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Dienstag, 20. August 2013

Lithium


„Dir geht’s auf jeden Fall wieder besser, das merkt man gleich.“, sagt Jenny. Sie sagt es beiläufig, ihr Blick ist fahrig, sie ist schon längst nicht mehr bei der Sache. Ihr Freund, der neben ihr sitzt, streicht ihr durch das dünne, blonde Haar und wirft mir einen mahnenden Blick zu. Ich ignoriere ihn und antworte, auf die Gefahr hin, dass mir bereits niemand mehr zu hört: „Ja, schon. Mir geht’s blendend zurzeit. Alles top.“
Jenny wendet sich mir wieder zu, langsam, nachdem sie ihre Analyse der Gesprächsthemen, die in der Runde vorherrschen, beendet hat. Jetzt blickt sie mich an, dann lächelt sie künstlich, unsicher und sagt: „Schön, das freut mich wirklich.“
Das war`s, wir sitzen eine Weile schweigend da, starren durch die Kneipe, hören den anderen beim Reden zu. Lars und Ben schwafeln über Kinofilme, Mary und Klaus diskutieren über irgendeinen Zeitungsartikel, in dem es um ungeklärte genetische Expression geht, Norman, Alas und seit einigen Minuten auch Jennys Freund verlieren sich in einer musiktheoretischen Diskussion über die Synkope in mittelalterlicher Komposition. Nur Jenny und ich sitzen schweigend da, nippen an unseren Longdrinks und langweilen uns zu Tode.
Jenny beschließt, dass es angenehmer ist, das Gespräch von eben wieder aufzuwärmen, als unbeachtet durch das Lokal zu glotzen und stellt mir folgende Frage:
„Wie… äh… bist du denn da letztendlich rausgekommen? Äh… aus dem Teufelskreis, äh… ich meine… warst du beim Psychiater oder so…?“
Die alte Leier, denke ich, lasse mir aber nichts anmerken und tue so, als wäre das eine ganz grandiose tolle Frage, auf die ich mein ganzes Leben lang gewartet habe. Ich lächle, nicke, und antworte mit ruhiger Stimme: „Ja, meine Psychiaterin hat mir schon extrem geholfen. Hat gut getan, mal alles auszusprechen, den Gedanken Raum zu geben, verstehst du? War `ne tolle Erfahrung, ich hab mich selbst ein Stück weit besser kennengelernt, kann ich nur wärmstens empfehlen.“
„Schön. Das freut mich.“, sagt Jenny wieder. „Hört man ja von vielen, dass es denen nach der Therapie viel besser geht und so.“
Ich nicke. „Ja, das stimmt. Ist einfach ungemein befreiend so was.“
„Wie lang ging die denn, die Therapie?“, will Jenny wissen. Ich nehme einen tiefen Schluck von meinem Black Death und antworte lapidar:
„Ach, war eigentlich nur einmal da.“ Ich gebe Jenny Zeit, damit sie so tun kann, als sei sie überrascht und füge dann hinzu: „Mehr war auch nicht nötig, ehrlich gesagt. Außerdem: Die Kosten…“
„Das muss aber ein intensives Gespräch gewesen sein.“, konstatiert Jenny betont fachmännisch. „Normalerweise lösen sich solche… Probleme ja nicht nach einer einzigen Sitzung auf, ich meine… äh…“
„Ja, schon.“, komme ich meiner jetzt deutlich verunsicherten Gesprächspartnerin zu Hilfe. „Aber in meinem Fall hat es dann doch ziemlich gut hingehauen. War nur ´ne 60-Minuten-Sitzung. Jetzt geht’s mir top. Einfach nur top sag ich dir!“
Jenny blickt mich zweifelnd an. Ihre Mundwinkel zucken, ihr Hirn versucht, einen Satz aus diversen verbalen Optionen zusammenzusetzen, doch es kommt nichts Brauchbares hervor. Sie lächelt stattdessen und nutzt die gewohnte Copy-Paste-Funktion indem sie erneut „Schön, das freut mich sehr.“ antwortet. Sie will es dabei beruhen lassen und wendet sich wieder der Gruppe zu, in der Hoffnung, dass sich die Themenlage mittlerweile geändert hat und sie sich irgendwo einklinken kann.
Ich greife in meine Jackentasche, hole die kleine Plastikdose hervor und stelle sie vor Jenny auf den Tisch. Ich warte auf ihre Reaktion, sie starrt die Dose an, dann mich, dann wieder die Dose, dann wieder mich, daraufhin lächelt sie, aber als sie sieht, dass ich nicht lächle, hört sie auf damit und öffnet den Mund um etwas zu sagen, sagt aber nichts, schaut wieder die Dose an - Lithium steht da mit roten Lettern auf einem grellweißen Etikett - dann mich und wieder die Dose. Schließlich schüttelt sie irritiert den Kopf. Ich lächle kurz, stecke die Dose wieder ein und schreie so laut ich kann:
„Du verschissene, oberflächliche Pissfotze!“
Alle Gespräche im Lokal verstummen. Nur die grauenhafte Rock-Musik dröhnt weiter blechern aus den billigen Boxen. Jennys langweiliges Gesicht ist bleich wie mit Puder bestrichen. Ich fahre fort:
„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass sich nach einer verfickten 60-minütigen Sitzung bei meiner Vorstadthure von Psychiaterin eine bipolare, manisch-depressive Störung in Luft auflöst, oder? Schön, das freut mich aber! SCHÖN, DASS FREUT MICH ABER!!! Am Arsch freut dich das! Du weißt doch gar nicht was das ist – Freude! Mit deiner zugenähten Möse und deinem scheißhässlichen Grinsen ist doch das höchste der Gefühle ein Latte Macchiato mit Extra-Schaum nach einer ausgiebigen Lektüre der neuen Glamour auf dem Scheißhaus, du herzloses, flachbrüstiges, jungfräuliches Exempel für DNA-Verschwendung! Wenn ich…“
Weiter komme ich nicht, denn Jennys Freund steht plötzlich abrupt auf und schlägt mir mit der Faust ins Gesicht, sodass ich vom Stuhl falle, mit dem Gesicht auf den nassen, klebrigen Boden der Kneipe. Er schreit mich an, aber durch den Sturz bin ich benebelt, sehe nur verschwommene Umrisse und alle Geräusche verschwimmen zu einem einzigen undurchdringlichen Brei. Ich versuche mich aufzurichten, spüre wieder etwas Hartes, Unnachgiebiges in mein Gesicht rasen, dann ist plötzlich alles dunkel und still.

