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Donnerstag, 14. August 2014

Mord ist mein Hobby

Tagsüber verkaufe ich Versicherungen, in der Nacht töte ich Menschen.
Anfangs erschienen mir diese beiden Welten konträr und unvereinbar, doch mit der Zeit stellte ich fest, dass sich der Tag nicht besonders von der Nacht unterscheidet.
Das Leben besteht aus Handlungen, Aktionen. Wir gleiten durch den Kosmos, von einem Ort zum anderen, bringen Bewegung in die Stasis des Universums, ohne zu wissen, warum und was all dieses Handeln letztendlich bezwecken soll. Wir tun einfach, was wir für richtig, sinnvoll, bedeutend erachten, denn nichts zu tun, nichts zu sein, das erscheint uns widernatürlich, sinnlos und falsch.
Falsch, richtig...
Auf die Frage, warum ich Menschen töte muss ich mit einer Gegenfrage antworten. Warum verkaufe ich Versicherungen? Um zu leben, wird man mir entgegnen, denn Versicherungen bedeuten Geld und Geld ist Leben. Aber um Geld geht es hier nicht. Auch für das Morden bekäme ich Geld, wenn ich es innerhalb eines Gewerbes ausführen würde, aber ich morde nicht für Geld. Es ist vollkommen gleich, ob ich für das Verkaufen von Versicherungsverträgen oder für die Elimination von Individuen auf Provisionsbasis bezahlt werde. Ich könnte natürlich für beide Tätigkeiten Geld verlangen und doppelt absahnen, aber bedeutet mehr Geld auch gleichzeitig mehr Leben?
Ich brauche nicht mehr Geld. Ich habe Geld genug.
An dieser Stelle würde mir wohl spätestens das Argument der Moral begegnen. Versicherungen sind gut, das Morden ist schlecht; Leben ist gut, der Tod ist schlecht usw... Schön, befassen wir uns mit der Moral. Aber nur kurz, denn dies Thema ist mir höchst zuwider, weil es immer und jedes Mal ins Leere führt. Ich glaube nicht an die Theorie, dass jedem Menschen eine ihm angeborene Moralität inne ist. Moral ist ein Produkt. Sie wird von Menschen gemacht, nicht durch die Geburt erworben.
Eine Moral ist immer ein Abkommen, das gewisse Prämissen als gegeben annehmen muss, um Bestand zu haben. Wir leben in einem sozialen Gefüge, einer sogenannten Gesellschaft. Deshalb beschließen wir, dass alles, was jener Gesellschaft Vorteile oder Annehmlichkeiten verschafft, gut und alles, was der Gemeinschaft schadet, schlecht ist. Ich bin ein guter Mensch, wenn meine Handlungen nicht nur gut für mich selbst, sondern für alle anderen Mitglieder meiner Gesellschaft gut sind.
Das ist absurd.
Was bringt es meiner Gesellschaft, wenn ich imaginäre Sicherheit in Form von Verträgen verkaufe, um ein Unternehmen reich zu machen und Papier zu erhalten, mit dem ich meine Rechnungen bezahlen kann. Ist es da nicht viel sinnvoller, die Bevölkerungsdichte durch ein paar gut strukturierte Morde zu verkleinern und dadurch den Divisor, der all unseren wunderschönen Reichtum in kleine Fetzen aufteilt, zu minimieren? Wäre es moralisch nicht ratsamer, dass ein jeder Bürger hin und wieder zur Waffe greift und seinen Nächsten richtet?
Nicht, dass mir daran etwas gelegen wäre. Es ist mir gleich, was die Anderen tun.
Ich lebe, ich handle, ich werde vergehen und alles vergessen, so wie die Welt mich vergessen wird, das Universum die Welt, usw. und so fort.
Es gibt kein Gut oder Böse, Richtig oder Falsch.
Es gibt nur Handlungen, Aktionen. Materie, die auf Materie einwirkt. Materie, die vergeht; Materie, die neu entsteht.
Der Mensch unterliegt dem Drang, die Welt in seine Muster zu pressen. Dabei scheitert er immer wieder aufs Neue und merkt es nicht einmal. Stattdessen lebt er eine Lüge und fragt sich, warum er unglücklich ist.
 
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Nacht.
Es ist jetzt 23:49 Uhr. Zeit, ein Leben zu beenden. Ich ziehe meinen Mantel über und verlasse meine Wohnung. Ich lasse mich treiben, kein Ziel, keine Wünsche.
