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Montag, 7. November 2016

Das Gitarrensolo

"3 Minuten. Länger darf der Song nicht sein, sonst wird´s kein Hit."
Es herrscht gedämpftes Licht im Proberaum, eine Lavalampe blubbert vor sich hin, an der Wand hängen Poster mit Zen-Botschaften. Doch die Stimmung ist gereizt, wie so oft in letzter Zeit. Die Musiker streiten sich mal wieder über das grundlegende Konzept: Künstlerische Freiheit vs. Massenkompatibilität.
"Dann wird´s halt kein Hit, sondern einfach nur ein guter Song." sagt der Bassist, dem es im Grunde Latte ist, weil er schon fünf Flaschen Bier getrunken hat und einem dann so einiges Latte ist. 
"Ein guter Song mit einem 3-Minuten-Gitarrensolo." sagt der Sänger, der auch mindestens fünf Bier getrunken hat, was aber bei perfektionistischen Gemütern zum Gegenteil führt.
"Weißt du, wie lange ich an dem Solo geschrieben habe?! Das ist ein Gesamtkunstwerk, jeder Ton ist eine Stufe auf dem Stairway To Heaven, nimmst du auch nur eine davon raus, ist es kein verfickter Stairway mehr und niemand macht sich mehr die Mühe, nach ganz oben zu kommen!"
Das war, augenscheinlich, der Gitarrist. Er spielt sie jeden Tag, seine Skalen und Tonleitern, rauf und runter, rauf und wieder runter, 180 beats per minute, 190, 200, 220 und dann zurück auf 60 bpm, ganz langsam, damit auch jeder Ton sauber durchklingt. Manchmal schaut er sich bei dem ganzen Skalen-Gewichse eine Serie an, um die Monotonie der Prozedur auszublenden. Er schreibt jeden Abend in sein Übungstagebuch, welche Skalen er rauf und runter gespielt hat, wie lange er sie rauf und runter gespielt hat, was gut gelaufen, was nicht so gut gelaufen und was richtig beschissen gelaufen ist. Damit fängt er dann am nächsten Tag an. Man darf sich keine Schwächen erlauben. So was hört der Konsument. Diletantismus ist die größte Sünde eines Musikers.
"Vielleicht könnte man das Gitarrensolo ja durch irgendwas anderes ersetzen." schlägt der Schlagzeuger vor, diplomatisch wie eh und je. "Vielleicht ein Sample von ´nem tibetanischen Gebets-Chor oder so was in die Richtung."
"Wir sollten das Solo einfach ganz rausschmeißen." Der Sänger wieder. Schwarz-Weiß-Mentalität par excellence. "Gitarrensoli sind so was von 80ies, das fährt sich doch heutzutage niemand mehr rein. Zeit ist kostbar, wenn die Leute neben der ganzen Arbeit und dem Scheiß den man jeden Tag erledigen muss endlich mal ein bisschen Zeit für Musik übrig haben, wollen sie ganz sicher nicht mit irgendwelchen Egowichsereien eines Gitarristen mit zu viel Freizeit gelangweilt werden."
"Egowichsereien... tz..."
Oh je, jetzt muss unser flinker Fingerteufel aber ganz schön an sich halten. Freunde, das gibt noch Krieg hier heute, man hört die Fanfaren schon aus der Ferne näher kommen.
"Wenn hier einer ein Egowichser ist, dann bist das wohl du!" bricht es aus dem sonst so disziplinierten Gitarrenhelden heraus. "Du willst doch nur, dass man den Song über durchgehend deine Stimme hört! Warum nimmst du nicht gleich ein A-Capella-Album auf, wozu brauchst du noch eine Band, wenn sowieso alles Scheiße ist, was nicht aus deinem Hals rausquillt?!"
"Jetzt regt euch mal wieder ab, Leute." Der Basser öffnet eine weitere Flasche warmes Bier und prostet seinen Bandkameraden zu. "Halbier´ das Solo doch einfach, nimm die besten Parts raus und..."
"Du hörst einfach nicht zu, VERDAMMT!!!"
Oh hell, da ist er, der erste Kanonenschlag. Ich hab´s gewusst. Tapfer reitet er in die Schlacht.
"Ein Solo kann man nicht einfach halbieren! Ich muss da noch mal ganz von vorne anfangen und was komplett neues auf die Beine stellen! Das ist so, als hätte Moses Gott damals vorgeschlagen, er soll´ doch fünf statt zehn Gebote schreiben, weil zehn die Leute überfordern könnten. Welches Gebot soll man da denn bitte streichen? Du sollst nicht töten? Ach, nicht so wichtig, raus damit. Du sollst... wie ging das gleich nochmal...?"
"Nicht ehebrechen?" kommt ihm der Drummer zu Hilfe.
"Ja, verdammt! Genau! Wollt ihr, dass eure Frauen ständig mit anderen Typen ins Bett gehen nur weil irgendein Fucker damals auf die Idee kam, Gottes Gitarrensolo zu kürzen?"
