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Montag, 7. November 2016

Das Gitarrensolo

"3 Minuten. Länger darf der Song nicht sein, sonst wird´s kein Hit."
Es herrscht gedämpftes Licht im Proberaum, eine Lavalampe blubbert vor sich hin, an der Wand hängen Poster mit Zen-Botschaften. Doch die Stimmung ist gereizt, wie so oft in letzter Zeit. Die Musiker streiten sich mal wieder über das grundlegende Konzept: Künstlerische Freiheit vs. Massenkompatibilität.
"Dann wird´s halt kein Hit, sondern einfach nur ein guter Song." sagt der Bassist, dem es im Grunde Latte ist, weil er schon fünf Flaschen Bier getrunken hat und einem dann so einiges Latte ist. 
"Ein guter Song mit einem 3-Minuten-Gitarrensolo." sagt der Sänger, der auch mindestens fünf Bier getrunken hat, was aber bei perfektionistischen Gemütern zum Gegenteil führt.
"Weißt du, wie lange ich an dem Solo geschrieben habe?! Das ist ein Gesamtkunstwerk, jeder Ton ist eine Stufe auf dem Stairway To Heaven, nimmst du auch nur eine davon raus, ist es kein verfickter Stairway mehr und niemand macht sich mehr die Mühe, nach ganz oben zu kommen!"
Das war, augenscheinlich, der Gitarrist. Er spielt sie jeden Tag, seine Skalen und Tonleitern, rauf und runter, rauf und wieder runter, 180 beats per minute, 190, 200, 220 und dann zurück auf 60 bpm, ganz langsam, damit auch jeder Ton sauber durchklingt. Manchmal schaut er sich bei dem ganzen Skalen-Gewichse eine Serie an, um die Monotonie der Prozedur auszublenden. Er schreibt jeden Abend in sein Übungstagebuch, welche Skalen er rauf und runter gespielt hat, wie lange er sie rauf und runter gespielt hat, was gut gelaufen, was nicht so gut gelaufen und was richtig beschissen gelaufen ist. Damit fängt er dann am nächsten Tag an. Man darf sich keine Schwächen erlauben. So was hört der Konsument. Diletantismus ist die größte Sünde eines Musikers.
"Vielleicht könnte man das Gitarrensolo ja durch irgendwas anderes ersetzen." schlägt der Schlagzeuger vor, diplomatisch wie eh und je. "Vielleicht ein Sample von ´nem tibetanischen Gebets-Chor oder so was in die Richtung."
"Wir sollten das Solo einfach ganz rausschmeißen." Der Sänger wieder. Schwarz-Weiß-Mentalität par excellence. "Gitarrensoli sind so was von 80ies, das fährt sich doch heutzutage niemand mehr rein. Zeit ist kostbar, wenn die Leute neben der ganzen Arbeit und dem Scheiß den man jeden Tag erledigen muss endlich mal ein bisschen Zeit für Musik übrig haben, wollen sie ganz sicher nicht mit irgendwelchen Egowichsereien eines Gitarristen mit zu viel Freizeit gelangweilt werden."
"Egowichsereien... tz..."
Oh je, jetzt muss unser flinker Fingerteufel aber ganz schön an sich halten. Freunde, das gibt noch Krieg hier heute, man hört die Fanfaren schon aus der Ferne näher kommen.
"Wenn hier einer ein Egowichser ist, dann bist das wohl du!" bricht es aus dem sonst so disziplinierten Gitarrenhelden heraus. "Du willst doch nur, dass man den Song über durchgehend deine Stimme hört! Warum nimmst du nicht gleich ein A-Capella-Album auf, wozu brauchst du noch eine Band, wenn sowieso alles Scheiße ist, was nicht aus deinem Hals rausquillt?!"
"Jetzt regt euch mal wieder ab, Leute." Der Basser öffnet eine weitere Flasche warmes Bier und prostet seinen Bandkameraden zu. "Halbier´ das Solo doch einfach, nimm die besten Parts raus und..."
"Du hörst einfach nicht zu, VERDAMMT!!!"
Oh hell, da ist er, der erste Kanonenschlag. Ich hab´s gewusst. Tapfer reitet er in die Schlacht.
"Ein Solo kann man nicht einfach halbieren! Ich muss da noch mal ganz von vorne anfangen und was komplett neues auf die Beine stellen! Das ist so, als hätte Moses Gott damals vorgeschlagen, er soll´ doch fünf statt zehn Gebote schreiben, weil zehn die Leute überfordern könnten. Welches Gebot soll man da denn bitte streichen? Du sollst nicht töten? Ach, nicht so wichtig, raus damit. Du sollst... wie ging das gleich nochmal...?"
"Nicht ehebrechen?" kommt ihm der Drummer zu Hilfe.
"Ja, verdammt! Genau! Wollt ihr, dass eure Frauen ständig mit anderen Typen ins Bett gehen nur weil irgendein Fucker damals auf die Idee kam, Gottes Gitarrensolo zu kürzen?"
