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Sonntag, 29. September 2013

Die Frau im blauen Kleid

"Das, was mich wirklich verfolgt, ist ihr Blick... ihr Lächeln, das Leuchten in ihren Augen, kurz bevor der Laster sie erfasst."
Der Mann am Schreibtisch schreibt etwas in seinen Notizblock. Er wartet geduldig, gibt seinem Patienten Zeit, um seine Gedanken zu sammeln. Der Patient atmet schnell. Als er wieder zu sprechen beginnt, zittert seine Stimme vor Schmerz:
"Ich muss immer daran denken, an was sie gedacht hat in diesem Moment. Jede Nacht erlebe ich diesen Tag von neuem, küsse sie ein letztes Mal, verabschiede mich von ihr, sehe ihr nach, wie sie in ihrem blauen Sommerkleid, das sie so geliebt hat, über die Straße zu ihrem Auto geht, sich noch einmal umdreht, mich anlächelt und..."
Der Patient kann seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Er weint und schluchzt, sein Atem ist unregelmäßig und erregt.
"Weinen Sie ruhig." Der Mann am Schreibtisch blickt den Patienten eindringlich an und wartet darauf, dass dieser sich wieder entspannt. "Es ist gut, Trauer zuzulassen."
"Ich will aber nicht mehr trauern, verdammt!" Der Patient ist verzweifelt, wütend, kompensiert den Verlust durch Aggression. "Ich will einfach nur wieder leben! Eine Nacht durchschlafen, ohne sie erneut zu verlieren! Ich halte das einfach nicht mehr lange aus! Ich kann nicht mehr, verstehen Sie? Ich will nichts mehr zulassen, ich will einfach nur vergessen!"
Der Mann am Schreibtisch nickt. Sonnenlicht spiegelt sich in seinen runden Brillengläsern.
"Ich will sie einfach nur vergessen... Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn wir uns niemals kennengelernt hätten... ich meine, wenn wir uns niemals verliebt hätten. Liebe ist eine grausame Last, wenn sie nicht erfüllt werden kann. Ich hasse die Liebe. Sie hat mir nichts als Schmerz und Einsamkeit gebracht."
Der Mann am Schreibtisch schlägt die Beine übereinander.
"Ich weiß, dass Sie mir helfen wollen... ich weiß, dass ich weiter an mir arbeiten muss und das alles... aber ich habe einfach nicht mehr die nötige Kraft dazu. Ich bin leer, verstehen Sie? Alles ist grau und bedeutungslos für mich da draußen. Nichts kann meine Liebe zu ihr... jemals ersetzen..."
Der Mann am Schreibtisch räuspert sich, bevor er mit ruhiger, gelassener Stimme erwidert: "Im Grunde geht es auch nicht darum, einen Ersatz für Ihre verstorbene Frau zu suchen, Herr Eidsvag. Sie verlangen zu viel von sich und dem Leben."
"Nein. Sie verstehen das nicht... Das Leben verlangt zu viel von mir."
Der Mann am Schreibtisch schüttelt den Kopf. "Das Leben verlangt überhaupt nichts von Ihnen, Herr Eidsvag. Das Leben ist das, was Sie daraus machen. Wir haben schon einmal darüber gesprochen, dass Sie versuchen müssen, die Zeit mit Ihrer verstorbenen Frau als etwas Gutes, eine Art Geschenk zu betrachten. Sie müssen lernen, die Vergangenheit als etwas Positives zu sehen, etwas, an dem Sie durch glückliche Fügung teilhatten und das jetzt hinter Ihnen liegt. Sie müssen nach vorne schauen, dann werden Sie auch die Schatten der Erinnerungen loswerden."
"Geben Sie mir einfach irgendwas, damit ich nicht mehr träume, Doktor. Irgendwas, ich flehe Sie an! Die Träume sind es, die mich fertig machen, nicht die Erinnerungen, die kann ich kontrollieren. Diese verfluchten Träume jede Nacht. Bitte, Doktor. Verschreiben Sie mir Valium."