Ich bringe Bewegung in die Stasis des Universums.
Materie bewegt Materie bewegt Materie bewegt Materie.

Ich wähle meine Opfer ohne Bedacht. Es spielt keine Rolle, wen ich eliminiere. Es geht mir nicht um Motive, Persönlichkeiten oder dergleichen. Manchmal macht es mir sogar überhaupt keinen Spaß, dann stelle ich mir vor wie schön es wäre, einfach vor dem Fernseher auf der gemütlichen Couch zu liegen und mich vom flimmernden Nonsens in den Schlaf wiegen zu lassen. Und trotzdem: Irgendetwas zieht mich jede Nacht hinaus ins Dunkel, dem Tod entgegen, der nicht mein eigener ist.
Diese Nacht wird es den jungen Mann treffen, der mir gerade gegenübersitzt. Er starrt gedankenverloren aus dem zerkratzten Fenster der Straßenbahn, wir sind die einzigen Fahrgäste im vorderen Wagen. Als ich mich vor wenigen Minuten zu ihm gesetzt habe, haben sich unsere Blicke für den Bruchteil einer Sekunde getroffen. Seine müden Augen müssen das Blitzen in den meinen  gesehen haben, doch vermutlich erschien ihm dieses Detail nicht relevant; es ließ ihn weder in Sorge noch in Unruhe verfallen.
Ich starre ihn seitdem an, unmerklich lächelnd, präge mir jedes Detail seines Gesichts ein, um mich später an den Ausdruck der Angst erinnern zu können, den es unweigerlich annehmen wird, kurz bevor ich ihn über den Styx in die Unterwelt schicke.
Wie ich diesen Kontrast liebe! Diese geheuchelte Kontrolle, die all die müden Gesichter durchfließt, das in Stein gemeißelte Nichts, mit dem sich alle Menschen schmücken, sobald sie ihr Haus verlassen; die kalte, nichtssagende Maske, von der sie glauben, dass sie ihr Innerstes vor all den bösen Blicken schützt, vor jedem Angriff auf ihre ach so empfindliche Privatsphäre. Und dann, plötzlich, das absolute Grauen, die nackte Angst, wenn sie ihres letzten Atemzugs gewahr werden, die Panik, wenn das Unabwendbare sich über sie neigt, wie ein schwarzer, blutschwerer Schleier.
Kontrolle ist nur eine Illusion. Nicht mehr als eine durch Gewohnheit und Ignoranz geformte Lüge.
Der junge Mann bemerkt nun endlich mein Interesse. Wieder kreuzen sich unsere Blicke. Jetzt wird er doch ein wenig unruhig, er weicht aus und starrt wieder aus dem Fenster, aber diesmal spüre ich, dass er mich im Augenwinkel mustert. Er überlegt, ob er sich auf einen anderen Platz setzen soll, aber er verwirft diese Idee, das wäre zu auffällig, er würde die Konfrontation geradezu heraufbeschwören. Ich spüre, dass er noch eine gute Strecke zu fahren hat, aussteigen ist also auch keine Option, die nächste Bahn in diese Richtung kommt erst in einer Stunde und wir sind hier mitten im Nirgendwo.
Ein Ruck geht plötzlich durch seinen Körper, ich kann seinen Entschluss bereits Meilen weit im Voraus erkennen. Er holt tief Luft. All seine Muskeln spannen sich an, er ballt seine rechte Hand zur Faust. Dann, ganz langsam, wendet er sich zu mir und versucht sich an einem selbstbewussten Blick, doch das Flackern in den Tiefen seiner hellblauen Augen verrät ihn.
"Kann ich Ihnen irgendwie helfen?", fragt er mit fahler Bestimmtheit in seiner jungenhaften Stimme.
Mein Lächeln erstirbt augenblicklich und mit ihm auch die fragile Selbstsicherheit meines Gegenübers.
"Ich... Ich meine...", stottert das Männlein. "Sie starren mich die ganze Zeit an, als wollten Sie was von mir." Er weicht meinem Blick aus, dann zwingt er sich, mir in die Augen zu schauen. Seine Hände schwitzen, seine Stimme zittert. Er zupft an einem Knopf seines verwaschenen Hemdes. Der Knopf wird bald abfallen. Er hängt nur noch ein einem dünnen Faden. "Ich... ach, vergessen Sie´s." Er steht auf und setzt sich in eine Vierergruppe am anderen Ende des Wagens.