"Meine Freundin ist Atheistin und die steigt trotzdem nur mit mir in die Kiste." sagt der Bassist und nimmt genüsslichen einen langen Schluck aus der Flasche.
"Meine ist Jüdin, glaube ich." sagt der Drummer.
"Immer dieses Theater..." winkt der Sänger ab und wirft der Runde einen resignierten Blick entgegen.
"Warum muss immer alles in bescheuerte Vergleiche abdriften. Was schert uns die Bibel, es geht hier einfach nur darum, das Beste aus dem Song herauszuholen."
"Und das tun wir, indem wir das Gitarrensolo streichen, hm? Vielleicht sollten wir einfach ein Instrumental draus machen, was meint ihr Leute? Ein Instrumental ohne Gitarrensolo? No way! Aber auf den Gesang könnten wir dann problemlos verzichten. Wir kürzen die Strophen, der Refrain kann meinetwegen ganz wegfallen. BAM!, da haben wir unseren verfickten 3-Minuten-Hit!"
Der Basser zuckt die Achseln. "Macht was ihr wollt, was soll´s."
Der Schlagzeuger nimmt die Denkerpose ein und macht "Hm" und "Weiß nicht...".
"Nicht euer Ernst, oder?" Jetzt ist es der Sänger, dem die Pferde durchzugehen drohen. "Ich hab mindestens genauso lange an dem Text gesessen wie unser Möchtegern-Van-Halen hier an seinem beschissenen Solo! So was schüttelt der sich doch aus dem Ärmel, Mann! Für einen vernünftigen Text braucht man erst mal eine richtig traurige Emotion! Ich bin durch die schlimmste Seelenfolter gegangen, als ich "The Witcher" geschrieben habe..."
"Es geht in dem Song um einen Magier mit großem Hut dem niemand seine Tricks abkauft. Was soll daran Seelenfolter sein?"
"Mann, das sind doch alles Metaphern du Spast! Überleg doch mal, wofür könnte der Hut stehen, hä?"
"Vielleicht ist der Magier Mexikaner?" schlägt der Drummer vor.
"Mexikaner? Was ist nur los mit euch...?" Der Sänger schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. "Scheiß auf euch, Leute, scheiß auf diese ganze Geschichte hier. Ich bin raus aus der Nummer." Er steht auf und zieht sich seine Jacke an. "Macht euer verschissenes Instrumental. Mit solchen Dilettanten wie euch kann ich nicht arbeiten!"
"Hey jetzt warte doch mal..." versucht der Drummer zu retten, was nicht mehr zu retten ist.
"Lass ihn doch. Wer es nicht schafft, zugunsten des Gesamtkunstwerks zurückzustecken, ist nun mal ein Egowichser und hat hier nichts zu suchen."
"Fucker..." murmelt der Mexikaner, äh, ich meine der Sänger und verlässt stampfend den Proberaum.
Der Bassist zuckt wieder mal die Schultern und leert seine sechste Flasche Bier. "Instrumental also, hm?"
"Der Songtitel kann aber ruhig bleiben, oder?" schlägt der Drummer vor.
"Nein, wir brauchen etwas griffigeres, etwas das tiefgründig, aber direkt verständlich ist. Ich hatte da so ein paar Bilder im Kopf beim Komponieren meines Solos: Dunkle Berge, Blitze zucken am Firmament, dann plötzlich, ein schwacher Schimmer und eine Treppe aus gleißendem Licht bricht sich Bahn durch die dunklen Wolken. Das wäre auch eine gute Idee für ein Musikvideo, oder? Was meint ihr? Die Treppe erreicht den Boden und da stehe ich, spiele mein Solo und steige die Stufen hinauf, der Himmel erhellt sich, der Bildschirm wird weiß, während die letzte Aufnahme auf mein Griffbrett gerichtet ist, der Oberton klingt aus und fade-out! Dann das Bandlogo und vielleicht dieses Sample von dem Tibeterchor als Outro, wovon du eben gesprochen hast. Leute, jetzt wo wir nicht mehr an dieses idiotische Pop-Konzept gebunden sind, sprudeln plötzlich haufenweise Ideen aus mir raus! Ich muss das alles aufschreiben! Holt mir Stift und Papier! Nichts davon darf verloren gehen! Das ist es! Das ist der Titel! Die Treppe ins Himmelreich! Leute, ich sag es ja nicht oft, aber das ist gerade der beste Einfall meines Lebens! Ich bin ein gottverdammtes Genie! Los, lasst uns das alles aufschreiben und mit dem Proben loslegen. Wir müssen damit so schnell wie möglich auf die Bühne. Das sind die Sternstunden, in denen Erfolg geboren wird, Muchachos! Wir sollten vielleicht noch über Kohle sprechen, ich meine, damit werden wir berühmt und wenn das Geld einmal fließt, wird die Frage aufkommen, wie wir es aufteilen. Ich denke, dass ihr mit einer 60/20/20-Aufteilung einverstanden seid, da ich ja die ganze kreative Vorarbeit geleistet habe usw..."