Der Mann am Schreibtisch schüttelt den Kopf. "Nein, Herr Eidsvag. Dadurch erreichen wir gar nichts. Sie müssen sich ihren Ängsten stellen und sie überwinden, wenn Sie frei sein wollen."
Der Patient bricht erneut in Tränen aus. Er richtet sich auf und blickt den Mann am Schreibtisch mit erröteten, blutunterlaufenen Augen an. "Wenn Sie mir kein Valium verschreiben, werde ich mir einen anderen Psychiater suchen."
"Auch damit erreichen Sie nur das Gegenteil, Herr Eidsvag. Sie wissen das."
Der Patient schüttelt den Kopf. "Ich weiß gar nichts... Niemand tut das. Wir alle sind unwissende Narren... Jeder ist allein, wir alle haben unsere Vergangenheit. Es wird niemals aufhören. Es gibt nur diesen einen Ausweg. Existenz bedeutet Leiden. Das war schon immer so und ist es auch heute noch..."
Der Mann am Schreibtisch schreibt etwas in seinen Notizblock.

Drei Stunden und siebenundvierzig Minuten später. Der Patient, Herr Eidsvag, Aksel sitzt vor dem Fernseher und starrt in das flimmernde Chaos aus farbigen Pixeln. Er denkt nichts, er fühlt nichts, ist weder glücklich, noch traurig, weder einsam, noch verzweifelt. Er starrt einfach auf das sich ständig verändernde Farbenmeer und atmet, atmet, atmet. Dann, ohne besonderen Grund, stellt sich Schärfe in seinem Blick ein und er erkennt einen grauen Mann im Anzug vor einem blauen Hintergrund. Das Rauschen in Aksels Kopf formt sich zu Worten und er beginnt, deren Bedeutung in sich aufzunehmen:
"... geben kann. Gott ist nicht nur unser Schöpfer, er ist auch unser Freund. In den dunkelsten Stunden, wenn wir keine Hoffnung mehr sehen, ist er da, tief in uns, weit über uns, überall und hält uns in seinen schützenden Armen. Alles Übel in der Welt verblasst und wir sind eins mit dem göttlichen Klang. Shaaaaaaaaaaaaaa - shaaaaaaaaaaaaaa - spüren Sie die die Aura Gottes in ihrem Herzen? - shaaaaaaaaaa - shaaaaaaaaaaaaa - shaaaaaaaaaaaaaa..."
Aksel schaltet den Fernseher aus und verlässt das Wohnzimmer. Im Schlafzimmer betrachtet er das Bett. Eine Gänsehaut schleicht sich über seinen Rücken den Nacken hinauf bis an die Spitze seines Schädels. Er geht ins Bad, putzt sich die Zähne, zieht sich um, wäscht sich das Gesicht, betrachtet sich im Spiegel. Draußen beginnt es sanft zu regnen. Er schließt das Fenster, löscht das Licht, geht ins Schlafzimmer, legt sich ins Bett. Er gübelt noch eine Weile vor sich hin, versucht, nicht an sie zu denken. Er zwingt sich, an Belangloses zu denken. An den Supermarkt mit seinen vielen Regalen und der entspannenden Musik im Hintergrund. An sein Schlagzeug, die goldenen Becken, die dumpfe, stampfende Bassdrum und die leicht quietschende Fußmaschine, die er demnächst zur Reparatur bringen muss. Er denkt an Geld und Segelschiffe und an Wachsfiguren und Feuer. Er stellt sich vor, wie es sich anfühlt, zu verbrennen. Kein guter Gedanke, er denkt schnell wieder an etwas anderes. Er schaltet das Licht aus und konzentriert sich auf seine Atmung, wie es ihm sein Psychiater empfohlen hat. Kopf aus. Herz aus. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen... Ausatmen...