Ich schaue aus dem Fenster und blicke meinem fahlen Abbild in die Augen. Ich lächle wieder. Heute Nacht habe ich Spaß an meinem kleinen Hobby.
Materie bewegt Materie bewegt Materie...

Natürlich folge ich dem Mann, als er aussteigt. Wir scheinen die einzigen Menschen zu sein in dieser eisigen Winternacht. Ich halte mühelos mit ihm Schritt, obwohl er sich größte Mühe gibt, mich abzuschütteln. Als wir in eine Seitenstraße einbiegen bleibt er plötzlich stehen, dreht sich um und starrt mich finster an. Ich bleibe ebenfalls stehen und inhaliere seine Angst.
"Was wollen Sie?", ruft er mir mit zitternder Stimme entgegen. "Ich werde die Polizei rufen, wenn Sie mich nicht auf der Stelle in Ruhe lassen!"
"Die Polizei?", erwidere ich freundlich.
"Ja, genau!", ruft der Mann. "Ich ruf die Bullen, wenn Sie nicht auf der Stelle..."
"Knackiger Salat.", sage ich ruhig, ohne ihn aussprechen zu lassen.
Der Mann starrt mich fragend an. "Wa... was?", murmelt er mehr zu sich selbst.
"Knackiger Salat.", wiederhole ich nüchtern und gehe einen Schritt auf ihn zu. "Knackiger Salat mit warmen Hähnchenstreifen."
Der Mann taumelt benommen zurück, sein Blick fällt auf meine linke Hand, die sich in meiner Manteltasche verbirgt und etwas zu umklammern scheint. "Was soll die Scheiße?" ruft er mit schriller Stimme. "Bleiben Sie weg, Sie Psychopath!"
Jetzt beginnt er zu rennen.
Zu spät. Er hat mich zu nah an sich rankommen lassen. Mit einem Sprung bin ich in seiner Reichweite. Während er sich noch umwendet, greife ich um seinen Nacken und schnüre ihm mit meinem Unterarm die Luft ab. Dann ramme ich ihm die Spritze in den Oberschenkel, ersticke seine Hilferufe, bis sich seine Muskeln entspannen und er langsam auf die Knie hinabsinkt.
"Was... warum...", murmelt er benommen. Sein Blick ist klar, nur sein Körper gehorcht ihm nicht mehr. "Wammmh..."
Mehr bringt er nicht mehr hervor, während er wie ein nasser Sandsack vornüber auf den schwarzen Asphalt klatscht. Ich setzte mich zu ihm - die Straße ist kalt wie Eis. Dann nehme ich seinen leblosen Kopf in den Arm, streichle ihm durch sein feines, blondes Haar und schaue dabei gedankenverloren in den wolkenverhangenen Nachthimmel.
"Zur Herstellung von Teewurst werden Schweinefleisch - oftmals auch Rindfleisch - und Speck grob oder fein im Fleischwolf gemahlen, Verhältnis eins zu zwei.", flüstere ich sanft, und genieße dabei das wilde Zucken seiner Pupillen, das mir verrät, dass er panisch ist.
"Daraufhin wird es mit Gewürzen verfeinert", fahre ich fort, "in Därme gestopft und meist über Buchenholz geräuchert." Ich küsse den jungen Fremden auf die heiße Stirn und halte ihn wie ein zu groß geratenes Baby in meinen Armen, wiege ihn sanft hin und her, als wäre er mein Sohn und ich ein junger Vater. Ich lächle ihn an, mein Blick sagt hab keine Angst.
"Anschließend muss die Wurst sieben bis zehn Tage durch Milchsäuregärung reifen, um ihren typischen Geschmack zu entwickeln. Teewurst hat einen Fettanteil von 30 bis 40 %, was sie besonders streichfähig macht."
Ich schaue mich noch einmal um, niemand zu sehen, keine Seele in Sicht. Alles ist still und friedlich.
Der Wald ist nicht weit, denke ich.
"Komm, mein Sohn.", sage ich feierlich, richte mich auf und schlage mir den Schmutz vom Mantel. "Wir machen jetzt einen kleinen Spaziergang."
Der Kerl ist so leicht wie er aussieht. Ich werfe seinen leblosen Körper über meine breite Schulter und marschiere auf die schwarzen Fichten zu, die den Waldrand markieren.
"Alles was du siehst, lebt in einem empfindlichen Gleichgewicht zusammen, Simba.", beruhige ich meinen neuen, fremden Freund. "Als König musst du ein Gespür dafür haben und alle Geschöpfe respektieren - von der winzigen Ameise, bis hin zur graziösen Antilope."
