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Freitag, 26. Juli 2013

Der alte Mann und das Geld

"Hette Si felaisch Intaresse an Obdalosezaitschrif ode klaines Spende...?", leiert Fazil seinen allmorgendlichen Sermon in das kaum besetzte Abteil der Straßenbahn, sein Blick ist glasig, farblos, wenn man von dem kranken gelbbraunen Schleimfilm absieht, der sich über seine Netzhäute zieht. Was diese, nennen wir sie mal "Augen" nicht alles schon gesehen haben. Doch wirklich durchgedrungen ins neurale Zentrum von Fazils Bewusstsein, nennen wir es mal "Hirn", ist davon nur wenig. Zu lange schwimmt es schon im lauwarmen Alkoholbad, das Fazil Tag für Tag mit neuer Zufuhr versorgt. Aufhören kann er schon lang nicht mehr. Zu schwer lasten die Sorgen auf seinen Schultern, zu tief sitzt die Sucht in seinen knochigen, alten Gliedern.
"Hey, Araberarsch!" schallt es plötzlich durch den Waggon, eine kratzige Eisenstimme, laut und klar. Fazil schaut sich um und erblickt einen kahlköpfigen alten Mann am hinteren Ende des Abteils, der breitbeinig in der Mitte einer Dreiersitzbank hockt und mit funkelndem Blick zu ihm herüber starrt.
"Ja, ich mein dich, du dreckiger Lumpen! Komm her, ich will eine von deinen verfickten Zeitungen!"
Fazil setzt sich in Bewegung. Es dauert eine Weile, bis er den Mann erreicht hat, denn seine Beine sind nicht mehr die gleichen wie früher. Der Versuch eines Lächelns, während er in seinem Beutel nach einem Exemplar der Obdachlosenzeitschrift "Die Welt von Unten" sucht. Fazil weiß natürlich nicht, dass das, nennen wir es mal "Magazin" von ebenso versoffenen und abgelutschten Fuckern geschrieben wurde, wie er selbst einer ist, und dass die Leute, wenn sie es denn mal "haben" wollen, es eigentlich nur aus "Mitleid" kaufen und es dann ungelesen in die nächstbeste Mülltonne entgleiten lassen, andererseits: wenn er es wüsste, wäre es ihm ohnehin vollkommen Latte.
"Was kostet der Scheiß?", will der Alte wissen. „Was habt ihr für Tarife in Dschihadhausen?“ Fazil murmelt etwas, dass er selbst kaum versteht.
"WAS?!??!", schreit der Mann, dass die vier Leutchen zusammenzucken, die in der Bahn verteilt herumlümmeln und so tun, als existierten sie nicht. "Ich versteh kein Wort von dem Gefasel, was ist los mit dir, hast du `nen fetten Negerschwanz im Mund oder was? Meine Güte, wie siehst du überhaupt aus, hä? Wie ein Stück Araberscheiße! Ja, genau! Braun und dumm, wie ein Stück Araberscheiße! Komm her, du Fetzen, hier, schau aus dem verfickten Fenster!“
Der Alte nickt mit dem Kopf Richtung Fenster, hinter dessen zerkratztem Glas die graue Stadt in Schlieren an ihnen vorbeirauscht. Fazil gehorcht und schaut nach draußen. Seine kranken Augen versuchen sich auf einen Punkt zu konzentrieren, doch die Bahn fährt so schnell, dass es ihm nicht gelingt, eine Stelle zu fixieren. Seine milchigen Pupillen weiten und schließen sich in kurzen Abständen.
„Schau sie dir an, schau dir alles gut an!“, raunt der Alte und lächelt zwielichtig, während er Fazil beobachtet. „Komm setz dich. Setz dich hierhin!“
Fazil schüttelt den Kopf. „Nix, nur wenndu bezale.“
Der Alte zieht einen Hunderter aus seiner Westentasche und wedelt mit dem Papier vor Fazils schuppigem Gesicht umher. Fazils Blick entflammt zu ungeahntem Leben, als er dies Kleinod des Glücks so nah vor sich erblickt. Unbändige Gier lodert in ihm und er gehorcht dem grauen Fremden mit dem Vorsatz, alles zu tun was nötig ist, um an den Schein zu kommen. Alles, bis auf das Eine.