"Meine Freundin ist Atheistin und die steigt trotzdem nur mit mir in die Kiste." sagt der Bassist und nimmt genüsslichen einen langen Schluck aus der Flasche.
"Meine ist Jüdin, glaube ich." sagt der Drummer.
"Immer dieses Theater..." winkt der Sänger ab und wirft der Runde einen resignierten Blick entgegen.
"Warum muss immer alles in bescheuerte Vergleiche abdriften. Was schert uns die Bibel, es geht hier einfach nur darum, das Beste aus dem Song herauszuholen."
"Und das tun wir, indem wir das Gitarrensolo streichen, hm? Vielleicht sollten wir einfach ein Instrumental draus machen, was meint ihr Leute? Ein Instrumental ohne Gitarrensolo? No way! Aber auf den Gesang könnten wir dann problemlos verzichten. Wir kürzen die Strophen, der Refrain kann meinetwegen ganz wegfallen. BAM!, da haben wir unseren verfickten 3-Minuten-Hit!"
Der Basser zuckt die Achseln. "Macht was ihr wollt, was soll´s."
Der Schlagzeuger nimmt die Denkerpose ein und macht "Hm" und "Weiß nicht...".
"Nicht euer Ernst, oder?" Jetzt ist es der Sänger, dem die Pferde durchzugehen drohen. "Ich hab mindestens genauso lange an dem Text gesessen wie unser Möchtegern-Van-Halen hier an seinem beschissenen Solo! So was schüttelt der sich doch aus dem Ärmel, Mann! Für einen vernünftigen Text braucht man erst mal eine richtig traurige Emotion! Ich bin durch die schlimmste Seelenfolter gegangen, als ich "The Witcher" geschrieben habe..."
"Es geht in dem Song um einen Magier mit großem Hut dem niemand seine Tricks abkauft. Was soll daran Seelenfolter sein?"
"Mann, das sind doch alles Metaphern du Spast! Überleg doch mal, wofür könnte der Hut stehen, hä?"
"Vielleicht ist der Magier Mexikaner?" schlägt der Drummer vor.
"Mexikaner? Was ist nur los mit euch...?" Der Sänger schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. "Scheiß auf euch, Leute, scheiß auf diese ganze Geschichte hier. Ich bin raus aus der Nummer." Er steht auf und zieht sich seine Jacke an. "Macht euer verschissenes Instrumental. Mit solchen Dilettanten wie euch kann ich nicht arbeiten!"
"Hey jetzt warte doch mal..." versucht der Drummer zu retten, was nicht mehr zu retten ist.
"Lass ihn doch. Wer es nicht schafft, zugunsten des Gesamtkunstwerks zurückzustecken, ist nun mal ein Egowichser und hat hier nichts zu suchen."
"Fucker..." murmelt der Mexikaner, äh, ich meine der Sänger und verlässt stampfend den Proberaum.
Der Bassist zuckt wieder mal die Schultern und leert seine sechste Flasche Bier. "Instrumental also, hm?"
"Der Songtitel kann aber ruhig bleiben, oder?" schlägt der Drummer vor.
"Nein, wir brauchen etwas griffigeres, etwas das tiefgründig, aber direkt verständlich ist. Ich hatte da so ein paar Bilder im Kopf beim Komponieren meines Solos: Dunkle Berge, Blitze zucken am Firmament, dann plötzlich, ein schwacher Schimmer und eine Treppe aus gleißendem Licht bricht sich Bahn durch die dunklen Wolken. Das wäre auch eine gute Idee für ein Musikvideo, oder? Was meint ihr? Die Treppe erreicht den Boden und da stehe ich, spiele mein Solo und steige die Stufen hinauf, der Himmel erhellt sich, der Bildschirm wird weiß, während die letzte Aufnahme auf mein Griffbrett gerichtet ist, der Oberton klingt aus und fade-out! Dann das Bandlogo und vielleicht dieses Sample von dem Tibeterchor als Outro, wovon du eben gesprochen hast. Leute, jetzt wo wir nicht mehr an dieses idiotische Pop-Konzept gebunden sind, sprudeln plötzlich haufenweise Ideen aus mir raus! Ich muss das alles aufschreiben! Holt mir Stift und Papier! Nichts davon darf verloren gehen! Das ist es! Das ist der Titel! Die Treppe ins Himmelreich! Leute, ich sag es ja nicht oft, aber das ist gerade der beste Einfall meines Lebens! Ich bin ein gottverdammtes Genie! Los, lasst uns das alles aufschreiben und mit dem Proben loslegen. Wir müssen damit so schnell wie möglich auf die Bühne. Das sind die Sternstunden, in denen Erfolg geboren wird, Muchachos! Wir sollten vielleicht noch über Kohle sprechen, ich meine, damit werden wir berühmt und wenn das Geld einmal fließt, wird die Frage aufkommen, wie wir es aufteilen. Ich denke, dass ihr mit einer 60/20/20-Aufteilung einverstanden seid, da ich ja die ganze kreative Vorarbeit geleistet habe usw..."