"Mmöm...", macht mein neuer, fremder Freund. "Mmöm, Mmöm."
"Ei, ei, mein kleiner Hosenmatz.", lache ich. "Hab keine Angst. Es regnet, es regnet und die Erde wird nass."
"Mmöm...", macht der Fremde traurig.
"Die Erde wird nass, verstehst du das?"
"Mmöm..."
"Komm, lass gut sein. Ich mach doch nur Spaß."
Der Wald atmet uns ein, wie ein gigantisches Ungeheuer aus längst vergessenen Zeiten. Die Schatten der Bäume umschließen uns und augenblicklich scheint die Zeit stillzustehen.
Einatmen, ausatmen...
Materie bewegt Materie...

Es dämmert bereits, als der Fremde endlich seine Sprache widerfindet. Lange haben wir im Schein des Feuers so da gesessen und uns schweigend in die Augen geblickt, das heißt viel mehr, ich habe auf einem umgestoßenen Baumstamm gesessen und er musste, seiner eingeschränkten Körperfunktionen geschuldet, leicht gekrümmt im feuchten Laub liegen, den Blick zu mir gewandt, mit der linken Gesichtshälfte in einem Ameisenhaufen.
"Waarump...", murmelt er plötzlich heiser, als hätte er seit Jahren nicht mehr gesprochen. "B... Bittee..."
"Warum...", wiederhole ich tonlos. "Warum, warum, warum, warum..."
"Bitte...", sagt der Fremde noch einmal.
"Bitte, bitte, bitte, bitte." antworte ich und zucke die Achseln. Ich zünde mir eine Zigarette an. "Warum und Bitte. Zwei Worte, die das Wesen des Menschen unglaublich treffend beschreiben, findest du nicht?" Ich nehme einen tiefen Zug, der Rauch brennt unangenehm in meiner Lunge und erinnert mich an traurige Zeiten voller Leere und Unzufriedenheit.
Das war einmal denke ich. Dann fahre ich mit ruhiger Stimme fort:
"Fangen wir mit dem "Warum" an. Was soll dieses ewige Gefrage, das ständige Verstehen-Wollen? Der Mensch erlernt das Sprechen und schon fragt er Warum?, Wieso?, Weshalb?. Und das Beste ist, dass er tatsächlich eine Antwort erwartet. Eine Antwort von Gott, von der Natur, von der Vernunft, von der Liebe, et cetera, und so weiter, wie auch immer..."
Ich lächle dem Fremden zu, der mich mit glasigen Augen und gelähmtem Gesicht flehend durch die Flammen anstarrt.
"Ich kann dir sagen, warum das Leben kein Geschenk, sondern eine Last für den Menschen ist, mein lieber, fremder Freund." Ein Zug, erneuter Schmerz - und Erinnerung, Verdrängung, Angst.
"Das Leben ist eine Last, weil es keine Antworten gibt."
Ein Uhu in der Ferne beginnt sein nächtliches Konzert, das Holz im Feuer knackt und bricht.
Der Fremde schweigt und wartet.
Noch ein Zug. Ich schließe die Augen und genieße den Moment der Stille.
Einatmen, ausatmen...
"Dinge geschehen", fahre ich schließlich fort. "Materie bewegt Materie, Menschen leben, lieben und vergehen. Das ist der Kosmos des Seins. Es gibt keine Gründe, keinen Sinn. Es gibt nur Geschehendes. Keine Vergangenheit, keine Zukunft - nur Geschehendes. Kein Gut, kein Böse, kein Ich, kein Du. Alles was ist, ist. Verstehst du das?"
Der Fremde gurgelt etwas vor sich hin. Ein Zucken geht durch seinen leblosen Körper. Er versucht womöglich, sich aufzurichten.
"Es ist vollkommen gleich, was ich sage, ob ich überhaupt etwas sage. Warum rede ich eigentlich, warum redet überhaupt irgendwer? Glauben wir tatsächlich, dass wir miteinander sprechen? Dass das, was wir sagen, von irgendwem verstanden wird? Wir machen nur Geräusche, weiter nichts! Wir grunzen vor uns hin, ein Leben lang und merken nicht, dass wir alleine sind, umgeben von undurchdringlichen Mauern."
"B...Bitte...", bringt der Fremde endlich hervor. "Hilfee..."
Wie er das sagt, amüsiert mich. Ich muss Lachen, nicht aus vollem Herzen, aber dennoch herzhaft.