Tja, meine lieben Freunde. Aus dem Video wurde leider nichts. Die Band hatte sich kurz nach diesem Debakel aufgelöst. Der Gitarrist hatte es noch eine Weile als Solo-Künstler versucht, aber irgendwie wollte niemand so recht Gefallen finden an seinen rauf und runter gespielten Skalen und dem ganzen Treppenzeugs. Auf einer Party lernte er eines Abends ein süßes Mädchen kennen. Sie brachte ihn auf andere Gedanken. Er heiratete das Mädchen, versprach ihr ein großes Haus mit vielen Kindern. Um diesen Traum zu finanzieren wurde er Bankkaufmann, arbeitete Tag und Nacht und kaufte eines Tages das Haus. Sie bekamen eine gesunde Tochter und lebten glücklich und zufrieden, bis das Kind von einer Straßenbahn überrollt wurde und die Trauer sie entzweite. Er blieb in dem großen Haus zurück, betrank sich bitterlich Tag ein Tag aus, die Scheiße kam ihm ständig hoch, er spülte sie mit noch mehr Whiskey wieder runter. Die Speiseröhre rauf und wieder runter, rauf und wieder runter, rauf und wieder runter. Er schrieb keine Tagebücher mehr. Keine Soli. Es kamen auch keine neuen Einfälle mehr. Der Zenit seines Genius war längst überschritten.
Viele sagen, würde Kurt Cobain heute noch leben, er würde die großartigsten Songs seiner Karriere schreiben. Ich aber glaube, dass er nur noch Bockmist verzapft hätte. Die großen Tage eines Künstlers sind kurz, die Flamme brennt nur für einen kurzen Moment lichterloh. Alles was folgt ist nur ein schwaches Glimmen, bis es schließlich gänzlich erlischt und der ewigen Dunkelheit die Bühne überlässt.