Ich erwache, es ist 4:29 Uhr. Das Schlafzimmer ist dunkel, meine Freundin schnarcht neben mir vor sich hin.
Alles nur ein Traum, denke ich. Alles nur ein Traum.
Ich stehe auf und gehe ins Bad. Das Licht blendet mich, es ist steril und kalt. Ich blicke mich im Spiegel an, meine müden Augen, mein verschlafenes Gesicht. Ich leere meine Blase, wasche mein Gesicht und öffne den Badezimmer-Schrank. Die Dose mit den roten Lettern steht da, wo sie immer steht. Ich schließe den Schrank wieder und gehe in die Küche, mache mir einen Kaffee. Die Vögel zwitschern schon, doch draußen herrscht noch klamme Dunkelheit. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel. Mit den schönen, etwas übertrieben verschnörkelten Buchstaben, die den sehnigen Fingern meiner Freundin entflossen sind, steht da: „DUH – BIH – JOS!“, gefolgt von einem deformierten Mutanten-Smily.
Ich schiebe den Zettel von mir weg und stelle mir vor, wo sie gestern Abend gewesen ist. Ich kann mich nicht erinnern, sie nach Hause kommen gehört zu haben. Auf der Küchenzeile steht eine halbvolle Flasche Mixery, im Aschenbecher liegt eine halbgerauchte Pall Mall.
Ich grüble eine Weile vor mich hin, denke daran, wie merkwürdig die Existenz doch ist, das Jetzt, das Hier, Gegenwart. Jedes Wort besteht aus verschiedenen Lauten, die nur in Verbindung, im seichten Fluss der Zeit Sinn ergeben. Im Hier und Jetzt kann es nur einen Laut geben. Es kann nur ein Geräusch zur selben Zeit produziert werden. Worte und somit Gedanken bestehen aber aus mehreren Lauten. Wir können also nur Sinn aus dem Gesprochenen ziehen, wenn wir aus der Warte der Zukunft heraus die Vergangenheit analysieren.
Ich betrachte den Kippenstummel eine Weile und vergesse die Existenz. Dann stehe ich auf und trinke die halbe Flasche Mixery in einem Zug leer. Ich gehe zum Kühlschrank und nehme mir ein Bier. Auch dieses trinke ich in einem Zug leer. Ich öffne die Balkontür und trete ins Freie. Auf dem kleinen runden Tisch entdecke ich ihr Portemonnaie. Es ist noch ein Zehner drin, ein paar Münzen. Ich betrachte den Zehner im fahlen Licht der Küchenlampe, das nach draußen strömt. Ich rieche an dem Schein, dann esse ich ihn auf.
Ich gehe zum Kühlschrank, nehme noch ein Bier. Noch zwei da. Ich trinke das Bier in einem Zug, nehme noch eins, trinke es in einem Zug, nehme das Letzte, trinke es aus und schmeiße die leere Flasche vom Balkon in den Garten.
Dann lösche ich das Licht, gehe ins Schlafzimmer zurück zu meiner betrunkenen Freundin, die in purem Seelenfrieden vor sich hin grunzt, kuschele mich an ihren warmen, nach Alkohol duftenden Körper und sage ihr, dass ich sie liebe, was gelogen ist. Mit einem Lächeln schlafe ich schließlich ein. Für den Rest der Nacht sind meine Träume leer. Muss wohl am Bier liegen.

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