"Warum, Bitte, Hilfe... alles nur Laute, nur Geräusche ohne Sinn und Bedeutung. Bitte... Ständig bitten wir um etwas. Bitte, lass mich lange leben! Bitte, lass mich reich und glücklich sein! Bitte, lass mich berühmt sein, ich will geliebt werden! Bitte, bitte, bitte!"
Ich rauche die Zigarette auf und schmeiße sie in die knisternde Glut des Feuers.
"Worum bittest du, mein lieber, fremder Freund?" Ich stehe auf, gehe zu dem leblosen Fleischsack im feuchten Laub hinüber und beuge mich über sein Gesicht, dass er das meine kopfüber sieht. "Worum bittest du?"
Er röchelt, er grunzt. Dann sagt er wieder bitte, bitte und noch etwas anderes, das ich nicht verstehe.
"Möchtest du leben? Ist es das was du willst?"
Er versucht zu nicken, doch er schafft es nicht seinen Kopf wieder aufzurichten. Ich helfe ihm dabei, damit er mir weiter in die Augen sehen kann.
"Egal, was du möchtest, was du mir sagen, vermitteln willst... Ich werde es nicht hören, geschweige denn verstehen können. Du bist allein, ich bin allein, Dinge geschehen, Materie bewegt Materie bewegt Materie... Teewurst hat einen Fettanteil von 30 bis 40%, die Angst vor dem öffentlichen Urinieren heißt Paruresis... es ist vollkommen gleich, was wir sagen! Nichts ist von Bedeutung, hast du das immer noch nicht verstanden?"
Paruresis... das erinnert mich an etwas.
Ich öffne meine Hose und pisse dem Fremden ins Gesicht. Ein warmer, dunkelgelber Strahl, der in der Kälte der Nacht zu fahlem Dunst kondensiert.
"Mmmöö...", macht der Fremde. Und: "Mmmuuargh...". Es gefällt ihm nicht, was da gerade mit ihm passiert. Es gefällt ihm ganz und gar nicht.
Nachdem ich mein Geschäft verrichtet habe, setze ich mich wieder auf den umgestürzten Baumstamm und lächle meinem bepissten, fremden Freund freundlich zu.
"Woher der Ekel, mein Bester?", frage ich. "Es ist doch nur Materie, die da in deinem Gesicht klebt. Warum ekelst du dich vor meiner Pisse und nicht vor deiner eigenen? Warum vor meiner Pisse und nicht vor den ganzen Menschen um dich herum, die ständig "Bitte, bitte" sagen und "Warum, wieso, weshalb?" und denen du ständig etwas schuldig bist?"
"Bitteee...", stöhnt der Fremde noch einmal, diesmal mit etwas mehr Nachdruck in seiner erwachenden Stimme.
"Nichts gelernt...", seufze ich müde. "Als spräche man mit einer Wand..."
Ich lade die Halbautomatik, mit der ich schon so viele Fremde über den Abgrund geschickt habe, ziele auf die Stirn meines wimmernden, gelähmten Freundes und lege meinen Kopf schief, sodass unsere Augen auf einer parallelen Linie liegen, als stünden wir uns gegenüber.
"Nicht...!" Die Pupillen des Fremden sind geweitet vor Angst. "Bitte nicht..."
"Wir sind alle gleich.", sage ich müde. "Ein Haufen Sternenstaub, verteilt auf acht Millionen Körper. Materie überall. Überall Materie. Es gibt keine Antworten, es gibt keine Fragen. Materie bewegt Materie bewegt Materie..."
"Bitteee...", grunzt der Fremde noch einmal.
Dann drücke ich ab.
Der Knall ist laut, Vögel schrecken aufgeregt aus den Baumkronen in den Himmel, aber mein selbstgebauter Schalldämpfer verhindert, dass das Geräusch aus dem Wald heraus zu den Häusern dringt, in denen Menschen wohnen, die vermutlich gerade bitte, bitte oder warum, warum, wieso vor sich her plappern. Ein blutiges Rinnsal fließt dem Fremden aus seinem Schädel über das bleiche, ausdruckslose Gesicht.
"Staub zu Staub...", flüstere ich leise und lasse mich wieder auf den Baumstamm sinken.