„Dacht ich mir doch, dass dich das geil macht, Araberarsch.“, lacht der Alte. „Wenn`s um Geld geht, sind wir alle gleich. Alle sind wir käuflich…“
Fazil starrt den Schein an, wie ein zurückgebliebener Sonderschüler.
„Alle sind wir Nutten.“ Der Alte steckt den Schein wieder zurück in seine Westentasche. „Jetzt guck nicht so wehleidig, du verdammte Schwuchtel! Wenn du schön brav bist, geb` ich ihn dir, aber nur wenn du tust, was ich sage!“
Fazil nickt wie ein zurückgebliebener Sonderschüler.
„Setz dich.“
Fazil nickt wie ein zurückgebliebener Sonderschüler und setzt sich auf den Platz gegenüber seinem Meister.
„Brav.“, lacht der Alte. „Braves Stück Araberscheiße. So ist`s recht.“
Die beiden sitzen sich eine Weile schweigend gegenüber, der Alte starrt durchs Fenster, Fazil auf die Westentasche, in der der Hunderter schlummert.
„Ficken.“, bricht der Alte schließlich das Schweigen. „Alle wollen es, aber viele kriegen es nicht.“
Fazil starrt auf die Westentasche, in der der Hunderter schlummert.
„Wer fickt, ist glücklich, wer nicht fickt, ist es nicht. Es gibt kein anderes Glück. Es gibt nur Ficken. Es gibt nur Triebe. Es gibt nur Ficker, Gefickte und ungefickte Nicht-Ficker, die um jeden Preis ficken wollen. Die Ungefickten tun alles, um zu den Fickern zu gehören, die Ficker tun alles, um zu beweisen, dass sie zu den Fickern gehören, damit niemand denkt, dass sie zu den Nicht-Fickern gehören und die Gefickten lassen sich von den Fickern ficken, um nicht von den Ungefickten gefickt zu werden, die keiner will, weil sie unzufrieden, depressiv und neurotisch sind.“
Fazil starrt auf die Westentasche, in der der Hunderter schlummert.
„Die Ficker geben sich, wenn sie genug gefickt haben, den ganzen unnötigen Nebensächlichkeiten hin, um zu zeigen, dass sie entspannt und ausgeglichen sind, weil sie ficken. Die Nicht-Ficker widmen sich meist aus Frustration und Einsamkeit irgendeiner schwachsinnigen Aufgabe, um sich abzulenken, oder um anderen potentiellen Fickpartnern zu zeigen, dass sie gute Ficker abgeben würden. Sie merken dabei nicht, dass sie genau durch diesen absurden Enthusiasmus allen anderen Fickern und Gefickten signalisieren, dass sie Nicht-Ficker sind und damit schießen sie sich selbst ins Abseits.“
Fazil hustet, wischt sich einen Speichelfaden aus dem Mundwinkel und starrt auf die Westentasche, in der der Hunderter schlummert.
„Die Ficker hingegen wirken sympathisch und ausgeglichen, weil sie ficken und bekommen dadurch noch mehr zu Ficken und haben auch sonst mehr Erfolg, weil sie durch ihre entspannte Fick-Aura den Eindruck vermitteln, dass das Leben ein Klacks ist und weil andere Ficker, die weniger ficken als besagte Erfolgsficker sich von eben jenen Erfolgsfickern ebenfalls Erfolg für sich selbst versprechen.“
Fazil furzt, aber der Furz ist so leise, dass man ihn unter dem Rauschen und Dröhnen der Bahn, nicht hört. Er starrt noch immer auf die Westentasche, in der der Hunderter schlummert.