Tja, meine lieben Freunde. Aus dem Video wurde leider nichts. Die Band hatte sich kurz nach diesem Debakel aufgelöst. Der Gitarrist hatte es noch eine Weile als Solo-Künstler versucht, aber irgendwie wollte niemand so recht Gefallen finden an seinen rauf und runter gespielten Skalen und dem ganzen Treppenzeugs. Auf einer Party lernte er eines Abends ein süßes Mädchen kennen. Sie brachte ihn auf andere Gedanken. Er heiratete das Mädchen, versprach ihr ein großes Haus mit vielen Kindern. Um diesen Traum zu finanzieren wurde er Bankkaufmann, arbeitete Tag und Nacht und kaufte eines Tages das Haus. Sie bekamen eine gesunde Tochter und lebten glücklich und zufrieden, bis das Kind von einer Straßenbahn überrollt wurde und die Trauer sie entzweite. Er blieb in dem großen Haus zurück, betrank sich bitterlich Tag ein Tag aus, die Scheiße kam ihm ständig hoch, er spülte sie mit noch mehr Whiskey wieder runter. Die Speiseröhre rauf und wieder runter, rauf und wieder runter, rauf und wieder runter. Er schrieb keine Tagebücher mehr. Keine Soli. Es kamen auch keine neuen Einfälle mehr. Der Zenit seines Genius war längst überschritten.
Viele sagen, würde Kurt Cobain heute noch leben, er würde die großartigsten Songs seiner Karriere schreiben. Ich aber glaube, dass er nur noch Bockmist verzapft hätte. Die großen Tage eines Künstlers sind kurz, die Flamme brennt nur für einen kurzen Moment lichterloh. Alles was folgt ist nur ein schwaches Glimmen, bis es schließlich gänzlich erlischt und der ewigen Dunkelheit die Bühne überlässt.

Ach, und was diese ganze Mexikaner-Zauberhut-Metapher angeht: Ich weiß bis heute nicht, was dieser Scheiß zu bedeuten hat! Tut euch selbst einen Gefallen und denkt nicht zu viel über solche Sachen nach. Das Leben ist kurz und unsere Zeit ist knapp. Wählt eure Rätsel weise!

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