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Montag, 17. Juni 2013

Panta rhei


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Protokoll 197, Köln, Epidemiebericht 162453. Teile des Textes waren zum Zeitpunkt der Erfassung unleserlich oder nicht mehr vorhanden. Die entsprechenden Stellen sind mit […] gekennzeichnet. Weitere Angaben im Anhang der Akte.

„Alles fließt, sagte Heraklit. Und nichts bleibt. Alle Atome stehen in Relation zueinander. Jede Aktion hat eine Auswirkung auf das Gefüge der Welten. Wenn ich Schmerz verursache, werde ich Schmerz ernten. Wer Liebe sucht, w […] aus den Schatten ans Licht.
Ich war nie das, was man allgemeinhin als einen „guten Menschen“ bezeichnet. Ich bin kein Mörder, kein Vergewaltiger oder dergleichen. Nein, das nicht. Aber ich bin ein Lügner, ein Betrüger, ein Sadist und ein Ehebrecher. Das allein genügt, um meine moralischen Zweifel zu begründen. Doch warum habe eigentlich Zweifel? Warum diese Vorstellung von Moralität? Warum kann ich all die Dinge tun, die ich getan habe und trotzdem hinterher selbst darunter leiden, mich schuldig fühlen, ohne eine gerechte Strafe dafür zu erhalten? Was gibt mir die Kraft, mich für meine Triebe und gegen meinen moralischen Willen zu entscheiden, und zu verletzen, zu zerstören und zu hintergehen?
Wäre ich Christ, so würde ich an den Teufel glauben. Ich würde sagen, der Teufel sei es, der mich das Böse tun lässt. Dämonen seien schuld am Leid der Welt, nicht ich, nicht wir Menschen. Die Pforten des Himmels stünden mir offen, solange ich an ihn glaube, den Heiland, Christus, meinen Erlöser, den Barmherzigen, der alle Sünder empfängt, solange sie nur tief und fest genug an ihn glauben.
Aber ich bin kein Christ. Ich bin auch kein Humanist, kein Sozialist, noch nicht mal Nihilist. Niemand, der tatsächlich existiert kann ein Nihilist sein. Nihilist zu sein bedeutet, nicht zu sein. Einfach aufhören mit dem Leben, nicht mehr Essen, nicht mehr schlafen, nicht mehr atmen. Das ist ein Nihilist, nicht diese verqueren Idioten, die herumlaufen und jedem von ihrem neuen Status berichten und wie leicht und schwerelos das Leben ist, wenn man all seine Verantwortung abgelegt hat. Diese selbsternannten Nihilisten sind Schwachköpfe, die vor sich selbst davonrennen. Nihilist zu sein bedeutet, sich selbst besonders nah zu sein. So nah, dass einem der eigene Tod das höchste Ziel ist. Deshalb sieht man auch nie einen von ihnen. Man hört sie nicht sprechen, weil sie keinen Sinn mehr in Kommunikation sehen. Man sieht sie nicht in der Öffentlichkeit, weil sie keinen Sinn mehr darin sehen, sich vor anderen darzustellen. Man liest nicht von ihnen in der Zeitung, weil ihr Tod nicht unterhaltsam ist.
Ich aber lebe. Das bedeutet, dass ich kein Nihilist bin. Ich bin Sadist. Ich liebe es, andere durch mich leiden zu sehen. Nicht alle Wesen natürlich, es gibt auch Mitleid in mir, den Drang nach Nähe, Liebe und Freundschaft. Aber da ist auch eine tiefe Abneigung gegen alles Andersartige, gegen Dummheit, Ignoranz, Arroganz und narzisstischer Eigenliebe. Eine Abneigung mir selbst gegenüber, die ich auf andere projiziere. Ist mir jemand zu ähnlich, muss ich ihn leiden sehen. In diesem Sinne bin ich Sadist und Masochist zugleich. Was sind denn Sadisten anderes, als Masochisten, die nach dem Metaprinzip der Moralität, der goldenen Regel, handeln.
Behandle deinen nächsten so, wie du auch selbst behandelt werden möchtest.
Das tue ich. Genau dies.
Meine Freunde sehen mich natürlich nicht so, wie ich mich sehe. Für sie bin ich das, was ich in meiner Rolle für sie vorgesehen habe. Ich habe Rollen für jeden von ihnen. Die Rolle des Zuhörers für meine Freunde, die Rolle des Liebhabers, des Lebenspartners für meine Frau, die Rolle des verständnisvollen Kollegen für meine Mitarbeiter. Aber wenn ich allein mit mir bin, dann gibt es keine Rollen mehr. Dann bin ich […] reinster Form. Keine Gesten, keine Wortspielereien. Nur ich, bloße Präsenz ohne darstellen zu müssen.
Diese Präsenz ängstigt mich und doch sehne ich mich nach ihr, wenn ich auf der Bühne des Lebens stehe und meine Rollen spiele. Sie ist ehrlich, immer da, immer verständnisvoll. Sie unterliegt keinen gesellschaftlichen Regeln, keinen moralischen Zwängen. Doch ohne meine Rollen, wäre ich nur das, eine Präsenz ohne Gegenfläche, ohne absorbierendes Spiegelbild. Meine Existenz wäre sinnlos. Alles wäre sinnlos, wenn wir uns nicht gegenseitig Beachtung schenken würden, uns gegenseitig jeden Tag aufs Neue bestätigen würden, dass wir einander erkennen, das wir Individuen sind, die atmen, kommunizieren, leben. Ohne die Anderen, sind wir nicht Eins.
Also fließen wir, weiter und weiter, leben, vergehen, entstehen erneut zu etwas anderem, das fließt und vergeht und von neuem entsteht und fließt und vergeht und entsteht und vergeht und so weiter bis zum Ende der Zeit, der Leere des Seins.
Alle Gedanken sind leer, bloße Platzhalter für weitere leere Fragmente.
[Es folgt eine lange Liste aus Zahlenkombinationen. Die mathematische Prüfung ergab, dass es sich bei der Liste um eine Folge der Zahl Pi handelt, die ab der 937748377. Nachkommastelle beginnt. Die Umwandlung in Textform ergab folgendes Ergebnis:
[…] klassischen Muffins mit Schokostückchen sind eine beliebte Leckerei für Groß und Klein. Dass sie einfach und schnell zuzubereiten sind, dafür […] kleine Back-Idee von Dr. Oetker. Die Backmischung enthält bereits die Backförmchen für 12 leckere Muffins.
Kleine Back-Ideen - der große Genuss für Jung und Alt - auch direkt aus der […]
- Ende der Liste]
Vielleicht werde ich doch noch Nihilist. Vielleicht höre ich einfach mal auf zu atmen. Jetzt erscheint mir ein guter Zeitpunkt dafür zu sein. Ich spiele meine letzte Rolle. Die Rolle des Nihilisten, der der Welt den Rücken zukehrt…
Nein, das ist albern. Ich mache weiter. Warum auch nicht? Es gibt keinen Grund, es nicht zu tun. Was meinen Sie? Oetkeroetkeroetkeroetkeroetk […] roetkeroetker“