Ach, und was diese ganze Mexikaner-Zauberhut-Metapher angeht: Ich weiß bis heute nicht, was dieser Scheiß zu bedeuten hat! Tut euch selbst einen Gefallen und denkt nicht zu viel über solche Sachen nach. Das Leben ist kurz und unsere Zeit ist knapp. Wählt eure Rätsel weise!

Montag, 24. Oktober 2016

Der Seemann


Regen schlägt gegen die riesigen Glasscheiben, die vom Fußboden bis zur Decke reichen. Es ist dunkel da draußen. Dunkel und kalt. Meine Augen folgen dem Lauf der Tropfen, die vom Wind gepeitscht über das Glas laufen. Ich ziehe an meiner Zigarette und denke an nichts.
Plötzlich steht ein Kollege neben mir. Auch er raucht und starrt in die Finsternis hinter dem Glas.
„Der Winter…“, sagt er mit matter Stimme. „Kann einen echt fertig machen diese ständige Dunkelheit.“
Ich nicke.
„Morgens dunkel, abends dunkel.“, fährt er fort. „Als hätte sich die Sonne komplett in den Süden verzogen.“
Ich nicke und nehme einen langen Zug. Nur noch wenige Züge und die Zigarette ist abgebrannt. Vielleicht mache ich mir gleich noch eine neue an. Ich kann nicht wieder runter, nicht sofort. Beim Gedanken ans Büro wird mir übel. Das künstliche Licht, die flimmernden Bildschirme, die Mails, diese gottverdammten Mails und das Telefon, das alle zwei Minuten klingelt. Ich bin fertig, mein linkes Augenlid zuckt ununterbrochen, ich fühle mich wie ein Geist, schaue meinem Körper dabei zu, wie er in den Rechner starrt, die Finger des Körpers über die Tastatur fliegen, er Menschen am Telefon mit ruhiger, gelassener Stimme beschwichtigt. Dann steht er auf, steigt mit müden Schritten die Treppe hinauf, den Flur entlang in den Pausenraum, zündet sich eine Zigarette an und starrt aus dem Fenster, in den Regen, in die Finsternis, die schwarze Welt außerhalb der Festung; seine Gegenwart, sein Leben, unwirklich, so fern.
„Ich wollte schon vor ´ner Stunde Feierabend gemacht haben.“, sagt der Kollege, mehr zu sich selbst. „Aber es spielt ja ohnehin keine Rolle. Jeder Tag gleicht dem nächsten. Wir könnten genauso gut die Nacht hierbleiben. Morgen sind wir sowieso wieder hier. Dann müssten wir wenigstens nicht durch dieses Mistwetter fahren.“
Es ist so weit, der letzte Zug füllt meine Lungen, ich drücke die Zigarette aus und hole im gleichen Zug die Schachtel aus meiner Westentasche und halte sie dem Kollegen hin.
„Nein, danke, ich rauche sowieso zu viel. Ich sollte auch wieder runtergehen, diese Mail muss endlich rausgehen. Gott, wie ich dieses Geschreibe hasse. Aber es hilft ja nichts, die Arbeit erledigt sich nicht von allein. Mir wird schlecht, wenn ich ans Büro denke. Manchmal fühle ich mich, als wäre ich ein Geist, der in einer Maschine feststeckt. Der Geist will raus, aber die Maschine ist wie ein Gefängnis aus Stahl, programmiert auf die ewige Widerkehr des Gleichen. Und ich bin verdammt dazu, Sysiphos dabei zuzusehen, wie er seinen beschissenen Felsen den Abhang hochrollt. Tag für Tag für Tag für Tag.“
Ich zünde mir die zweite Zigarette an und nicke und schließe die Augen und nicke weiter. Der Kollege drückt seine Zigarette in den Aschenbecher und verabschiedet sich mit den Worten: „Wie auch immer…“. Ich atme tief durch, nehme einen langen Zug, die Augen geschlossen. Ich stelle mir vor, ich sei eine Maschine, auf Zerstörung programmiert, alles zermalmend unter schweren Panzerketten. Ich hinterlasse eine Spur aus Chaos und Feuer in der Finsternis. Die Flammen werfen wilde Schatten an die zerbombten Grundpfeiler der Ruinen.
Ich öffne meine Augen.
Es regnet noch immer.