Schließlich schläft Aksel ein. Zunächst ist alles schwarz, doch nach circa einer Stunde beginnt er zu träumen.
Es ist der gleiche Traum wie jede Nacht.

Sonntag, 22. September 2013

Disney

Als ich jung war, liebte ich Disney. Ich rede von den Zeichentrickfilmen, die dem Konzern Jahrzehnte lang Erfolg und vor allem massenweise Asche eingebracht haben. Mir gefielen die detailliert gezeichneten Figuren, besonders die niederträchtigen, fiesen Charaktere wie Jafar, Shir-Khan oder Onkel Scar, aber auch mit den Protagonisten, wie Aladdin, Mogli oder Simba konnte ich mich identifizieren. Auch die spannenden Geschichten fesselten mich immer wieder aufs Neue vor den Bildschirm. Ich hatte alle Filme auf Videokassette, sah sie mir oft an, manchmal mehrmals hintereinander, weil ich einfach nicht genug davon bekommen konnte. Es war diese Mischung aus Spannung, Ästhetik, Witz und, ja, ich gebe es zu, Liebe, die mich wie viele andere meiner Zeitgenossen damals immer wieder in einen seltsam harmonischen Bann zog.
Okay, jetzt ist es ja raus, vor allem die verfickte Liebe hatte es mir angetan. Wenn ich heute noch an das Gefühl denke, als ich das erste Mal Jasmins makelloser Schönheit auf der Kinoleinwand gegenübersaß - kaum atmen konnte ich, so verliebt war ich in dies fiktive Produkt aus Tusche und Farbe – überfällt mich noch heute ein Schauer der Erhabenheit. Und wie sehr bebte mein Herz bei dem ersten Kuss, als Aladdin auf dem fliegenden Teppich stehend an ihrem Balkon zu ihr hinauf blickte und ihre im Mondschein silbern schimmernden, perfekt geschwungenen Lippen mit den seinen berührte. Oft habe ich von diesem Moment geträumt, nur waren es dann meine Lippen anstatt die des verlausten Straßenjungen und es war meine Jasmin, mein Mädchen, dass ich aus ganzem Herzen liebte und sie mich, da wir füreinander geschaffen waren.

Das erste wirkliche Mädchen, an das ich mein Herz verlor, hieß ebenfalls Jasmin. Sie war eine Schönheit, das schönste Mädchen aus der Klasse und zudem auch noch das beliebteste und geistreichste. Sie konnte bereits in der zweiten Klasse perfekt lesen, sie war natürlich, lustig, offenherzig und ehrlich. Ich träumte jede Nacht von ihr, wenn ich es denn endlich mal schaffte einzuschlafen bei all dem Trubel in meinem Herzen.
Ich war ein sehr schüchternes Kind mit viel Phantasie, aber großer Angst vor der Welt. Natürlich habe ich sie nie angesprochen oder ihr von meinen Gefühlen erzählt, weil ich Angst davor hatte, dass sie mich auslachen könnte. Vermutlich hätte sie es auch getan, ich war ein sehr unscheinbarer Klassenkamerad, zumindest bis ich in die Pubertät kam, aber das sollte noch viele Jahre dauern. In der Frühstückspause beobachtete ich sie aus der Ferne, wie sie Pausenbrot aß, sie mit ihren Freundinnen lachte, wie sie träumend aus dem Fenster starrte. Ich stellte mir vor, wie es wäre, ihre für mich so weit entfernten Lippen zu küssen, mit den Fingern durch ihr Haar zu streichen und ihr zu sagen, dass ich sie liebte. Es war berauschend und beängstigend zugleich.