Anhang:
Mit Blut an eine Wand in den Ruinen der Stadt Köln (Stadtteil Klettenberg SW) geschrieben. Verfasser konnte nicht ermittelt werden, starb jedoch vermutlich noch während der Hochphase der Epidemie. Man fand in der Nähe der Wand mehrere abgebrannte Kerzen, ein mit Blutspuren übersätes Exemplar „Handbuch der vorsokratischen Philosophie“, sowie diverse pornographische Schriften, die teilweise unvollständig und ebenfalls mit Blut und Unrat übersät waren. Im Deckmantel des Buches fand man eine handgeschriebene Widmung:

- Für DTD, meinem Freund und Mentor, der mich durch den Ozean der sterbenden Sonne rettete und mich lehrte, der zu sein, der ich bin. In Liebe, TF –

Untersuchungen eingestellt am 28. Februar 2027. Epidemieberichte / Akte 162453, EK II, Abt. AM9936, Notiz verfasst von X704850, 19. Juni 2028, 6:48 Uhr.

1 Kommentar:

  1. Seit ich Nihilist bin, ist das Leben wieder erträglicher geworden. Ich kann diese Lebenseinstellung nur jedem ans Herz legen. Vielleicht werde ich bald aber auch wieder zum Buddhismus übergehen, mal schauen...

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