Auf dem Weg nach Hause sitzt mir in der Bahn ein Vater mit seiner kleinen Tochter gegenüber und erklärt ihr die Welt.
„Warum gibt es böse Menschen?“, will das Kind wissen.
Ich starre aus dem Fenster ins verregnete Nichts und lausche dem Dialog.
„Weil wir nun mal die Wahl haben.“, antwortet der Vater. „Gott hat uns den freien Willen geschenkt.“
„Warum hat er uns nicht einfach alle gut gemacht?“
„Weil er möchte, dass wir von uns aus gut sind, nicht weil er es will.“
Mein Fokus verschiebt sich von der Außenwelt auf die Spiegelung der Fahrgäste in der Fensterscheibe. Die Leute starren wie ich; auf Ihre Smartphones, in Ihre Spiegelbilder hinein, in den nassen Abgrund der Außenwelt. Alles schweigt wie im Theater. Das Stück geht weiter:
„Dann ist Gott schuld daran, dass die Welt so blöd ist.“
„Die Welt ist nicht blöd, Susu, nur kompliziert.“
Im Spiegel sehe ich, dass der Vater sein Kind in den Arm nimmt. Er streicht seiner Tochter durchs Haar und küsst sie auf die Stirn.
„Viele Menschen wissen nicht, was sie tun. Sie haben Angst und sind verwirrt und wütend. Wir sind alle Kinder Gottes, er liebt uns alle, so wie wir sind, mit all unseren Fehlern. In jedem Menschen steckt das Gute. Manche haben es nur noch nicht gefunden.“
„Ich finde das blöd von Gott…“, murmelt Susu und verschränkt die Arme. Ihr Blick trifft den meinen im Spiegel der Fensterscheibe. Wir schauen uns eine Weile an.
‚Gott ist tot‘, denke ich und lächle Susu an. Sie schaut schüchtern zu Boden. ‚Du wirst noch früh genug selbst dahinter kommen.‘
Dann, plötzlich, erwidert das Mädchen meinen Blick erneut und lächelt zurück. Es macht mich glücklich, dieses Lächeln und ich spüre, wie eine wohlige Wärme von meinem Herzen Besitz ergreift.
‚Eines Tages, aber nicht heute.‘, denke ich weiter. ‚Alles ist gut.‘
Die Türen gehen auf, Menschen steigen aus, Menschen steigen ein. Unter Ihnen ist ein Penner. Er torkelt ins Abteil, murmelt vor sich hin. Grunzend lehnt er sich an die gegenüberliegende Tür. Sein trüber Blick schweift durch den Waggon, bleibt kurz an jedem Fahrgast hängen. Sein Gesicht verrät unverhohlene Missgunst, Hass, Enttäuschung, Einsamkeit, Müdigkeit, Trauer. Seine Augen bleiben an einem jungen Südländer haften, der in sein Smartphone starrt, als wäre es das Tor in eine andere Dimension.
"Alles Egofucker!“, brüllt er plötzlich durch den Waggon. Es klingt wie das wütende Bellen eines misshandelten Hundes. „All´s Egoooofucker! Ihr miesen…“
„Warum schreit der Mann so?“, flüstert das Kind, sichtlich verängstigt, sich tiefer in die Umarmung des Vaters schmiegend.
„Der Mann ist betrunken, Susu. Tu so, als wär´ er nicht da.“
„EGOOOOOOFUCKERR!!!!“, schreit der Penner. Wir alle ignorieren sein Gebrüll. Starren, aus den Fenstern, durch Displays in fremde Dimensionen, schließen die Augen.
„Kuck´ eusch nur ma´ an hier, eine Paraaaade der Eitlkeitn… PACK! GESINDEL HEUCHLER IHR!! Meints ihr wärt was Bessres mit eurn Scheißspielsachen den Klamottn scheiße nochma´…“ Ein Rülpsen, ein Kratzen am Kopf und weiter geht’s: „Nuttn seid ihr alle! NUTTN!!!“
„Was ist ein Nuttn?“, flüstert das Kind, der Vater schüttelt den Kopf und macht: „Psst!“. Als lausche er einer Predigt, von der er kein Wort verpassen will.
„Lutsch Schwänze den ganzn Tag… und für was?! FÜR WAS?! Is doch nur Papier die Scheiße… Nur Papier und dafür verkauf´ ihr eure Scheißseeln, kauf euch diese Scheiße, damit ihr angebn könnt, zeign könnt, dass ihr wer seid hä? Scheiß Egohuren, wenn der Chef ruf´ kommt ihr angelaufn wie ´n dreckiger Köter, leckt ihm den Hintern und sagt ‚Bitte doch, gerne doch‘ ihr dummn Fucker ey, widerlich! Ihr widrt mich an!“
Das Programm geht weiter. Kratzen, Rülpsen, Murmeln. Dann lautes Lachen. Es ist ein verzerrtes Lachen. Ich frage mich, warum es mir so fremd vorkommt. Ihm scheint jegliche Scham zu fehlen. Ein befreites Lachen.
„Kannsu mal bitte, machsu mal bitte, FICK DICH MAL BITTE!!!“
Jetzt reicht es dem Vater. Er wendet in strengem Pastorenton das Wort an den Penner: „Jetzt hören Sie aber mal, es reicht!“
„JAAAAAA DUUUU!“, schreit der Penner und zeigt mit seinem schmutzigen, vergilbten Finger auf den Mann und seine Tochter in seinen Armen.
„Hübsches Ding hasse da. Hübsches Ding…“ Der Penner wird plötzlich ruhig. Er lächelt, seine Augen füllen sich mit Tränen. Die Türen gehen auf, Leute steigen aus, Leute steigen ein. Der Penner murmelt etwas vor sich hin und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann springt er ruckartig auf und flüchtet aus der Bahn in den Regen.
„Du hast gesagt, man soll nicht mit dem Mann reden.“, sagt das Kind.
„Er hat mir leid getan.“, antwortet der Vater.
„Ach so.“ antwortet das Kind, löst sich aus der Umarmung und starrt aus dem Fenster.
Es kehrt wieder Schweigen ein ins Abteil.
Für den Rest der Fahrt spricht niemand mehr ein Wort.