Ich weiß nicht mehr wie und warum, aber eines Tages lud sie mich zu ihrem zehnten Geburtstag ein, das muss in der vierten Klasse gewesen sein. Ich konnte kaum atmen bei dem Gedanken, in ihre Wohnung zu kommen, ihre Welt zu sehen, ihre Spielsachen, ihre Eltern, ihr Bett, wo sie jede Nacht schlief, während ich von ihr träumte. An den Geburtstag selbst erinnere ich mich nur schwach, sie hatte keinen Vater, jedenfalls keinen sichtbaren. Ihre Mutter war nett, es gab Kuchen und Schokolade und ihr Zimmer war sehr ordentlich. Wir haben alle Flaschendrehen gespielt und ich weigerte mich zunächst mitzuspielen, weil ich die anderen nicht dabei haben wollte. Ich wollte mit Jasmin alleine spielen. Was wenn die Flasche auf mich zeigte und ich sie küssen musste, vor aller Augen? Das hätte alles zerstört, was mir in meiner Liebe zu ihr heilig gewesen war. Ich ließ mich überreden, weil ich nicht als Spielverderber da stehen wollte, aber es kam weder zu irgendeinem Kuss noch zu sonst einer Peinlichkeit.
Dann ist da eine Erinnerung, in der ich sie zusammen mit Pocahontas, ihrer besten Freundin im Krankenhaus besuche. Wie ist es nur dazu gekommen? Warum war nur ich mit dabei und niemand sonst? Ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich, wie sie in den weißen Laken gelegen hatte, müde, doch lächelnd und sie schien dabei wie ein Engel zu leuchten. Sie bedankte sich bei mir, dass ich vorbei gekommen war und ich brachte kein Wort heraus, lächelte nur wie ein vollkommener Idiot.
Ich weiß nicht, was aus meiner Jasmin geworden ist. Ich wage es nicht, sie zu googlen oder sie im unendlichen sozialen Netz des Facebook-Imperiums aufzustöbern. Was würde das auch bringen, außer mir noch mehr meiner ohnehin schon zerrütteten Illusionen zu nehmen? Vermutlich ist sie mit irgendeinem Vollidioten zusammen, hat mit ihm zwei Kinder gezeugt, die ihre schönen Augen, aber den schiefen Blick und das harte Kinn ihres Gatten abbekommen haben und strahlt auf jedem Foto überglücklich in die Kamera, als wäre es all das, worauf sie ihr ganzes Leben lang gewartet hat. Vielleicht ist es ja auch genau das gewesen all die Jahre, was weiß ich denn schon?
Nein, ich lasse mir meine Illusionen. Für mich war die Liebe zu Jasmin die reinste und unschuldigste Empfindung, zu der ein Mensch in seinem Leben fähig sein kann und ich bin stolz, sie erlebt zu haben und sie weder durch verfrühte Ehrlichkeit noch gespielte Selbstsicherheit zerstört zu haben.
Als die Grundschule beendet war und sich der gemeinsame Lebensweg der einstmals ach so innigen Klassengemeinschaft in viele einzelne Ströme aufteilte, geschah erst mal gar nichts in meinem Herzen. Zu viele neue Eindrücke prasselten auf mich nieder, zu viele neue Gesichter drangen in mein Leben und verwirrten meine Sicht auf das Wesentliche. Ich konzentrierte mich auf die Schule, versuchte, den Erwartungen meiner Eltern gerecht zu werden und meine wenigen, doch langjährigen Freundschaften zu vertiefen. Erst viele Jahre später meldete sich das Gefühl der Liebe wieder, doch diesmal sollte ich weit mehr mit ihm anzufangen wissen.

