprossen, als wir auf der große Wiese saßen, damals im Sommer, und Tequila tranken, mit Zitrone und Salz.
"Was für eine sinnlose Frage.", hatte ich geantwortet. "Für niemanden, außer für mich selbst."
"Für dich selbst gilt nicht." Ihr Lächeln war so rein wie der Schnaps, doch es war weit davon entfernt, ebenso ehrlich und unbarmherzig zu sein.
"Was willst du denn hören?" Wie immer war ich gereizt, wenn sie mit solchen Themen anfing. "Das ich für meine Freunde sterben würde? Für meine Familie? Für dich?"
"Zum Beispiel." Sie goss erneut die Gläser voll. Immer noch lächelte sie, doch ihre dunklen, grünen Augen blitzten vor Erwartung.
"Was würde sich ändern, wenn ich es sage?" Sie war so schön, dachte ich. Und meine Worte so hässlich. Aus meinem Mund kam schon lange keine Hoffnung mehr. Die Realität ließ keine Träume zu. "Niemand stirbt für irgendjemanden. Der Tod ist immer sinnlos. Das Leben durch ihn sowieso. Warum sich Gedanken darüber machen?"
"Du tust so, als bedeute dir das alles nichts. Als sei alles absurd und die Welt ein großes Chaos aus sinnlosen Zufällen. Aber du liebst das Leben, deine Freunde, deine Familie. Du liebst auch mich, auch wenn du keine Ahnung hast, wer ich bin, wie ich bin. Du liebst meine Hülle, meine Augen, meine Titten, all das, ohne es zu wissen. Und du traust dich nicht, es zuzugeben."
"Du lügst mal wieder." Jetzt hatte sie es geschafft. Ich lächelte. "Ich hasse dich."
"Aber meine Titten nicht, hm?" Ich betrachtete ihre Titten. Nein, es war unmöglich, dieses Kunstwerk menschlicher Anatomie zu hassen.
"Nein, deine Titten liebe ich tatsächlich."
"Für meine Titten würdest du also sterben?"
Ich nickte, vielmehr, weil ich hoffte, dass damit das Thema erledigt sei. Wir stießen an und tranken unsere Gläser leer. Der Biss in die Zitrone war erregend, beinahe schmerzhaft.
"Hör auf, über den Tod nachzudenken." sagte ich nach einer Weile des Schweigens. "Er bleibt sinnlos, egal von welcher Seite du ihn betrachtest."
"Vielleicht hast du Recht." Ihre Lippen schimmerten im goldenen Licht der untergehenden Sonne. "Vielleicht bist du aber auch nur ein ignoranter Idiot."
"Vielleicht...", antwortete ich, dann küsste ich sie und mir wurde wieder einmal aufs Neue bewusst, wie haltlos und nichtssagend Worte doch sind.