„Ich kann nicht schlafen.“, sage ich und stehe auf. Im Halbdunkel kann ich ihr Gesicht nicht erkennen, aber dennoch weiß ich, dass sie mich besorgt anschaut. Ich beuge mich zu ihr hinab und küsse sie auf die Stirn. „Mach´ dir keine Sorgen, Baby, alles ist gut. Schlaf weiter, ich komme gleich wieder.“
Sie nickt und murmelt etwas Unverständliches, dann wendet sie sich ab und schmiegt sich seufzend in die Laken. Ich verlasse das Schlafzimmer und schließe leise die Tür.
In der Küche nehme ich mir ein Bier aus dem Kühlschrank, öffne das Fenster und zünde mir eine Zigarette an. Es regnet noch immer in Strömen.
Ich denke an das Meer, den ewigen Horizont. Ich stelle mir vor, ich sei Kapitän eines einsamen kleinen Schiffes mitten auf dem schwarzen Ozean, umgeben von Wasser, kein Land in Sicht.
‚Das Problem sind die Erwartungen.‘, denke ich.
Und: ‚Wir sind zu viele, einfach zu viele auf diesem kleinen Planeten.‘
Und: ‚Es gibt keine Entscheidungsmöglichkeit. Alle Wege führen ans gleiche Ziel. Kein Gut oder Böse. Kein Gott, keine Freiheit. Determination. Eine Straße, unzählige Pilger, ein Abgrund und alle stürzen wir hinein, früher oder später.‘
Ich denke an noch vieles andere. Mickey Maus, Flüchtlingsunterkünfte, Sex im Weltraum usw. Dann ist das Bier leer, die Zigarette erloschen.
Ich gehe ins Bett und schließe die Augen.
„Du stinkst nach Bier.“, sagt sie.
„Ja.“, sage ich. „Tut mir Leid.“
„Alles ok?“, fragt sie.
„Ja, alles gut.“, sage ich. „Es ist nur…“
„Hm?“
„Ach, nichts weiter. Die Welt.“
„Ich weiß.“ Sie schmiegt sich an mich, ein Kuss, sie streicht mir durchs Haar. „Ich weiß…“
„Ich sollte mir eine neue Arbeit suchen.“, sage ich. „Irgendetwas ändern.“
„Mach das.“, sagt sie schlaftrunken. „Irgendwas Kreatives.“
„Hm.“
„Was dir Spaß macht.“
„Ja. Irgendwas was Spaß macht.“
Ich denke an mein Schiff im schwarzen Ozean. Die Einsamkeit auf dem Meer, die Spiegelung des Mondes in den sanften Wogen des Wassers. Der Regen wird schwächer, der Himmel nimmt Farbe an. Doch in meiner Kabine bin ich nicht allein. Gemeinsam treiben wir dem Horizont entgegen, Arm in Arm, alles Bekannte zurücklassend.
Plötzlich endet der Sturm und ein erster Sonnenstrahl dringt am Weltenrand hervor.
„Ich sollte mir ein Boot kaufen…“, murmele ich im Halbschlaf. „Für uns beide. Irgendwann…“
„Hm…“
Ich schlafe ein, meine Träume sind leer.