Es war in der siebten, vielleicht Anfang der achten Klasse, ich muss wohl dreizehn Jahre alt gewesen sein, als mich die Weiblichkeit in all ihren Facetten erstmals dazu brachte, aus meinem Traumgefängnis auszubrechen und Kontakt mit der fremden Spezies aufzunehmen. Es war einfacher, als ich gedacht hatte, schnell knüpfte ich weibliche Bekanntschaften und wurde zu einem festen Bestandteil der internen Klassenclique. Ich hatte sogar eine beste Freundin, Arielle, wir hatten einen guten Draht zueinander, sie vertraute mir sehr viel an, private Dinge, die mich meist in ihrer Intensität überraschten, die ich jedoch vollkommen nachvollziehen konnte. Wir erzählten uns alles, schrieben uns Nachrichten in einem Buch, dass nur für uns bestimmt war und lernten uns mehr und mehr kennen. Sie war wie eine Schwester für mich und ich wie ein Bruder für sie, und doch liebte ich sie von Beginn an, wie kein Bruder seine Schwester lieben kann. Doch ich gestand es mir nicht ein, war ohnehin zu jung, um meine Gedanken und Gefühle ordnen und verstehen zu können.
Ich verliebte mich in Anastasia, ein süßes Mädchen aus der Klasse, mit dem ich allerdings zuvor kaum ein Wort gewechselt hatte. Es war einfach eine unschuldige Anziehung, die sie auf mich ausübte und ich fühlte mich wieder wie damals in der Grundschule mit Jasmin, wenn ich sie während des gähnend langweiligen Erdkundeunterrichts beobachtete und von ihrer süßen Teilnahmslosigkeit und dem Glitzern in ihren Augen eingenommen war. Auf der ersten Klassenfahrt war es dann soweit. Ich nahm all meinen Mut zusammen und vollbrachte einen vollkommen emotionslosen, uninspirierten Annäherungsversuch, indem ich sie während eines Ausflugs fragte, ob sie nicht mit mir gehen wolle. Kein fliegender Teppich, keine schnulzige Musik. Nur eine nichtssagende Frage und eine überraschende Antwort, denn sie willigte tatsächlich ein. Unsere „Beziehung“ dauerte genau eine Woche. Mit der Rückfahrt in die Heimat sollte bereits alles vorbei sein. Wir hatten uns einfach nichts zu sagen.
Doch vorher ereignete sich ein für mich sehr einschneidendes Erlebnis. Es war der Abend nach besagtem „Liebesgelübde“, ich hatte mich in ihr Zimmer und gleichsam in ihr Bett gestohlen, ungeachtet der prüfenden Blicke der Lehrer. Es war dunkel und wir lagen uns in den Armen. Ich konnte ihren Herzschlag spüren, sie duftete nach Shampoo und ihre Haut war weich wie Samt. Wir sprachen kein Wort, unsere Lippen näherten sich einander, sie schmeckte wie sie roch, frisch und rein und doch war da etwas Wildes in unserer Begegnung, meine Hand strich über ihre Taille, ihre nackten, seidenweichen Beine und in mir erwachte ein plötzliches Feuer.
Ich denke noch heute oft an diesen ersten Kuss zurück. Er war ganz anders gewesen als die vielen Küsse in meinen Träumen zuvor, vor allem hatte er nichts mit den Küssen in den Disney-Filmen gemein. Als meine Lippen auf die Anastasias trafen, sich unsere Zungen umkreisten und ihr Speichel sich mit meinem vermischte, da tobte Begierde in mir. Ich wollte eins sein mit diesem fremden weiblichen Körper, wollte noch mehr Nähe, noch mehr Wärme spüren. Das war neu, das war fremd, das war so ganz und gar nicht disney. Doch bis sich meine aufgeflammte Begierde in eine entsprechende Handlung fließen konnte, sollten wieder ein paar Jahre vergehen.

Nach dem ersten Abenteuer mit Anastasia folgten einige unbedeutende Verbindungen, die jedoch auf ähnliche Weise das Feuer meiner Lenden schürten und meinem Herzen den Wind zum Auftrieb gaben. Der feuchte Kuss mit Mulan auf einem Turm aus Heuballen irgendwo in der Steppe außerhalb der Stadt, Belle, die mir während eines DVD-Abends mit Freunden aus der Clique unbemerkt von den anderen meinen lüsternen Zauberstab der Glückseligkeit massierte, Esmeralda, die mich während einer Übernachtung bei Freunden mit den Fingern in ihren Körper eindringen ließ. An all diesen Verbindungen hängt noch heute mein Herz, doch von Liebe kann hier nur in einer sehr abwandelten Form die Rede sein.