„Die Nicht-Ficker hingegen fühlen sich vom Erfolg der Erfolgs-Ficker unter Druck gesetzt und reagieren meist sehr negativ auf die Präsenz jener Erfolgsficker und Ficker im Allgemeinen. Viele flüchten in selbstauferlegte Isolation und jammern vor sich hin, verurteilen die böse, böse Welt weil sie das Potential, das in ihnen schlummert nicht erkennt. Andere versuchen aggressiv, den Erfolg der Erfolgsficker zu schmälern oder gar ganz auszumerzen oder sich selbst mit Gewalt über die Erfolgsficker zu stellen. Sie heischen um Aufmerksamkeit, schreien rum, bekommen Gefühlsausbrüche in der Öffentlichkeit, schmeißen mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen um sich oder üben physische Gewalt an ihren Mitmenschen aus, egal ob Ficker oder Nicht-Ficker.“
Fazil wird langsam ungeduldig. Es steigen Menschen ein, die er gern um eine „klaines Spende“, wie er sagen würde, anschnorren würde, aber der Hunderter in der Westentasche des Alten hält ihn bei seinen Eiern. Allein die Vorstellung, er könne sich auch nur ein paar Millimeter von ihm entfernen, verursacht Angst und Übelkeit in seiner versoffenen Seele. Deshalb beherrscht er sich und starrt weiterhin auf die Westentasche, in der der Hunderter schlummert.
„Das ist im Grunde der Kern unserer Gesellschaft, unserer Kultur.“, fährt der Alte fort. „Alles was die Menschen tun, was sie bisher getan und in Zukunft tun werden, geschieht aus der Motivation heraus, ein Ficker sein zu wollen. Kunst, Politik, Wirtschaft, Sport und vor allem Krieg sind Produkte dieser einen Triebkraft des Menschen. Viele sagen, die Ursache aller menschlichen Handlungen sei Angst. Aber das ist Nonsens. Ich sage, die Ursache aller vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Handlungen ist die pure Geilheit und Geltungssucht gegenüber unseresgleichen, die uns Menschen ausmacht. Deshalb gibt es für mich persönlich auch nur noch eine Sache, in die ich all meine Energie und Motivation hinein kanalisiere.“
Fazil horcht auf, sein Herz beginnt hefig zu schlagen, denn der Alte steht plötzlich auf und greift in seine Westentasche.
„Die Menschen zu ficken…“, schließt der Alte seinen Vortrag und blickt lächelnd auf Fazil hinab.
„Und zwar alle.“
Er holt den Hunderter hervor und Fazil beginnt erneut zu sabbern. Der Alte wirft ihm den Schein zu Füßen und wendet sich von ihm ab. Die Türen der Bahn öffnen sich und der Alte tritt, ohne noch ein Wort zu sagen, in das graue Zwielicht der Außenwelt.
Fazil hebt den Schein auf, gierig wie ein Aasgeier. Er lacht, er singt, er jubelt. Dann stürmt auch er aus der Bahn, seine Beine sind plötzlich wieder jung, sein Herz lacht wie damals, als er noch ein kleiner Junge war. Seine Leber macht sich fit für einen langen, harten Arbeitstag, denn Fazils erstes Ziel ist der 24-Stunden-Kiosk gegenüber der Haltestelle. Heute gönnt er sich zur Feier des Tages schon vor 14 Uhr seinen hochprozentigen Glücksschub.
„Heute gute Tag!“, lacht er dem Verkäufer entgegen. „Leben gud! Sehre gut, Allah iste groos!“
Er sucht sich ein ruhiges Plätzchen, neben McDonalds und einem REWE-Supermarkt, öffnet die Flasche mit dem klaren, farblosen Alkohol und genießt das reine Glück, dass wenige Sekunden später brennend wie der Styx durch seinen Körper fließt, die Barrikaden seines Herzens stürmend. Seine Seele leuchtet. Zufrieden lehnt er sich zurück und beobachtet die Menschen, die eilig durch die Straße hetzen. Dann schläft er ein und träumt von seiner Tochter, seiner Tochter im Himmel, die in einem Bett aus Sternen schlummert. Sie hat einen Hunderter im Mund.

- Diese Kurzgeschichte ist Matias Faldbakken gewidmet -

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