Donnerstag, 21. April 2016

Sollen die Bomben nur fallen


Ich muss Leistung bringen. Leistung bringen. Leisten.
Wer nichts leistet, ist nichts wert.
Nichts.

18:49 Uhr. Das Zeiterfassungssystem verbucht meine Zeit. Das schrille Piepsen läutet den Feierabend ein. Ich bin frei, denke ich. Die Fesseln lösen sich. Das Leben gehört wieder mir. Mein Körper gehört wieder mir. Meine Seele.
Für ein paar Stunden zumindest. Ein paar Augenblicke ohne jemand anderem zu gehören. Die freie Zeit ist rar, denke ich. Die Augenblicke sind kostbar, denke ich. Ich muss sie nutzen; sie ausquetschen, allen Saft. Nichts darf daneben gehen, dass Glas muss voll werden. Ich will nicht auf ein Leben zurückblicken, das nur aus Fesseln und halb gefüllten Gläsern bestanden hat.

Also los! Auf in die Freiheit!

Doch zunächst heißt es: Warten.
Warten auf den Aufzug, der auf jeder Etage hält. Es steigen graue Gesichter ein, alle frei und doch so müde. Leere überall, doch der Drang nach Leben ist noch nicht erloschen.
Warten auf den Bus, in dem die glasigen Blicke aneinander vorbeiziehen. Geister auf dem Weg ins Vakuum, dem luftleeren Raum zwischen den Ketten.
Warten auf die Bahn, die sich verspätet, wie jeden Tag. Wohin mit der Zeit?, denke ich. Sie rinnt mir zwischen den Fingern fort, entgleitet mir wie Sand im Wind. Die Haltestelle füllt sich mit meinesgleichen: getriebene Gespenster, rastlose Untote, die alles gegeben, alles geleistet haben.
Es dauert zu lang, denke ich. Ich muss etwas tun! Ich muss leben, muss etwas spüren, sonst ist es um mich geschehen. Die Reklame lockt. Die Farben, die mir versprechen: Es gibt das wahre Leben, es gibt all das, wonach du suchst! Komm und nimm es dir! Dafür die tägliche Schinderei, lass es dir gut gehen, belohne dich für deine Opferbereitschaft.