Liebe, so wie sie in den Disney-Filmen vorkommt, verspürte ich immer nur zum Unerreichbaren, denn alles, was sich unmittelbar in der Nähe meiner Lenden abspielte, wurde augenblicklich durch das Feuer der Begierde zu einem Haufen Asche verbrannt. Meine sogenannte Schwester Arielle kam mit einem guten Freund von mir zusammen und heulte mir daraufhin Abend für Abend vor, wie schlecht er sie doch behandle und wie sehr sie sich nach wahrer Liebe sehne und wie wenig er ihr doch davon geben könne und so weiter. Und doch liebte sie ihn, schlief mit ihm, vergötterte ihn und mir wurde von Tag zu Tag bewusst, dass ich sie liebte, nicht wie ein Bruder, sondern wie ein Freund, der ihre innersten Gedanken und Wünsche kannte. Sie war mir als Mensch so nah, wie noch nie ein anderer zuvor. Und doch war sie mir fern, wenn sie von ihrer Beziehung zu ihrem Freund, der auch mein Freund war, sprach. Ich hatte es eines Tages so satt, wollte ihr sagen, dass ich sie liebte, immer geliebt hatte und ich Freund anstatt Bruder ihr sein wollte, doch es kam alles anders und ich verdarb meine Chance. Wir entfremdeten uns und als auch die Zeit der Realschule abgelaufen war und sich wieder alle Bekannt- und Freundschaften in alle Windrichtungen verstreut hatten, waren wir weder Bruder und Schwester, noch Geliebter und Geliebte. Wir wurden wieder zu Fremden und sind es bis heute geblieben.

Bis zu meiner ersten tatsächlichen und erfüllten Liebe dauerte es daraufhin wieder seine Zeit. Zeit, in der ich mich auf mich selbst konzentrierte. Mein flammendes Schwert der Leidenschaft lechzte zwar nach Nähe und weiblicher Zuneigung, doch musste es über weite Strecken hungern, denn ich ließ eine um die andere Gelegenheit aus, da ich mich nicht wieder in Begegnungen ohne meine angestrebte wahre Disneyliebe verlieren wollte. So ganz gelang mir das natürlich nicht, einige Versuchungen waren zu groß, so kam ich eines Tages beispielsweise mit der Schwester eines Freundes zusammen, Cindarella, und verbrachte einige Wochen mit ihr in ihrem Bett. Wir hatten uns tatsächlich rein gar nichts zu sagen, aber es bereitete uns beiden Freude, unsere Körper und vor allem unsere vor Hitze pulsierenden, allerdings stets in Unterwäsche verpackten Geschlechtsteile aneinander zu reiben. In sie eindringen durfte ich nicht, also blieb es bei der faden, angezogenen Reiberei, die verständlicherweise nach kurzer Zeit reizlos wirkte und letztlich zum Zusammenbruch der Verbindung führte.
Ich hinterging einen Bekannten aus meiner damaligen Clique mit seiner Freundin, wir küssten uns heimlich hinter seinem Rücken und taten verbotene Dinge, kurz nachdem er sich von ihrer Wohnung auf den Heimweg gemacht hatte. Es war aufregend, etwas Schlechtes, Hinterhältiges zu tun, doch ich hatte auch Mitleid mit ihm. Die Verbindung hielt nur ein paar Wochen. Es war nichts ernstes, vielmehr stand die Gefahr, entdeckt zu werden im Mittelpunkt und spendete Reiz und das Gefühl, Teil eines Abenteuers zu sein.
