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Sonntag, 29. September 2013

Die Frau im blauen Kleid

"Das, was mich wirklich verfolgt, ist ihr Blick... ihr Lächeln, das Leuchten in ihren Augen, kurz bevor der Laster sie erfasst."
Der Mann am Schreibtisch schreibt etwas in seinen Notizblock. Er wartet geduldig, gibt seinem Patienten Zeit, um seine Gedanken zu sammeln. Der Patient atmet schnell. Als er wieder zu sprechen beginnt, zittert seine Stimme vor Schmerz:
"Ich muss immer daran denken, an was sie gedacht hat in diesem Moment. Jede Nacht erlebe ich diesen Tag von neuem, küsse sie ein letztes Mal, verabschiede mich von ihr, sehe ihr nach, wie sie in ihrem blauen Sommerkleid, das sie so geliebt hat, über die Straße zu ihrem Auto geht, sich noch einmal umdreht, mich anlächelt und..."
Der Patient kann seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Er weint und schluchzt, sein Atem ist unregelmäßig und erregt.
"Weinen Sie ruhig." Der Mann am Schreibtisch blickt den Patienten eindringlich an und wartet darauf, dass dieser sich wieder entspannt. "Es ist gut, Trauer zuzulassen."
"Ich will aber nicht mehr trauern, verdammt!" Der Patient ist verzweifelt, wütend, kompensiert den Verlust durch Aggression. "Ich will einfach nur wieder leben! Eine Nacht durchschlafen, ohne sie erneut zu verlieren! Ich halte das einfach nicht mehr lange aus! Ich kann nicht mehr, verstehen Sie? Ich will nichts mehr zulassen, ich will einfach nur vergessen!"
Der Mann am Schreibtisch nickt. Sonnenlicht spiegelt sich in seinen runden Brillengläsern.
"Ich will sie einfach nur vergessen... Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn wir uns niemals kennengelernt hätten... ich meine, wenn wir uns niemals verliebt hätten. Liebe ist eine grausame Last, wenn sie nicht erfüllt werden kann. Ich hasse die Liebe. Sie hat mir nichts als Schmerz und Einsamkeit gebracht."
Der Mann am Schreibtisch schlägt die Beine übereinander.
"Ich weiß, dass Sie mir helfen wollen... ich weiß, dass ich weiter an mir arbeiten muss und das alles... aber ich habe einfach nicht mehr die nötige Kraft dazu. Ich bin leer, verstehen Sie? Alles ist grau und bedeutungslos für mich da draußen. Nichts kann meine Liebe zu ihr... jemals ersetzen..."
Der Mann am Schreibtisch räuspert sich, bevor er mit ruhiger, gelassener Stimme erwidert: "Im Grunde geht es auch nicht darum, einen Ersatz für Ihre verstorbene Frau zu suchen, Herr Eidsvag. Sie verlangen zu viel von sich und dem Leben."
"Nein. Sie verstehen das nicht... Das Leben verlangt zu viel von mir."
Der Mann am Schreibtisch schüttelt den Kopf. "Das Leben verlangt überhaupt nichts von Ihnen, Herr Eidsvag. Das Leben ist das, was Sie daraus machen. Wir haben schon einmal darüber gesprochen, dass Sie versuchen müssen, die Zeit mit Ihrer verstorbenen Frau als etwas Gutes, eine Art Geschenk zu betrachten. Sie müssen lernen, die Vergangenheit als etwas Positives zu sehen, etwas, an dem Sie durch glückliche Fügung teilhatten und das jetzt hinter Ihnen liegt. Sie müssen nach vorne schauen, dann werden Sie auch die Schatten der Erinnerungen loswerden."
"Geben Sie mir einfach irgendwas, damit ich nicht mehr träume, Doktor. Irgendwas, ich flehe Sie an! Die Träume sind es, die mich fertig machen, nicht die Erinnerungen, die kann ich kontrollieren. Diese verfluchten Träume jede Nacht. Bitte, Doktor. Verschreiben Sie mir Valium."
Der Mann am Schreibtisch schüttelt den Kopf. "Nein, Herr Eidsvag. Dadurch erreichen wir gar nichts. Sie müssen sich ihren Ängsten stellen und sie überwinden, wenn Sie frei sein wollen."
Der Patient bricht erneut in Tränen aus. Er richtet sich auf und blickt den Mann am Schreibtisch mit erröteten, blutunterlaufenen Augen an. "Wenn Sie mir kein Valium verschreiben, werde ich mir einen anderen Psychiater suchen."
"Auch damit erreichen Sie nur das Gegenteil, Herr Eidsvag. Sie wissen das."
Der Patient schüttelt den Kopf. "Ich weiß gar nichts... Niemand tut das. Wir alle sind unwissende Narren... Jeder ist allein, wir alle haben unsere Vergangenheit. Es wird niemals aufhören. Es gibt nur diesen einen Ausweg. Existenz bedeutet Leiden. Das war schon immer so und ist es auch heute noch..."
Der Mann am Schreibtisch schreibt etwas in seinen Notizblock.