Noch eine Weile sitze ich so da und lausche dem Erwachen des Waldes. Dann stehe ich auf und lösche das Feuer, dabei starre ich den schwarzen Schatten an, der einmal der Fremde war. Ich habe das Gefühl, dass ich noch ein paar Worte sagen sollte, bevor ich mich auf den Weg mache. Ich räuspere mich und verabschiede mich feierlich von meinem fremden, toten Freund:
"Der Blasebalg-Satz besagt, dass es nicht möglich ist, einen Blasebalg durch einen verformbaren Polyeder darzustellen. Für die Herstellung eines polyedrischen Blasebalgs ist daher immer ein verformbares Material notwendig. Zwar gibt es verformbare Polyeder, diese haben jedoch konstantes Volumen."
Der Morgen graut.
Die Arbeit wartet.
Ich verlasse den Tatort und pfeife ein melancholisches Lied, dass ich irgendwann in irgendeinem Film gehört habe. Ich erinnere mich nicht mehr, welcher Film das war, aber die Melodie geht mir seither nicht mehr aus dem Kopf. Warum das wohl so ist?, denke ich.
Zwei Kunden, dann hab ich Feierabend, denke ich weiter, während ich auf die Straßenbahn Richtung Innenstadt warte. Zwei Kunden. Bitte lass den Tag schnell vorüber gehen.
Bitte, bitte, bitte...
Die Straßenbahn kommt und ich steige ein.
 
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Tag.
Es ist jetzt 9:31 Uhr. Zeit, ein paar Versicherungen zu verkaufen. Ich drücke auf den Knopf neben dem Klingelschild auf dem "Fam. Lackmeier" steht, richte meine Krawatte und versuche, nicht an die letzte Nacht zu denken. Ich kann mich nicht treiben lassen, denn ich habe ein Ziel.
Ich bringe Bewegung in die Stasis des Universums.
Materie bewegt Materie bewegt Materie bewegt Materie.
 
"Ich rate Ihnen dringend zu einer Zahnzusatzversicherung, Herr Lackmeier."
Kontrollierte Stimme, kameradschaftlicher Blick. Die Wohnung der Lackmeiers ist ein Monument der Geschmacklosigkeit. Ich hole die Akte mit den Anträgen aus meiner Tasche, selektiere mit geübten Fingern den teuersten Tarif aus der Masse an Unterlagen und schiebe Herrn Lackmeier den Fragebogen lässig über den Tisch entgegen.
"Ich habe hier ein Angebot, das Sie interessieren könnte.", sage ich feierlich.
Herr Lackmeier schaut sich die Unterlagen mit gespielter Souveränität an und tut so, als würde er die Paragraphen lesen. Selbst ein Psychologie-Student im ersten Semester könnte auf den ersten Blick feststellen, dass der fette Metzger keine Ahnung hat, worum es geht und dass es ihm im Grunde auch vollkommen gleich ist. Der Mann vertraut mir. Der Mann lässt mich machen.
Gut für seine Nerven, gut für meine Provision.
Er lobt mich für meine sensationelle Arbeit bei der Versicherung seines Wurst- und Fleischwaren-Geschäftes vor zwei Jahren und sagt mir, ich solle einfach mal machen. Dann bittet er seine Frau, eine Flasche Sekt und ein paar Schnittchen mit hauseigener Wurst zu kredenzen. Die Frau macht, während die Männer im Wohnzimmer Verträge abschließen.
Herr Lackmeier hat gerade die letzte Unterschrift gesetzt, als seine hässliche, ebenfalls fettleibige Frau aus der Küche kommt, mit zwei Gläsern Sekt und einem Teller Schnittchen in den wurstigen Händen.
Wir trinken zufrieden und lassen uns die Wurstschnittchen schmecken.
"Feinste Teewurs´ nach Pommerscher Art!" preist der Metzger die gepressten Fleischabfälle mit vollen Backen an, als wären sie das reinste Ambrosia. "Kommen se ruhisch mal vorbei bei uns, alles nur Top-Qualität!"
Ich nicke lächelnd und "genieße" die "Top-Qualität", während ich mir vorstelle, wie der Schlachtungsprozess wohl ausgesehen haben muss.
Zwanzig Minuten später sitze ich zufrieden in meinem Firmenwagen und pule mir die Fettreste aus den Zähnen.
Materie..., denke ich nüchtern und dabei fällt mir plötzlich ein, aus welchem Film die melancholische Melodie von heute morgen stammt. Ich beschließe, einen Umweg zur Videothek zu fahren und mir den Streifen auszuleihen.
Der Fremde von letzter Nacht erinnerte mich irgendwie an Edward Norton.
Sachen gibt´s.