Dann, ich war bereits seit längerem aus der Schule, hatte einen vernünftigen Abschluss und eine Ausbildung in Aussicht, lernte ich sie kennen. Das Mädchen. Meine wahre Jasmin, jedenfalls glaubte ich lange Zeit, dass sie es sei. Es war Liebe auf den ersten Blick, zumindest bei mir. Sie war ein schüchternes, jedoch sehr hübsches Mädchen mit langen, dichten, schwarzen Haaren. Sie war so unscheinbar, doch wenn man sie einmal entdeckt hatte, konnte man seinen Blick nicht mehr von ihrer natürlichen Schönheit lösen. Jedenfalls ging es mir so, ich war so verliebt in sie, dass ich all meine Zurückhaltung und Schüchternheit vergaß. Ich musste sie haben, koste es, was es wolle. Ich wollte eher untergehen, als wieder einmal eine Chance auf die wahre Liebe zu verpassen. Sie hatte Angst vor einer Beziehung, hatte Bedenken, dachte generell sehr viel über alles nach und träumte wie ich von der einzig wahren, vorbestimmten Liebe – auch sie hatte Disneyfilme auf zahlreichen Videokassetten.
Wir kamen schließlich zusammen und es waren die schönsten und intensivsten Jahre meines bisherigen Lebens. Wir hatten sehr unterschiedliche Interessen, aber wenn wir zusammen waren, schien die Zeit still zu stehen und die Welt drehte sich nur um uns. Wir lachten viel und genossen gemeinsam das Leben. Nach einigen Monaten sagte sie mir, dass sie mich mehr möge, als irgendwen sonst, dass sie mich liebe und ich ihr wichtiger sei, als sie sich selbst. Ich bestätigte dies und sagte ihr, dass auch ich sie liebe und für immer bei ihr sein wolle. Kurz darauf schliefen wir miteinander. Es war das erste Mal für uns beide. Ich hatte sehr große Angst, sie zu verletzen, es war ganz anders als die Male zuvor, wo nur wilde Leidenschaft regiert hatte und mir die Person an sich wenig bedeutet hatte. Diesmal war da etwas, dass die Sache zu etwas Besonderem machte. Als ich in ihr war, konnte ich kaum glauben, wie einfach es war. Ich dachte, wie gut die Menschen doch gebaut waren, dass sie auf so eigentümliche Weise ineinander passen. Ich küsste mein Mädchen überall, hatte nie zuvor solches Glück verspürt, ihr Körper vibrierte, sie atmete schnell, ihre Wangen waren ganz rot. Als ich kam, küsste ich sie auf die Stirn und sagte ihr, dass ich sie liebe. Ich liebe dich auch, sagte sie mit bebender Stimme. Das war mein erster, wahrer Disney-Moment auch wenn er mit den Filmen wieder einmal wenig gemein hatte.
Wir machten Ausflüge, fuhren gemeinsam in den Urlaub. Wir entdeckten einen geheimen Strand hinter Bergen, den niemand kannte und an dem es menschenleer war. Die Sonne schien und wir schwammen im Meer, der Himmel war blau und sie lächelte mich an. Wir küssten uns, ich zog sie aus, sie mich, wir liebten uns in den Wogen der Wellen, die Strahlen der untergehenden Sonne hüllten uns in ihren goldroten Glanz.
Doch mit den Jahren veränderte sich unsere Beziehung. Wir gewöhnten uns aneinander so sehr, dass wir uns langweilten. Wir schliefen seltener miteinander, es war ohnehin immer dasselbe. Wir sprachen weniger miteinander, unternahmen kaum noch etwas zusammen. Es war klar, dass es auf eine große Veränderung zuging, doch als sie es eines Tages ansprach, das Verdrängte in hörbare Worte fasste, da wurde mir kalt ums Herz und mir wurde klar, wie sehr ich sie brauchte und wie wenig ich ohne sie mit meinem Leben anzufangen wüsste. Die ersten Wochen ohne sie waren die schlimmsten meines Lebens, ich nahm zehn Kilo ab, schlief kaum, weinte stundenlang nachdem ich Feierabend hatte und verfluchte das Leben, weil es die Liebe erschaffen hatte.