Drei Stunden und siebenundvierzig Minuten später. Der Patient, Herr Eidsvag, Aksel sitzt vor dem Fernseher und starrt in das flimmernde Chaos aus farbigen Pixeln. Er denkt nichts, er fühlt nichts, ist weder glücklich, noch traurig, weder einsam, noch verzweifelt. Er starrt einfach auf das sich ständig verändernde Farbenmeer und atmet, atmet, atmet. Dann, ohne besonderen Grund, stellt sich Schärfe in seinem Blick ein und er erkennt einen grauen Mann im Anzug vor einem blauen Hintergrund. Das Rauschen in Aksels Kopf formt sich zu Worten und er beginnt, deren Bedeutung in sich aufzunehmen:
"... geben kann. Gott ist nicht nur unser Schöpfer, er ist auch unser Freund. In den dunkelsten Stunden, wenn wir keine Hoffnung mehr sehen, ist er da, tief in uns, weit über uns, überall und hält uns in seinen schützenden Armen. Alles Übel in der Welt verblasst und wir sind eins mit dem göttlichen Klang. Shaaaaaaaaaaaaaa - shaaaaaaaaaaaaaa - spüren Sie die die Aura Gottes in ihrem Herzen? - shaaaaaaaaaa - shaaaaaaaaaaaaa - shaaaaaaaaaaaaaa..."
Aksel schaltet den Fernseher aus und verlässt das Wohnzimmer. Im Schlafzimmer betrachtet er das Bett. Eine Gänsehaut schleicht sich über seinen Rücken den Nacken hinauf bis an die Spitze seines Schädels. Er geht ins Bad, putzt sich die Zähne, zieht sich um, wäscht sich das Gesicht, betrachtet sich im Spiegel. Draußen beginnt es sanft zu regnen. Er schließt das Fenster, löscht das Licht, geht ins Schlafzimmer, legt sich ins Bett. Er gübelt noch eine Weile vor sich hin, versucht, nicht an sie zu denken. Er zwingt sich, an Belangloses zu denken. An den Supermarkt mit seinen vielen Regalen und der entspannenden Musik im Hintergrund. An sein Schlagzeug, die goldenen Becken, die dumpfe, stampfende Bassdrum und die leicht quietschende Fußmaschine, die er demnächst zur Reparatur bringen muss. Er denkt an Geld und Segelschiffe und an Wachsfiguren und Feuer. Er stellt sich vor, wie es sich anfühlt, zu verbrennen. Kein guter Gedanke, er denkt schnell wieder an etwas anderes. Er schaltet das Licht aus und konzentriert sich auf seine Atmung, wie es ihm sein Psychiater empfohlen hat. Kopf aus. Herz aus. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen... Ausatmen...
Schließlich schläft Aksel ein. Zunächst ist alles schwarz, doch nach circa einer Stunde beginnt er zu träumen.
Es ist der gleiche Traum wie jede Nacht.

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