Ich folge den Farben, wähle meine Ware, genieße, wie sie mir kühl und prickelnd die Kehle hinab rinnt, mich erfüllt mit Leben. Das Grau verschwindet, das Übel der Welt ist weit, weit fort. Sollen die Bomben doch fallen, ich sehe sie nicht, höre sie nicht. Die Schreie des Elends, wo sind sie jetzt? Die Welt ist in Ordnung, hier und jetzt. Alles ist gut, hier und jetzt. Gespenster um mich herum, komm, lacht mit mir. Lebt eure Freiheit, haltet ihn fest, den Sand im Wind, denn er gehört euch, euch allein!
Die Bahn kommt endlich und bringt mich näher an mein Ziel. Ich folge dem Pfad der Farben, es ist nicht schwer, verloren zu gehen. Ich schließe die Augen, träume vor mich hin. Von Liebe, vom Lachen, von Musik und Leidenschaft.

Zu Hause angekommen schalte ich den Fernseher ein. Tod hier, Zerstörung da; man muss nur gewillt sein, sich Sekundenbruchteile der Wirklichkeit anzutun, bis man endlich einen Platz gefunden hat, an dem die Farben wieder zu leuchten beginnen. Ich bin der König und die Fernbedienung ist mein Zepter. Mein Wille geschehe.
Doch dann zerreißt etwas Unvorhergesehenes meinen Traum. Das Telefon, ein Jemand bittet den König um Audienz. Der König ist guter Dinge, er gewährt Einlass und hört zu.
Ach, das Leben sei so traurig und die Welt so schlecht, heißt es am anderen Ende der Leitung. Menschen sterben und der Tod sei ohne Sinn. Man trete auf der Stelle, sei unzufrieden mit diesem und jenem, zweifele an allem und jedem und vor allem an sich selbst. Man sei nicht gut genug für dies und nicht gut genug für das. Aber die anderen seien auch nicht besser. Und hinzukommen wieder die Bomben, die fallen, Tag für Tag. Wie soll man nur in einer solchen Welt sein Glück finden, wird gefragt.
Doch der König mimt nur den gewissenhaften Zuhörer. Seine Aufmerksamkeit ist längst entrückt im Tanz der Farben. Was kümmern ihn die Bomben, die fallen, Tag für Tag. Sie fallen nicht hier, nicht jetzt. Vielleicht fallen sie auch niemals und nirgendwo. Vielleicht sind sie nur eine Lüge, wie so vieles Lüge ist in dieser Welt.
Die Stimme wird leiser; der König ruhiger. Er lächelt, das digitale Flimmern entzückt seine schläfrigen Augen, die Farben erhellen seine geschundene Seele.
„Mach`s gut.“, höre ich mich sagen, lege den Hörer weg und lasse das Flimmern und Gleißen über mich ergehen.

Am Abend im Bett kann ich nicht schlafen. Das dumpfe Gefühl, sie nicht genutzt zu haben, die Zeit, die Freiheit, hält mich erneut wach, wie jede Nacht. Das Leben ist so traurig, denke ich, und die Welt so schlecht. Und ich meine, die Bomben wieder fallen zu hören, weit entfernt, doch ja, die dumpfen Einschläge sind nicht zu überhören.
Die Farben sind nur noch ein Glimmen, eine schwache Glut eines nie in Gänze entfachten Feuers.
Ich muss schlafen, muss leisten, muss bereit sein für die Ketten morgen. Muss schlafen, muss leisten, die Ketten morgen, die Ketten.
Ich schlafe ein und träume von Terror. Jetzt kann ich sie sehen, die Bomben, die fallen und alles vernichten. Und es hat etwas Tröstliches. Ich breite die Arme aus und starre in den von roten Wolken zerrissenen Himmel. Dann schließe ich die Augen und warte.
Warte darauf, dass mich die Bomben treffen und meine Ketten in Fetzen sprengen.