Wir kamen zwar noch einmal zusammen, sie stand nach zwei Monaten der Trennung mit einer Rose vor meiner Tür und sagte, dass es ihr Leid tue und sie mich liebe und mit mir zusammen sein wolle. Disney! dachte ich. Doch es war nur ein leises Aufblühen eines bereits verschneiten Frühlings gewesen. Nach weiteren vier Monaten des Streits und der Tränen war es endgültig vorbei. Alle Worte waren verschwendet, alle Wärme erloschen. Wir haben uns seit unserem Abschied nicht mehr wieder gesehen. Ich wollte es so, denn es hätte den Schmerz nur noch unerträglicher gemacht.
Nach dieser Zeit konnte ich nicht mehr lieben. Alles schien wie eine farblose Kopie der Vergangenheit, ich habe in den folgenden Beziehungen nicht nur meine eigenen Hoffnungen zerstört und mir wurde von Tag zu Tag mehr bewusst, wie allein die Menschen selbst in ihren Beziehungen sind.

Ich habe es aufgegeben, an die Disney-Liebe zu glauben. Wirkliche, tatsächliche Liebe ist kompliziert, schwer zu finden und noch schwerer aufrechtzuerhalten. Im richtigen Leben gibt es keine Musik, keine Happy-Ends und vor allem keinen Abspann. Nach dem ersten Kuss ist der Film nicht vorbei, da fängt die Story erst richtig an. Alles verändert sich früher oder später. Nichts ist für die Ewigkeit, vor allem nicht in der Liebe. Die Disney-Liebe ist wie so vieles im Leben eine Illusion, bunt und leicht zu verdauen, aber nicht mehr als bloße menschliche Fiktion, ein Wunschtraum, der nie in Erfüllung gehen wird. Jasmin ist eine Lüge genauso wie der fliegende Teppich. In meiner Welt hat sich noch nie ein Teppich in die Lüfte erhoben. Ich führe Beziehungen, teile mein Herz und meinen Körper ohne Ziel, immer auf der Suche nach dem verlorenen Glück, von dem ich einst kosten durfte und das mich seither verfolgt wie ein zweiter Schatten.
Es gibt kein Zurück. Es gab nie eine sichere Zuflucht.
Was bleibt ist der Wunsch nach mehr, der uns stetig und überallhin folgt. Doch es wird nie mehr geben. Der Schlüssel zum Glück liegt darin, das Leben als inkonsistentes Stückwerk aus Schönheit und Grausamkeit anzunehmen und sich an den vielen Dingen zu erfreuen, die wir als selbstverständlich erachten, Tag für Tag. Wir atmen, wir existieren, wir lieben. Zwar nicht so, wie die bunten Fiktionen aus dem Disney-Universum, aber eben doch auf eine ähnliche Weise.
Das Leben ist gut, so wie es ist – ein gigantischer Scherbenhaufen, in dem jeder nach den Splittern seiner Seele sucht. Manchmal lässt sich jemand finden, der einem bei der Suche hilft, für kurze Zeit. Doch am Ende stehen wir alleine vor unserem gläsernen Abbild und fragen uns, ob das schon alles gewesen ist. Wir fragen uns, wo der Abspann bleibt, wo das Happy-End, wo der Sinn, der rote Faden, das Drehbuch, die Moral der Geschichte. Aber es gibt keinen Abspann, kein Happy-End. Selbst das Bildnis unserer Seele, an dem wir so viele Jahre gearbeitet haben, wird vergehen, der Strom der Zeit muss fließen. Existenz ist eine unendliche Geschichte ohne Moral und Sinn.
Ein realistischer Disney-Film über Liebe – das wäre mal was!
Ich würde ihn mir ansehen.