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Dienstag, 11. April 2017

Der Beobachter

Ich scheine bei all dem Trubel, der im Universum herrscht, vollständig zum Stillstand gekommen zu sein. Ein Planet ohne Umlaufbahn, ohne Vergangenheit und Zukunft.
Alles ist in Bewegung, doch meine Seele rührt sich nicht mehr vom Fleck. Sie schaut nur noch zu. Weder fragend, noch auf andere Weise an den Dingen interessiert.
Ich bin der Beobachter, dem alles gleichgültig ist.

Ich beobachte mich, wie ich mich morgens aus dem Bett quäle, unter der Dusche stehe, mich anziehe, in der überfüllten Bahn stehe zwischen lauter leeren Gefäßen. So leer wie ich, wie alles in diesem verfluchten Kosmos ohne Sinn.
Beobachte mich, wie ich mit Kollegen spreche, von diesem und jenem berichte, beobachte wie die Anderen das Gleiche tun, nicken, reden, zuhören oder zumindest so tun als ob.
Abends dann schließt sich der Kreis. Ich beobachte mich wie ich die Stempelkarte über den Sensor ziehe, den Schalter für den Aufzug betätige, in Bahnen steige, die mit Marionetten gefüllt sind. Ich schaue an mir empor und erblicke die Fäden. Die Fäden, an denen wir alle hängen, die ins Leere führen, bis der Puppenspieler sie durchtrennt und uns leblos zu Boden fallen lässt.

An einem der vielen gleichförmigen Tage meiner Existenz beobachte ich ein eigenartiges Schauspiel. Ich stehe an einer Ampel, sie ist rot und die Marionetten warten. Auf der anderen Seite kommt ein Mädchen heran. Sie starrt auf ihr Smartphone. Sie lächelt. Die Marionetten starren ins Leere oder selbst auf ihre Smartphones, um die Zeit des Wartens zu überbrücken. Niemand scheint das Mädchen zu beachten.
Ich weiß, was geschehen wird. Es wird ihr Ende sein. Eine kleine Unachtsamkeit und schon ist es entschieden. Ich könnte Sie warnen, Sie wachrütteln, sagen: "Hey, die Straße, pass auf!". Doch ich sage nichts. Ich warne nicht. Ich stehe nur still da und frage mich, ob das alles ein Traum ist.
Das Mädchen lächelt noch immer, dann ertönt der Lärm, das Gehupe, die Menschen schauen auf, das Mädchen schreit, dann wird es vom Wagen erfasst und durch die Luft geschleudert. Ihr Smartphone gleitet ihr aus der Hand, es fliegt in einem hohen Bogen über die Menschen hinweg. Die Menschen machen "Oh" und "Ah", dann wird es grün und ich beobachte, wie ich mich über die Straße zur Bahnhaltestelle begebe. Die Menschen schauen zu, wie der Fahrer des Wagens aussteigt und der Blutspur folgt, die das Mädchen auf dem Asphalt hinterlassen hat. Sie ist nur noch ein verdrehter Haufen Fleisch und Knochen in einer roten Lache. Sie lächelt nicht mehr.
An diesem Tag zeigt die Stempeluhr 9:04 Uhr an. Ich bin 4 Minuten zu spät. Es kümmert mich nicht.

An einem anderen Tag beobachte ich, wie ich eine Frau küsse. Eng umschlungen auf einer Tanzfläche, die Nebelmaschine läuft auf Hochtouren, der Bass dröhnt durch Körper und Geist. Der Kuss dauert nicht lang, vielleicht eine halbe Minute. Ich beobachte, wie ich der Frau durchs Haar streiche. Wir beide lächeln. Die Musik zirkuliert weiter. Wir tanzen. Dann verschwindet die Frau. Ich sitze in der Bahn, geleitet vom Rausch. Zu Hause falle ich ins Bett. Schlafe. Ein neuer Tag. Ein neuer Tag. Immer wieder ein neuer Tag, bis der Faden reißt.

An einem anderen Tag beobachte ich, wie ich jemandem die Hand schüttele. Alle tragen schwarz und sehen bekümmert aus. Eine Urne wird in ein großes Loch in der Erde hinabgelassen. Ein Mensch sagt etwas. Es klingt hohl, wie auswendig gelernt. Dann gehen alle in ein Restaurant und essen Schnitzel.
Abends gehe ich mit einem der Gäste in eine Schänke. Wir trinken Bier, der Andere wird wütend, schreit herum. Dann geht er und lässt mich die Rechnung zahlen. Ich bestelle noch ein Bier und leere es in einem Zug. Ich schaue auf die Uhr. Noch 6 Stunden bis der Wecker klingelt.

An einem der letzten Tage beobachte ich, wie ich in einem Sessel sitze. Ich bin alt und der Sabber läuft mir aus dem Mundwinkel. Ich starre in einen Fernseher hinein. Der Fernseher sagt: "Hören Sie auf zu zweifeln und leben Sie jetzt ihr Leben! Überzeugen Sie sich von der Supersaugkraft des Turbo-Cleaners und Sie haben endlich wieder Zeit für Freunde und Familie!"
Ich stöhne und sabbere und schmatze vor mich hin. Dann kommt ein Pfleger und schaltet den Fernseher aus. Er schaut auf die Uhr. Noch eine Stunde bis Feierabend.

So ziehen die Planeten ihre Kreise. Doch ich bleibe still und rühre mich nicht. Ich bin der Beobachter, dem alles gleichgültig ist.
Ich schaue zu und warte auf das Ende.